Auf dass uns im neuen Jahr ein Licht aufgeht

Dieses Mal erscheint mein Jahresbild auf den ersten Blick monothematisch: Die Welt wurde verkehrt und brennt. Allerdings birgt ein Monothema, sofern es gekonnt geschliffen wurde, viele Facetten, die einen je nach Blickpunkt verschiedene Aspekte erkennen lassen. In diesem Jahresbild ist eben nicht nur die simple Prophezeiung eines Weltunterganges zu sehen, was auch für ein Jahresbild ebensowenig erbaulich wie originell wäre. Nein, in dieser Art wäre es banal, schließlich gehört die Erwartung eines Weltunterganges oder die Warnung davor zu jedem Jahreswechsel. 2019 bloggte ich zum Jahreswechsel darüber (http://tinyurl.com/59r3jvwd).

Allerdings sehe ich im aktuellen Jahresbild keinen Weltuntergang, sondern eher Licht, Wärme und reinigendes Feuer. Ich dachte dabei an die mythischen Lichtbringer wie Prometheus oder den gnostischen Luzifer. Rebellierende Titanen, die sich der göttlichen Hierarchie widersetzten und hierdurch die menschliche Entwicklung befeuerten. In diesem Sinne verstehe ich das Jahresbild als einen symbolischen Weckruf an die erleuchteten Götter, alle Menschen, die noch ihren Verstand beisammen haben, sprich jene, die wissen, dass sie sich oft genug von ihrem Unverstand blenden lassen, gegen die Unsitte der Selbstgerechtigkeit zu feien und ihnen einzugeben, nichts aber auch gar nichts zu glauben ‑ vor allem dem eigenen Unwissen nicht, das sich eine heile Welt fabuliert, auf dass die Welt nicht so schrecklich wird, wie sie sich stets euphorisierend als Utopie ausgedacht wird. Denn alle Utopie bleibt im Grunde nur eine schöngefärbte Dystopie. ‑ Wer es nicht wahrhaben will, mag in die Geschichte schauen, wie blutig alle Utopien endeten.

Nun denn, wünsche ich uns für 2024 einen feurig geklärten Verstand und erhellende Momente der Selbsterkenntnis, auf das wir fürderhin erhobenen Hauptes vor uns selbst bestehen können. Bleiben Sie gesund und glücklich.

Die spirituelle Klassengesellschaft

Noch eine Erinnerung an ein Geschenkbuch, das praktischer Weise ein hervorragendes Werk ist, um sich selbst zu beschenken; denn es erlaubt läuternde Kontemplation für alle Suchende, die damit hadern, dass ihre Suche so voller Verzweigungen ist. Es ist mein Buch „Irrwege zur Spiritualität“, das ich Ihnen hiermit im Advent ans Herz lege. Hier ein kurzer Auszug vom Anfang der Betrachtung „Die spirituelle Klassengesellschaft“.

Karma ist der Reichen Lust und der Armen Leid.

Hat man in Bayern etwas angestellt, geht man, sobald man es bereut, beichten, trägt die einem auferlegte Buße ab und ist von da an von der sündigen Last befreit. So der volkstümliche Blick auf den Katholizismus in Bayern. Dass es damit in Wahrheit nicht so weit her ist, ist eine andere Geschichte; es ist unter anderem die Geschichte von missachteten Müttern unehelicher Kinder, von armen Sündern und „Seltsamen“, denen eher selten Pardon gewährt wurde. Beim Haberfeldtreiben – auch so eine folkloristische „Harmlosigkeit“ – las man ihnen die Leviten und verlitt ihnen das Bleiben in der dörflichen Gemeinschaft. Damit tat sich der klassische Unterschied zwischen Täter und Opfer unverblümt auf. Das Opfer, hier das verliebte Mensch1, war es, das den Täter, den gamsigen Bauern, in seine Kammer ließ und so den Edlen in seine karmischen Niederungen zog. Nicht der das Mädel schwängernde Brotherr, sondern die Schwangere wurde und wird darob missachtet. Hierin gleichen sich die Sitten und Gebräuche am Hindukusch wie in den Alpen. In Indien weiß man solche „Traditionen“ sogar zu deuten. Da war es der Dünkel im Vorleben des Brahmanen, der ihn im jetzigen Leben zwingt, sich mit einer Unberührbaren einzulassen. Diese „Ekelerfahrung“ löst daraufhin bei ihm einen karmischen Knoten. Auf der anderen Seite stimmt die Berührung mit einem Brahmanen zuversichtlich, im nächsten Leben einen höheren Stand zu erreichen. Gleichzeitig dient das Opfer sein schlechtes Karma durch die erlebte „Schande“ ab, schließlich geht ein solcher Tabubruch stets zu seinen Lasten; folgerichtig muss es auch, weil ihm so etwas geschieht, im Vorleben wenigstens ein Raubmörder oder Leichenfledderer gewesen sein.

Es gibt also ‑ so die hinduistische Vorstellung ‑ etwas der Seele anhaftendes, ein Hautgout, das abgewaschen werden muss, wenn man Erlösung finden will. Im Katholizismus verschafft einem Taufe, Beichte, Totensalbung und eine Weile Fegefeuer Erlösung. Im Hinduismus und im Buddhismus sind es ausstehende Prüfungen oder Segnungen in den nächsten Leben. Der Prozess, dass jede Handlung in einem Leben in den nächsten Leben Konsequenzen hat, wird Karma genannt ‑ wobei die Vorstellungen beider Religionen darüber nicht deckungsgleich sind und sich selbst innerhalb dieser Bekenntnisse unterscheiden.

1 Das Mensch = (südd.) Bezeichnung für eine junge Frau; gamsig = (südd.) geil, lüstern.

Besinnung verschenken

Kürzlich sprach mich Edith, eine Bekannte, an. Mit 95 Jahren ist sie schon eine Methusalem. Doch sie ist immer noch agil und in ihrem Geist jung geblieben. Sie wollte mal sehen, was ich so mache und hat sich dazu mein Stundenbuch der weißen Magie zugelegt. Die Kontemplation 21 hatte sie morgens gelesen und sie sprach sie an; denn die Art, wie ich unser Streben nach Vollkommenheit persifliert hatte, erinnerte sie an ihren Eifer, den sie in jüngeren Jahren an den Tag legte. Ja, meinte sie, sobald man seinen Eifer belächeln kann, vermag man sich auch am Schopfe aus dem Sumpf des Verlangens zu ziehen. Doch sobald sie wieder eifrig würde, bemerke sie alsbald, wie sie sich selbst wieder in den Sumpf tauche und ihre lebendige Leichtigkeit verlöre. „Es zieht dann eine Wolke vor meine Sonne“, lächelte sie. Mit „Sonne“ umschrieb sie ihren eigenen Geist. Damit aber nötigte sie mir leichthin Respekt ab.

Nachstehend die besagte Kontemplation, und meinen Dank an Edith, die mir erlaubte, ihr gegenüber achtsam zu bleiben.

21 Den Münchhausen in sich annehmen

Losung

Die von ihm beschworenen Geister waren ihm zu ähnlich. Also beschwor er seinen eigenen Geist und entdeckte, wie fremd er ihm war. Er zitierte ihn vor seinen Kreis und betrachtete ihn, bis er sich durchschaute. Das durchschaute Gespinst nahm er darauf in seinen Kreis. Es kleidete ihn vorzüglich.

Versenkung

Ego: Oh, welch feierlicher Schwingung setzt du mich aus. Ich verliere den Halt in mir selbst. Oh, Glückseligkeit! ‑ Über-Ich: Sei still, Ego, du gleitest soeben ins Mu! ‑ Ego: Ins Mu? Bin ich vielleicht ein Rindvieh? ‑ Über-Ich: Unsinn, das ist Zen.‑ Ego: Was ist das, macht mich das fett? Ich bin gern ein fettes Ego. ‑ Über-Ich: Nein, es macht dich dünn, es erlöst dich von dir selbst. In uns wird darauf Stille einkehren. ‑ Ego: Und für was soll das gut sein? ‑ Über-Ich: Dann bin ich erleuchtet! ‑ Ego: Moment mal! Wenn ich dünn bin, bist du erleuchtet? Sag, hast du was an deinem heiligen Scheitel? ‑ Über-Ich: Nein. Verstehe doch, wenn ich erleuchtet bin, bist du ein Meister. ‑ Ego: Wirklich? ‑ Über-Ich: So wirklich wie du und ich. ‑ Ego: Ist ja unglaublich. Du bist ja heute wieder gut drauf. ‑ Über-Ich: Ja, was nun? ‑ Ego: Jaja, Chef, ich mach mich ja schon dünne. Mu! ‑ Über-Ich: Doll, so ohne Ich kehrt schon Ruhe ein. Ist echt Stille jetzt. Oh Mann, ich bin voll erleuchtet. ‑ Ego: Weiß ich doch, ist die total heiße Schwingung. ‑ Über-Ich: Ja, total heiß.

War ich jemals so aufmerksam, dass ich mich ungeteilt wahrnehmen konnte?

Stimmung

Mit ungeahnter Leichtigkeit ziehe ich mich am eigenen Zopf aus dem Sumpf. Meine Perücke ruckt keinen Deut dabei. Denn ich habe mir den Zopf längst abgeschnitten. Ich bitte darum, den Kreis durchbrechen zu können.

Falls Sie das Stundenbuch verschenken wollen, schenken Sie sich zuerst selbst eines und dann erst ihren Freunden. Sie erhalten es unter der  ISBN: 9783833454059 in jeder Buchhandlung

Oktoberfest

Wiesnmaß © M. Mala

Das Oktoberfest wird in Stadt und Land gemeinhin Wiesn genannt. Wiesn deshalb, weil es auf der Theresienwiese inmitten der Stadt gefeiert wird. Als Münchner kann man dem Oktoberfest nicht ausweichen, denn dann ziehen die Leute ihr Gwand an – sie kostümieren sich mit Dirndl und Lederhosen. Ein eher neumodischer Brauch, denn früher ging man in seinem Sonntagsgwand auf d‘ Wiesn; schließlich hatte auch damals die Tracht ihren Preis. Heute wird der neue Brauch durch Billigware aus Fernost bedient. Da stört es den Touristen auch nicht, dass seine Lederhose aus bedrucktem Stoff und das Dirndl aus Plastik oder billigem Dekostoff ist. Dennoch macht die Wiesn vielen Freude. Daneben ist sie auch Gelegenheit für manchen Exzess. Es ist gewissermaßen eine Auszeit anstatt des Faschings, der heute in der Stadt so gut wie nicht mehr gefeiert wird, während einst noch in jeder Eckwirtschaft ein Hausball stattfand.

Hier drei Haiku, genauer gesagt Senryū, die ich zur diesjährigen Wiesn verfasste und damit die ambivalente Stimmung des Oktoberfestes umriss.

Launiger Aufzug
In Dirndl und Lederhosen
Zum Oktoberfest.

Karussell fahren
Im Bierzelt Maß’n, Musi, Hendl
A rechte Gaudi.

Den Rinnstein entlang
Kotzlacken der Heimkehrer
Trister Wiesnausklang.

Melonenkaltschale

Wassermelone © M. Mala

Bevor die Welt verbrennt noch ein ebenso köstliches wie unkompliziertes Rezept mit dem Sie dem Weltuntergang entspannter entgegensehen mögen.

Melonenkaltschale (ca. 2,5 ltr.)

3 kg Wassermelone

1 Limone

2-3 Zweige Minze

¼ ltr. guten säuerlichen Apfelsaft

1 bis 3 gestrichene Esslöffel Feinzucker

½ TL Salz

Wassermelone schälen und entkernen; das Fruchtfleisch in Würfeln in eine Schüssel geben.

Limone Schale abreiben und auspressen.

Minzblätter grob hacken

alle Zutaten zusammen in die Schüssel geben, verrühren und mit dem Mixer verflüssigen. Abschließend im Kühlschrank kalt stellen, nach 3 Std. genießen.

Von der Zauberkraft des Kreises

Scheint mir auch die Welt verzaubert, ist sie doch dieselbe, die sie immer war. Allein mein Blick hat sich verändert. Ich sehe Dinge, die ich zuvor nicht sah, und was ich zuvor sah, sehe ich nun mit klarem Auge, so wie es ist und nicht so, wie es mir scheinen mag.

Versenkung

Ich stand am Anfang des Kreises und schritt ihn ab. Nachdem ich ihn umschritten hatte, hatte ich zwar sein Ende erreicht, aber dafür seinen Anfang verloren. Dreimal umschritt ich den Kreis auf der Suche nach seinem Anfang und Ende, dreimal fand ich mich an anderer Stelle wieder. Doch jedes Mal fand ich, was ich suchte, indem ich es verlor. Also gab ich die Suche auf und fand mich wieder im Anfang und Ende. Hoch über dem Kreis schwebend sah ich von Horizont zu Horizont. Dann legte ich meine Flügel an und stürzte als Schatten aus der Sonne hinab. Ich durchstieß den Kreis und fiel in die Nacht. Im Anfang und Ende schlug ich auf. Ich hatte den Kreis durchbrochen und ihn zugleich erneut betreten, um ihn hinter mir zu lassen. Ich wandte mich zurück und schritt in die aufgehende Sonne. Der Horizont wandelte mit mir.

Wie kann ich die Welt mit neuen Augen sehen, solange ich derselbe bleibe? Und habe ich mich schließlich doch gewandelt, wer betrachtet dann die Welt?

Stimmung

Gen Norden begrüße ich die Nacht. Im Rücken strahlt der Mittag. Gen Osten begrüße ich den Morgen. Im Rücken dräut die Nacht. Begrüße ich das eine, wende ich mich ab vom anderen und werde doch von ihm ummantelt. Auf dem Rücken liegend zehren die Elemente an mir. Ich zerfließe und nähre die Schlange. Ich lege ihr das Ende ihres Schwanzes in den Rachen. Ich bitte darum, in der Verkehrung Sinn sehen zu können.

o + *** + o

Dieser Text ist ein Auszug aus dem von mir verfassten Stundenbuch der weißen Magie. Er steht dort als Lied 22 von 183 Liedern zur Kontemplation. Das Buch ist für 29,60 € über diesen Link erhältlich.

Als das Kreißen meines Wahnsinns endete

High © M. Mala

Es musste etwas mit mir geschehen. Nur was? Jedenfalls ging es so nicht mehr weiter. Der ewige Kreislauf von Rückfall, kurzer Trockenphase und wieder Rückfall musste durchbro­chen werden. Nur wie? Drehte sich dieses Rad doch immer schneller. – Oder nicht? War nicht die letzte drogenfreie Spanne, die längste, die ich jemals durchlebte? Zehn saubere Monate.

Zehn schreckliche Monate. Jeden Tag fieberte ich nach der Droge. Alkohol, Schlafmit­tel, Speed, Tranquilizer, Haschisch, Heroin, egal was – jeden Tag und jede Stunde dachte ich daran. Dachte an die wenigen glücklichen Stunden mit der Droge und hoffte auf eine Gelegenheit, die es mir ermöglichte, Drogen zu nehmen. Hoffte auf ein Geschehen, das schrecklich genug war, um Verständnis für meinen Rausch in den Augen der anderen zu finden. Und so forderte ich das Schicksal heraus, mich zu schlagen, und wünschte mir jede Unbill herbei. Ja, ich spielte sogar mit Leib und Leben meines kleinen Sohnes. Setzte ihn so manches mal offenen Auges einer Gefahr aus, und verbrämte meine bitterböse Hoffnung auf ein Unglück mit der pädagogischen Bauernweisheit: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Doch das Schicksal schlug mich nicht. Und so widerstand ich Tag um Tag meinem wü­tenden Suchtdruck. Und jede Nacht, die ich mich sauber zu Bett legte, empfand ich Freu­de darüber, widerstanden zu haben; doch zugleich verwünschte ich den vergangenen Tag, der mir nur als anhaltender Schmerz und fortwährendes Elend erschien. Und in mir wuchs die dürstende Trauer, keine Drogen mehr nehmen zu können. Doch ich widerstand.

Ja, ich widerstand, weil ich um mein Leben fürchtete. Endete doch der letzte Rückfall mit einer Überdosis auf der Intensivstation. Und ich wusste, bereits der nächste Rausch könnte tödlich sein. Also quälte ich mich angstvoll, nach der Droge fiebernd, von einem Tag zum anderen und hoffte auf einen Anlass, einen Grund, mit dem ich den ersehnten Rausch hätte rechtfertigen können. Doch dieser Anlass stellte sich nicht ein und zugleich erinnerte ich mich der Worte meiner Freunde in der Selbsthilfegruppe: Es gibt keinen Grund, Drogen zu nehmen, außer du willst es.

Wollte ich es? Ja, ich wollte es! Und der Suchtdruck, mein quälendes Verlangen nach Drogen, wuchs. Obwohl längst entzogen litt ich unter heftigen Entzugssymptomen. Meine Muskeln und Glieder schmerzten mir und meine Gedanken verengten sich auf die eine Fra­ge: Holst du dir Stoff oder nicht? Auf Schritt und Tritt betete ich sie mir paternosterartig vor und schob zugleich besinnungslos die Antwort hinterher: Heute nicht! – Denn noch war mei­ne tödliche Furcht vor der Droge um ein Quentchen größer als meine Gier.

Doch es kam der Tag, da mein unstillbares Verlangen einen Deut mächtiger war als meine Todesangst. Es war ein ganz normaler Herbsttag, mild und sonnig. Und es gab kein­en Anlass. Kein erhoffter Schrecken war eingetreten. Es gab keinen Grund, Drogen zu neh­men. Nur ich wollte es. Und so verließ ich den Weg. Bog nach links ab. Ging in den Park und kaufte mir Haschisch. Ich hatte den Kampf verloren. Doch hatte ich auch kapituliert?

Nein! – Der langersehnte Rausch war fürchterlich. Nichts von dem erträumten Genuss, nichts von der ersehnten Leichtigkeit. Scham und tiefe Niedergeschlagenheit machten mich frösteln. Grauer kalter Rausch. Ich hatte mein Leben wieder einmal aus der Hand gegeben. Jetzt führte mich erneut die Droge. Und ich saß abermals auf dem alten Karussell. Dem Haschisch folgten Tabletten, den Tabletten Heroin und dem Heroin wiederum Alkohol. Und voller Schreck griff ich wieder zum Haschisch, und eine weitere Runde begann. Und von Runde zu Runde drehte sich das Drogenkarussell schneller und schneller. Es war kein Hal­ten mehr, längst schlitterte ich wie gehabt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Und wieder hoffte ich. Hoffte, das Karussell möge niemals anhalten, und zugleich wünschte ich mir, abspringen zu können. Meine Zerrissenheit war dieselbe wie wenige Tage zuvor, als ich meine Trockenheit verwünschte. Nur war ich jetzt auf der dunklen Seite, stand ohnmäch­tig unter dem Diktat der Droge und hoffte, irgendwer, irgendwas möge mich erlösen. Doch nur wer oder was sollte das sein? Und wünschte ich auch wirkliche Erlösung, oder wollte ich nur eine Pause? Eine weitere qualvolle Pause, bevor das Elend seinen Fortgang nähme? Tief in mir spürte ich, dass meine Hoffnung mich trog. Verlängerte sie doch nur mein Leiden. Doch wie anders? Es musste doch einen Ausweg geben. Ist Hoffnung denn nicht an jeder Straßenecke wohlfeil? Hofft nicht ein jeder auf Besserung seiner Lebensumstände? Und würde ich alle Hoffnung fahren lassen, wäre ich dann nicht gewiss gänzlich verloren?

Doch auf was hoffte ich denn wirklich? Um dies zu erkennen, musste ich erst einige Monate sauber sein. Erst dann sollte mir klar werden, wie unberechtigt und trügerisch meine Hoffnungen waren; wie ich mir durch sie den Weg in die Sauberkeit verbaute. So wünschte ich mir, als ich Qualen mit der Droge litt, voll Inbrunst, jemand möge kommen und mich ans Licht führen. Ein guter, weiser Mann sollte es sein. Ein verständnisvoller Vater, der mich be­hüten und mir mit mildem Tadel die Droge aus der Hand nehmen würde, sobald ich rückfäl­lig werden würde. Mit gütigen Augen sollte er über meine Sauberkeit wachen. Aber was wäre gewesen, hätte das Geschick mir eine solche Person an die Seite gestellt?

Ich hätte sie ebenso belogen und betrogen wie all jene, die an mich geglaubt und mit mir gehofft hatten. Und deren gab es viele im Laufe meiner Drogenkarriere. Eltern, Ver­wandte, Vorgesetzte, Psychologen und nicht zuletzt meine Frau. Welch traurige Geschich­ten etwa erzählte ich den um mich bemühten Psychologen der Drogenberatung. Wieviel Verständnis brachte er für mich auf, ja manchmal weinte er sogar mit mir. Und doch war alles nur Mache, windiges Theater meinerseits. Kaum hatte ich ihm den Rücken gekehrt, wähnte ich mich so weit geläutert, eine weitere Runde mit der Droge drehen zu können. Außerdem sah ich in ihm wie in allen anderen, die noch nicht resigniert hatten, eine Rück­versicherung, mit deren Hilfe ich auch den nächsten Rückfall noch überstehen vermochte. Sie alle waren mein Joker, den ich in tiefster Not ziehen konnte. Der Funke Hoffnung in ihren Augen, wurde mir zur Gewissheit, dass ich noch nicht verloren war, dass ich noch eine Chance mit der Droge hatte.

Dabei hatte ich längst alle Chancen verspielt. Mein Hoffen war in Wirklichkeit ohne Zu­versicht. Es war nur ein billiger Zauber, mit dem ich meinen Rausch bemäntelte. Im Grunde meines Herzens aber war ich hoffnungslos und zehrte nur noch von der Hoffnung der ande­ren. Ich war auf der Flucht vor mir selbst, und meine windigen Hoffnungen waren meine Fluchthelfer: Hoffnung auf den weisen Vater; Hoffnung auf ein mich veränderndes Gesche­hen; Hoffnung auf Wandlung durch Eingebung; Hoffnung, doch endlich einmal kontrolliert Drogen konsumieren zu können. All diese wirren Hoffnungen hatten nur den einen Zweck, meinen Blick von mir, von dem was jetzt war, abzulenken und ihn auf ein unbestimmtes Ziel zu richten, zu dem ich mir Mächtigkeit über die Droge zusprach. Und so verschob ich auch meine Verantwortung für mich selbst immer wieder auf einen nächsten Tag oder gab sie an­deren anheim. Letztere Möglichkeit zerstob, als sich auch meine Frau, der einzige Mensch, der noch an mich und meine leeren Versprechungen glaubte, von mir abwendete. Es war in der zweiten oder dritten Woche meines Rückfalles. Ich jobte damals als Nachtwächter. Zu mehr war ich nicht mehr fähig. Ich hatte Wochenenddienst in einer Notrufzentrale. Das be­deutete, ich musste ein paar auflaufende automatische Alarmmeldungen entgegennehmen und weiterleiten. Dazu saß ich 60 öde Stunden allein in einem hässlichen Keller vor einigen Telefonapparaten und einem Karteikasten. Zuvor hatte ich mich reichlich mit Haschisch ein­gedeckt und paffte nun ein Pfeifchen nach dem anderen. Am Samstag Nachmittag besuchte mich meine Frau. Sie musste mich nur ansehen, um zu wissen, was mit mir los war. Und als ich anhob, zu erklären und das abgenudelte Lied von „Morgen höre ich auf“ zu singen, wink­te sie nur mit Tränen in den Augen ab. Nein, ich musste ihr nichts mehr vormachen. Der Fun­ke Hoffnung, den ich bislang in Ihren Augen stets aufs neue anzufachen vermochte, war er­loschen. Mach was du willst, mach weiter so und erzähle mir nichts mehr, meinte sie. Dann ging sie. Sie sagte es ohne Drohung und ohne Vorwurf. Sie sagte es ohne jegliche Hoffnung mehr für mich. – Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Doch es gibt keine hoffnungslo­sen Fälle. Solange ein Süchtiger noch in den Schuhen steht, hat er auch die Chance, sauber zu werden. Auch, oder gerade dann, wenn er die­se Chance offensichtlich nicht mehr hat. Dies ist gewiss paradox. Doch egal, mir widerfuhr dieses Paradoxon, so wie es Abertausenden meiner suchtkranken Schicksalsgefährten widerfuhr; ist doch die Suchtkrankheit in sich widersprüchlich. Ich will, und ich will nicht! Das ewige Gezerre, gleich­gültig auf welcher Seite der Medaille ich mich just befinde. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu tragen: Entweder drogenfrei in seliger Nüchternheit oder mit als auch ohne Drogen in bitterer Verzweiflung. Und es war abgrund­tiefe Verzweiflung, die mich überkam, als ich alleine zurückblieb.

Mechanisch drehte ich mir einen Joint. Doch der Rausch brachte keine Linderung mehr. Er war nur kalt und grau. Ich weinte. Zugleich aber spürte ich, dass jede Träne eine Lüge war. Verlogenes Selbstmitleid, mit dem ich mich selbst beeindrucken wollte. Doch ich war mir ein schlechtes Publikum, schließlich durchschaute ich mein windiges Spiel. Die Ver­zweiflung über mich und mein Schicksal brannte mich aus. Wünschte ich mir Sauberkeit herbei, schmerzte mich der absehbare Verlust der Droge, und sehnte ich mich nach einer Fortsetzung meines Daseins mit der Droge, litt ich unter der Aussichtslosigkeit dieser Per­spektive. Es war pure, nackte Verzweiflung die mich schüttelte. Zwei verworfene Fälle. Ich kannte nur diese beiden Alternativen, Droge oder nicht Droge, und die eine wie die andere erschien mir nicht lebenswert. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich saß in der Falle. Als ich den nächsten Joint ansteckte, wurde mir mit einem Male ganz deutlich: Das ist es! Das ist dein Leben. So wird es bleiben. Drogen, Drogen und nochmals Drogen. Vielleicht mal eine kurze, zufällige Strecke der Sauberkeit, mehr nicht. Ansonsten elender Rausch bis zum Ende. Und das Ende, auch das sah ich, war nicht mehr weit. Jedenfalls war ich gesundheitlich schwer angeschlagen. Vielleicht noch zwei, höchstens drei Jahre, schätzte ich. Sofern keine Über­dosis das ganze beschleunigte. Und die Gefahr einer Überdosis war allein von den konsu­mierten Mengen her latent. Ja, das war es. Das ist Sucht. Und du bist süchtig. Es war so schrecklich banal und so mitleidlos gewiss. Ich hatte keine Chance mehr!

Es wurde kalt und still um mich. Ich litt nicht mehr. Meine Verzweiflung war gewichen. Ich hatte mich der dunklen Seite übergeben. Es gab nur noch diesen einen Fall, nur diese eine Möglichkeit, auch wenn sie verworfen war, ebenso verworfen wie mein Leben. Aus­sichts­los, kalt und dunkel.

In meiner Verlassenheit rauchte ich mehr Haschisch, als ich zu Beginn meines Wo­chen­enddienstes abgeschätzt hatte. Sonntag mittag ging mir der Stoff aus. Ich hatte kein Geld mehr. Sollte ich an der nahen Tankstelle auf Pump Alkohol kaufen? Oder wäre es bes­ser ihn zu stehlen? Oder sollte ich die Kasse im Büro des Geschäftsführers aufbrechen? Ich dachte nicht mehr daran, aufzuhören. Ich dachte nur noch an Stoff, tieftraurig und müde. Ich schaute auf den zertretenen Rasen vor dem Haus, der als Hundeklo diente. Starrte auf das schmutzige Herbstlaub auf dem Pflaster und spürte das Fieber des sich ankündigenden Entzuges. Alkohol? Nur keinen Alkohol, dachte ich mir, du bringst dich um damit. Doch wie sollte ich an Haschisch kommen? Ich sah, wie sich der Paternoster in meinem Kopf, die immer wiederkehrende Leier, zu drehen begann. Und ich sah mich zugleich in dem herbst­feuchten Schlamm vor dem Fenster liegen: Niedergeschlagen von der Droge, die wie ein mächtiger Schatten über mir stand. Ich wollte aufstehen, doch alle Glieder schmerzten mir. Und ich wusste, wenn ich aufstünde, würde ich wieder einen Schlag erhalten, der mich zu Boden streckte – und so würde es unablässig weitergehen, bis ich endgültig liegen bliebe. Die Außenwelt trat zurück, und nur noch dieses Bild war in aller Klarheit vor mir. Gnadenlos, Schlag um Schlag würde ich von der Droge auf die Bretter gestreckt werden … bis ich end­gültig ausgezählt werden würde. Ich war zu müde, mich noch zu wehren, und so blieb ich liegen.

Eigentlich wollte ich nur um eine kleine Verschnaufpause bitten, bevor ich den Kampf wieder aufnehmen würde. Doch ich merkte, dass ich verschont wurde, solange ich liegen blieb. Streckte ich aber meinen Kopf wieder in die Höhe und stimmte die alte Leier „Stoff, ja oder nein?“ wieder an, so sah ich, wie sich der tiefschwarze Schatten, die Droge, in Positur stellte, um mir einen weiteren Niederschlag zu verpassen. Also blieb ich liegen.

Der Entzug machte sich mittlerweile deutlich bemerkbar. Ich kannte dieses Spiel zur Genüge. Was soll’s, dachte ich mir, auch das wirst du überstehen. Versuchst du es halt noch einmal, und reihst dich wieder ein ans Ende der Schlange. Doch diesmal hatte ich kei­ne Hoffnung mehr und keine Zuversicht, ich wollte einfach nur keine weitere Prügel mehr beziehen. Am Montag früh schlurfte ich zitternd, fiebernd und krumm vor Entzugsschmerzen nach Hause. Seither habe ich mich, um im Bild zu bleiben, nicht mehr von den Ringbrettern erhoben. Ich habe den Kampf verloren, die Droge ist stärker als ich. Ich habe kapituliert. Zum ersten Mal hatte ich die Verantwortung für mich selbst übernommen, indem ich das Handtuch für mich warf.

Freilich sollte ich erst einige Tage später wirklich erfahren, was an jenem Sonntag mit mir geschehen war. Es war an einem jener unvergleichlich schönen Oktobertage, zu denen die milde Sonne das bunte Laub zum glühen bringt und Blumen in lauschigen Winkeln zu später Blüte anregt. Ich ging durch ein tristes Industriegelände auf die Straßenbahn zu. Auf einer einsamen Plakatwand wuchs ein frisch eingeschenktes Pilsglas in einen gleichfalls strahlenden Oktoberhimmel. Ich sah das Plakat und im selben Moment traf mich mit unge­heurer Wucht ein so noch nie dagewesener Suchtdruck. Mir verschlug es den Atem. Die glitzernden Tauperlen auf dem abgebildeten Glas taten ihr übriges. Versprachen sie doch kühles Labsal und sanfte Linderung des mich heftig schüttelnden Fiebers. Am liebsten wäre ich mit einem Satz in die Plakatwand gesprungen, um dieses Bier in einem Zug zu leeren. Da war er also wieder der gefürchtete Suchtdruck, und schon drehte sich gebetsmühlenartig die immergleiche Frage in meinem Hirn: Holst du dir was, oder nicht? Doch in dem Augen­blick, da ich beginnen wollte über eine Antwort auf diese Frage nachzusinnen, fühlte ich mich absolut hilflos und unfähig, den Gedanken aufzunehmen. Welche Antwort sollte ich finden? Gleichgültig ob Ja oder Nein, jede Antwort wäre falsch gewesen, hätte das altbe­kannte Karussell wieder in Bewegung gesetzt. Was hatte ich hier zu entscheiden? Nichts! Ich war knockout, hatte aufgegeben und lag nach wie vor auf den Brettern. Sollte ich etwa wieder aufstehen? Nein. Aber was sollte ich tun? Nichts – mir fiel nichts ein!

Also tat ich nichts. Ich folgte dem Gedanken nicht. Ich bemühte mich um keine Ant­wort. Ich tat nichts, denn ich sah, ich konnte nichts tun. Ich konnte keine Entscheidung tref­fen, denn ich selbst war das, was mich da umtrieb. Es war die Sucht, und ich bin süchtig.

Ich ging wie betäubt weiter. Erst als ich die Straßenbahninsel erreichte, kam ich all­mählich wieder zu mir. Es fehlte mir nichts, ich fühlte mich wohl. Mit einem Male begriff ich, dass ich noch vor wenigen hundert Metern einem unglaublichen Suchtdruck ausgesetzt war, und jetzt? Jetzt war nichts. Kein Verlangen, keine in sich kreisenden Gedanken, nichts von alledem, was vormals einem Suchtdruck folgte. Es war das erste Mal, dass ich auf einen Suchtdruck hin mir keinen Stoff beschaffen musste. dass ich nicht die Frage „Holst du dir was, oder nicht“ solange stumpfsinnig wälzte – selbst wenn es wie vordem zehn Monate währte – bis ich erschöpft nach der Droge griff und dem quälenden Suchtdruck so sein fol­gerichtiges Ende setzte. Der Suchtdruck, der mir noch vor wenigen Minuten, die Knie schlottern ließ, war vorbei. Aber was hatte ich dafür getan? Nichts?

Ja, in der Tat hatte ich nichts getan. Aber eben dieses Nichtstun war meine große Tat gewesen. Sie forderte viel mehr von mir als jede billige Entscheidung. Sie forderte Aufgabe. Völlige Passivität. Gleichwohl war dieses Passivsein von höchster Aktivität. In ihr war keine Trennung zwischen mir und meinem Erleben. Ich hob mich nicht mehr über mich, eilte mir nicht mehr davon, und öffnete mich so für ein Geschehen, das in mir alle Zweifel einte. Für einen Augenblick war ich heil gewesen. Und in diesem Heilsein hatte ich mich gewandelt. Es war ein Vorgang von höchster Spiritualität. Ich hatte mit meinem Herzen begriffen, was ich zuvor nur mit meinem Verstand zu fassen versuchte: Ich bin süchtig.

Dieses Geschehen, dem ich mich durch meine Aufgabe öffnete und in vollkommener Aufmerksamkeit hingab, lässt sich mit Worten eigentlich nicht beschreiben; denn es war ein Wirken, das sich jenseits meines Verstandes vollzog. Gleichwohl versuche ich an dieser Stelle, diesen Prozeß zu umschreiben. War er doch ein Damaskuserlebnis, in dem ich mich gewissermaßen vom Saulus zum Paulus wandelte, und das fortan meine Sauberkeit be­gründete. Es bewirkte kein bedachtes, willentliches Handeln, sondern Wahrnehmung und Handlung waren eins. Ich sah den Suchtdruck, sah meine Zwiespältigkeit, sah meinen ver­zweifelten Drang mich für eine Seite zu entscheiden und sah meine Hilflosigkeit keinen Aus­weg zu finden. All dies einte sich in meiner Wahrnehmung und wurde zu einer Wahrheit, die zugleich die Handlung bedingte. Diese Handlung aber war nicht meine Handlung, sondern Ausdruck der durch mich wirkenden Wahrheit. – Seitdem erlebe ich mein Süchtigsein nicht mehr als Zwiespältigkeit, sondern als eine Einheit, in der Licht wie Schatten, Sauberkeit und Droge, sich zu einer sich wechselseitig durchwirkenden neuen Dimension weitern. Und seit­dem lebe ich in einem nüchternen Gleichgewicht und bin sauber, ohne dass ich mir diese Sauberkeit als meinen Verdienst zurechnen möchte.

Allerdings hätte dieses Geschehen keinen großen Wert, wenn es nur ein einmaliger Vorgang geblieben wäre. Denn dann würde mir seine spirituelle Intensität zur Erinnerung, um die ich mich bemühte, um aus ihr die geistige Kraft für meine Sauberkeit zu ziehen. Die­ser erinnerten Kraft fehlte jedoch ihre Lebendigkeit, und sie würde von daher mit der Zeit verblassen, so wie in mir auch der Eindruck dieses Geschehens an Stärke verliert. Folglich bemühe ich mich darum, diesen Prozeß in meinem sauberen Alltag zu fördern, indem ich diesen Schritt der Aufgabe und Öffnung ein ums andre Mal wiederhole. Wobei es an Gele­genheiten hierfür in meinem wie auch in keinem anderen Lebensplan mangelt.

Eine erste Maßnahme hierzu ist, mich vor Enttäuschungen zu schützen. Schließlich falle ich gerade durch die verschiedensten Formen der Enttäuschung in jene gefährlich labilen Gemütslagen, in denen ich vor Trauer und Selbstmitleid am Sinn meiner Sauberkeit zu zweifeln beginne. In solch depressiver Zerrissenheit aber gewinnen die unheilvollen Strukturen meiner Suchtkrankheit wieder Oberhand, und die Möglichkeit, Trost in der Droge zu suchen, erschiene mir plötzlich wieder bedenkenswert. Freilich bedingt jede Enttäusch­ung auch, dass ich mich zuvor getäuscht habe beziehungsweise täuschen ließ. Folglich muss ich mich vor jeglicher Täuschung hüten, was von mir besondere Bedachtsamkeit für mein Tun und lassen erfordert. Das bedeutet allerdings nicht, stets nur die schlechteste Möglich­keit als Folge meines Handelns anzunehmen, um womöglich später in angenehmer Weise ent­täuscht zu werden. Eine solche negative Einstellung nämlich wäre für mich ebenso ver­häng­nisvoll wie lähmend. Nein, was mir hilft, Täuschungen zu vermeiden, ist Achtsamkeit. Acht­samkeit für diesen Tag. Denn dieser Tag ist mein ganzes Leben. Nur heute kann ich gültig darüber entscheiden, ob ich mein sauberes Leben fortsetzen möchte. Nur heute kann ich das umgehen, was meiner Sauberkeit hinderlich ist, und nur heute kann ich mich aktiv um meine Sauberkeit bemühen.

Was aber über diesen Tag, diese 24 Stunden, hinausreicht, liegt nicht mehr in meiner Hand. Sicher setze ich auch heute Impulse, die in die Zukunft hineinwirken, aber Zeit zum Handeln habe ich immer nur heute. Und solange ich mir hierbei aufmerksam folge, kann ich auch erkennen, wie ich durch kleine oder große Hoffnungen und Wünsche den Keim der Täuschung setze, dessen Frucht schlussendlich der Schmerz der Enttäuschung sein wird. Und so entdecke ich auch in meinem sauberen Alltag das gleiche Prinzip wieder, das zu Be­ginn meiner Sauberkeit wirkende Voraussetzung war: lasse deine Hoffnungen fahren und trage deine Verzweiflung, so einst du dich mit dem was ist und gelangst zu unzweifelbarer Handlung. Damit allerdings diese Einigung, dieses geistige Heilsein, geschehen kann, muss ich mich ein ums andere Mal von meinen Vorstellungen und meinem Wollen lösen und mich bescheiden. Dieses Bescheiden aber verlangt Demut und Aufgabe von mir, nur dann kann sich fügen, was meine Sauberkeit erhält und was ich mit aller gebotenen Scheu als spirituel­le Führung bezeichnen möchte.

Mithin bemühe ich mich alltäglich um mein inneres wie äußeres Gleichgewicht, was mir freilich nur gelingt, solange ich nicht erneut vor mir und dem Was ist fliehe. Und gerade in diesem Zusammenhang, wird von Nichtbetroffenen oder noch akut erkrankten Süchtigen bemängelt, dass eine solche Lebensführung, die so gut wie alle Hoffnung negiert, wohl kaum eine tröstliche Alternative sei. Nun, ich lebe in dieser „Hoffnungslosigkeit“ und muss sagen, dass ich sie heute nicht mehr gegen eine andere Lebenssicht und Lebensweise tauschen möchte. Denn nur durch ebendiese grundlegende Lebensführung fand ich zu mir und lebe heute in einem von jeder äußeren Bedingung unabhängigen inneren Frieden, von dem ich niemals zu träumen vermochte. Zugleich wäre es ein Irrtum, anzunehmen, jede Art von Hoffnung sei verwerflich, da diesen Frieden gefährdend. Es liegt also an mir, zwischen be­rechtigter und unberechtigter Hoffnung zu unterscheiden. Als unberechtigt empfinde ich all­ein jenes Hoffen, bei dem ich Hilfe und Entscheidungen für mich, die ich mir grundsätzlich nur selbst gewähren kann, von anderen erflehe; so kann mir etwa keine wirksame Hilfe von außen zuteil werden, solange ich mich vornehmlich nicht selbst um meine eigene Sauber­keit sorge. Für berechtigt aber erachte ich all solches Hoffen, bei dem mir notwendigerweise Hilfe von außen zuteil werden muss, damit ich mein Geschick weiter formen kann. Dies mag beim erwünschten Wetter beginnen und muss nicht nur bei der Erwartung freundschaftlichen Zuspruchs in der Not enden. Aus dieser Einsicht resultiert eine meine Sauberkeit bedingen­de Lebensweise, die ich als „Leben mit vollem Risiko“ umschreiben möchte. Damit meine ich, dass ich jederzeit für grundlegende Änderungen in meinem Leben offen bleibe. Was ich bin, was ich habe, empfinde ich nur als geliehen. Ich kann nichts davon festhalten, gleich­wohl bleibe ich bemüßigt, es achtsam zu hüten. Steht es mir doch nicht an, die wertvollen Leihgaben zu meiner Sauberkeit zu verschleudern. Andererseits bewahre ich mir gerade so die Fähigkeit, mich jederzeit auch von scheinbar unverrückbaren Dingen und Werten lösen zu können, sobald ich dies als Forderung an mich und meinen weiteren Weg der Genesung erkenne. Weiß ich doch mittlerweile, das dieser Weg der Genesung, dieser Pfad der Sau­berkeit ohne Ziel und ohne Ende ist. Es obliegt mir nur, auf ihm voranzuschreiten und nicht zu rasten, solange ich Rückschritte vermeiden möchte. Und so kann jeder Tag für mich zur Erfüllung werden, sobald ich mich ihm mit meinem ganzen Geschick hingebe. Gelingt es mir, bin ich dem wahren Leben nahe. Ich werde wach. In diesem wachen Sohiersein aber erwächst die Kraft zur Handlung. In ihrer Stärke liegt zugleich ein Anruf, der mir zum eini­genden Impuls wird, aus dem heraus sich durch mich mein weiterer Weg formt. So handele ich aus einem tiefen übergreifenden und alles verbindenden Verständnis heraus, durch des­sen Wirken sich letztlich auch jede Hoffnung erübrigt.

So geschah, was ich nicht mehr erhoffen konnte. Der Funke Sauberkeit sprang auf mich über und ich gab mich ihm zur Nahrung, auf dass er zur Flamme werden konnte. Und diese Flamme wurde mir zum Licht. Nun liegt es fürderhin an mir, dieses Licht zu hegen und zu nähren. Hierzu bin ich stets aufs neue gefordert, Ballast abzuwerfen und meine Seele sei­nem reinigenden Feuer auszusetzen. Unterließe ich es, würde ich diese heilsame Flamme ganz allmählich mit meiner Last ersticken.

Trüber Lenz – 7 Haiku

Unter blühenden
Bäumen blicken die Leute
Auf ihre Händis.

Sein Apfelbaum blüht
Als Zeichen aller Hoffnung.
Auch er wird gefällt.

Die Frühlingssonne
Belebt Flora und Fauna
Die Welt geht unter.

Die Amsel trällert
Doch keiner lauscht ihrem Lied
Kopfhörer im Ohr.

Lenz, du lauer Hauch,
Wer kennt dich noch beim Namen?
Was erwartet dich?

Bierdosen, Papier,
Junkfood und Kaffeebecher
Farben des Frühlings.

Sonne leckt den Schnee
Vom Kadaver eines Rehs
Eine Krähe singt.

Einsamkeit

Die einen suchen sie auf, die andern fliehen vor ihr

Einsamkeit hat viele Gesichter und viele Ursachen. Mal ist sie heilsam, mal ungesund, und sie kann auch tödlich sein. Wir wissen vom Einsiedler, der mit sich allein die mystische Vereinigung mit Gott anstrebt; wir hören von Gefangenen, die durch strikte Einzelhaft psychisch vernichtet werden; wir belassen die Soziopathen in ihrer verderblichen Isolation. Letztlich haben wir alle selbst irgendwann einmal Einsamkeit durchlitten, die mal Verlassenheit, mal Unverständnis, mal Unwillen, mal Ab- oder Ausgrenzung war. Die Gründe hierfür sind so vielfältig wie das Leben. Alter, Krankheit, Armut, Scheu, Anderssein, Depression, Menschenfeindlichkeit, Ichsucht und Selbstverliebtheit sind nur einige davon.

Zwar wird Einsamkeit überwiegend als ein bedrückender Zustand empfunden, dem man möglichst schnell entfliehen möchte – wir sprechen dann gerne von Vereinsamung. Doch gibt es auch beglückende Momente von Einsamkeit, die freudig gesucht werden. Diese Art der Einsamkeit nennen wir dann Klausur (heute eher »Retreat«) und meinen damit eine Phase der Zurückgezogenheit, an deren Ende wir geistig und seelisch erholt in unseren Alltag zurückkehren.

Disstress und Eustress

Einer Klausur muss allerdings nicht immer eine Weile der Überforderung, der Hektik oder Ablenkung vorausgegangen sein, weswegen wir dem Disstress entfliehen möchten. Eine Klausur, kann ebenso ein freiwilliger Rückzug sein, um dem Eustress, der positiven Herausforderung zu begegnen. Manch einer macht sich zum Beispiel auf, die Erde alleine und ohne Halt zu umsegeln. Allerdings begehen die wenigsten ein solches Abenteuer stillschweigend, also wirklich für sich allein, vielmehr vermarkten sie ihre Einsamkeit, noch ehe sie begonnen hat. Das gilt auch für so manchen, der die Einsamkeit der Exerzitien sucht. Noch ehe er die frugale Besinnung bei Stille und Gebet in einem Kloster pflegt, lässt er sich ob seines Vorhabens bereits im Vorfeld bewundern und weiß danach Sensationelles von den Wandlungen seines Gemütszustandes zu berichten. Indessen ist nicht jede freiwillig auferlegte Einsamkeit eine narzisstische Stärkung; häufig genug ist die gewollte Klausur die notwendige Voraussetzung, um einen forschenden Geist weiden zu lassen – dies gilt für den »Kopfarbeiter« ebenso wie für den Mystiker.

Einsamer Geist

Ihre Einsamkeit ist jedoch nur ein halbes Vergnügen. Gewiss ist die Möglichkeit des Rückzugs angenehm, um ungestört eigene Gedanken entwickeln zu können. Andererseits ist man bei der Entwicklung von Gedanken fast immer auf den Austausch mit anderen angewiesen. Je höher aber die Gedanken fliegen, umso einsamer wird es auf den Gipfeln, die man dabei erreicht. Folglich bedeutet Geistesgröße per se auch Einsamkeit; weswegen sich manch großer Geist auch mal ganz gerne in das Getümmel der Dummheit stürzt. Allerdings erlebt er dann meist nur eine andere Form seiner Einsamkeit, nämlich die, inmitten der Masse nicht wirklich dazuzugehören. Er verharrt unter den Einfältigen in der Besucherrolle und wird als solcher, auch wenn er sich noch so unterirdisch gibt, stets erkannt und isoliert. So gibt es fast in jedem Stehausschank einen »Professor«, der selbst bei eingetretener alkoholischer Verblödung noch der Studierte bleibt und mit seinen Saufkumpanen niemals wirklich gemein wird.

Ebenso unbestreitbar ist die Einsamkeit auf dem Gipfel einer Fähigkeit. Wer zum Beispiel in den höchsten Gefilden der Mathematik zuhause ist, wird auf der ganzen Welt vielleicht noch ein Dutzend weiterer Menschen finden, mit denen er seine mathematischen Probleme besprechen kann. Ähnlich mag es dem hochbegabten Künstler ergehen, der erkennen muss, dass sein Ringen um künstlerischen Ausdruck von seinem Publikum nicht mehr verstanden wird. Gleichermaßen unverstanden wird sich auch der Weise fühlen, der Gottes Rocksaum am Horizont zur Transzendenz erschauen durfte. Jiddu Krishnamurti – sicher ein Begnadeter – deutete seine diesbezügliche Einsamkeit kurz vor seinem Tod an, indem er gegenüber seinen Vertrauten meinte: »Wenn ihr alle doch bloß wüsstet, was euch entgangen ist – diese große Leere.«

Sich nicht mitteilen können

Das Fehlen eines Austauschs ist darum der eigentliche Grund, der jede Einsamkeit ausmacht. Wir müssen uns nicht in eine Einsiedelei begeben, um einsam zu sein. Wir werden inmitten des Trubels im Kölner Karneval einsam sein, sobald wir den Narren dort etwas von unserer Schwermut erzählen möchten – und es nicht ironisch meinen. Sich nicht mitteilen zu können, niemanden zu finden, der seine Gefühle, seine Überlegungen, sein Erleben mit einem teilt, macht uns einsam. Diese Art der Einsamkeit ist schmerzlich, ganz im Gegensatz zu der beschaulichen Einsamkeit in einem Schweigekloster, in dem man Teil der Gemeinschaft der Schweigenden ist, die ihr Schweigen, ihre Andacht und Gebete miteinander teilt, so dass dort niemand wirklich einsam ist. Das gemeinsame Schweigen kann sogar so sehr verbinden, dass man diese Gemeinschaft nicht mehr gegen die Oberflächlichkeit eines profanen Alltages eintauschen mag, in dem man zwar miteinander redet, aber meist nur aneinander vorbei.

Das Unteilbare

Es ist also das Nicht-teilen-können, was einsam macht. Wenn ich ein Geizhals bin, der sein Vermögen mit niemandem teilen will, wird mich das einsam machen, denn dann ist für mich jeder meiner Zeitgenossen ein potentieller Dieb. Ich werde das Geheimnis meines Reichtums also niemandem mitteilen und auch ansonsten jede engere Bindung tunlichst meiden, um mein Vermögen – gerade weil es teilbar ist – nicht zu gefährden.

Nun gibt es allerdings auch etwas Unteilbares in der Welt, zumindest vermuten wir dies. Das ist das Numinose oder die göttliche Unermesslichkeit oder, profaner gesagt, das metaphysische Sein. Dieses Unteilbare lässt sich, wie sein Name schon sagt, nicht teilen, auch wenn unsere Religionen hierzu ganz andere Behauptungen aufstellen. Würde es sich so fügen, wie wir es religiös gerne haben wollen, wäre es teilbar und somit auch nichts Göttliches; der religiöse Gedanke würde sich so also von selbst aufheben. Weil der Gedanke dieser Notwendigkeit jedoch nicht folgen will, haben wir es mit Religion zu tun. Diese kleine Verdrehtheit soll aber an dieser Stelle nicht weiter unser Thema sein, weil derlei Widersprüchlichkeiten seltsamerweise nicht einsam machen, sondern Kollektive stiften.

Mystik: das Duale verwischen

Gehen wir dagegen das Unteilbare mystisch an, indem wir es zum Gegenstand unserer Kontemplation machen, begeben wir uns in die große Gefahr, einer unwiderruflichen Einsamkeit anheimzufallen. Denn das Ziel jeder Kontemplation ist, eins mit dem Geschauten zu werden; was die Dualität zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten verwischt. Das eine wird zum anderen, und das andere zum einen. Gleichwohl gibt es auch hierfür einen religiösen Begriff. Der kirchentreue Mystiker spricht dann von der »unio mystica«, der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott; gerne wird dabei auch die Metapher von der dunklen Nacht gebraucht, die Johannes vom Kreuz (1542-1591) prägte. Damit ist eine vollkommen gottverlassene Einsamkeit gemeint, die den Kontemplierenden erfasst, und in die er ganz hineingehen muss, ehe er durch die ihn verklärende Einheit mit Gott erlöst wird.

Doch wie soll sich das Unteilbare mit dem Teilbaren, dem Menschen, vereinigen? Nun könnten wir das altbekannte magische Konstrukt aus unserer Zauberkiste ziehen, das da heißt: Alles ist mit allem verbunden. Doch wäre dies nur eine weitere Theorie, um sich einer wirklichen Beschauung zu entziehen. Wir würden damit das Unverstandene in ein Schublädchen mit der Aufschrift »Kapiert« verstauen und es so aus dem Sinn fegen. Nehmen wir hingegen die spirituelle Annahme ernst, dass es tatsächlich etwas Unteilbares und zugleich Allumfassendes gibt – denn nur solange auch Letzteres gilt, können wir uns mit ihm vereinigen –, müssen wir versuchen, die Trennung zwischen uns, den Schauenden, und dem zu Beschauenden aufzulösen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn wir das Trennende betrachten, anstatt uns auf das angenommene Heile zu beziehen.

Kontemplation

Üblicherweise ist eine Kontemplation – zumindest an ihrem Beginn – ein selbstbesonnener Diskurs, bei dem die Gedanken um das Ziel der Wahrnehmung kreisen, es dabei entblättern und soweit erschließen, dass es ganz für sich geschaut werden kann. Gelingt dies, wird die Achtsamkeit vollkommen, weil durch nichts mehr abgelenkt, und das Gesehene ist vom Sehenden nicht mehr unterschieden. Es wirkt in ihm, weil er selbst durch seine Schau still geworden ist. Jeder kennt solche erfüllenden, weil das ganze Wesen erfassende Augenblicke. Einsamkeit stellt sich hier meist erst im Nachhinein ein, wenn der solchermaßen Ergriffene von dieser Schau berichten möchte, die ihn durchdrungen hat. Dann erfährt er, dass zum einen seine Worte nicht genügen, um das Geschehen zu umschreiben, zum anderen seine Zuhörer dieses Erleben nicht wirklich nachvollziehen können, sondern sich allenfalls an etwas Ähnliches erinnern und dadurch sein Erleben durch ihr Vergleichen banalisieren. Das nicht Mitteilbare – nicht das Geschehen selbst – wird damit zum Grund von Einsamkeit.

Wollen wir uns hingegen wirklich auf die gottverlassene Einsamkeit des Mystikers einlassen, ehe er womöglich durch himmlischen Glanz begnadet und somit für seine Duldsamkeit im Leid belohnt wird, müssen wir ganz auf uns selbst gestellt bleiben. Damit meine ich, auf jeglichen Beistand zu verzichten und in die Einsamkeit des Ichs einzutauchen. Deswegen spreche ich von nun ab auch von ich und lasse es offen, ob Sie, lieber Leser, diese Perspektive für sich einnehmen wollen.

Ich ist allein in mir

Habe ich mich also entschlossen, das Unteilbare ganz in seinem Sein zu erschauen und mich deswegen in die vollkommene Einsamkeit zu begeben, beginne ich, mich in mir selbst als gefangen zu erleben. Meine Welt, meine Mit- wie Umwelt, besteht aus Bildern, Erinnerungen und Affekten in meinem Gedächtnis, die durch meine Prägungen bewegt, bedacht, erhalten und verwandelt werden. Damit meine ich keinen Solipsismus, der die Existenz der Welt nur in mir behauptet. Bei einem solchen Modell gäbe es das Unteilbare nicht als etwas zu Erlangendes, denn dann wäre ich es bereits und somit auch am Ende meiner Kontemplation. Nein, ich meine damit die Bewusstwerdung dessen, dass es eine unüberwindbare Schranke zwischen mir und meiner Welt gibt. Mein Fühlen und Denken bleibt bei mir. Mein Nächster mag es zwar nachvollziehen und mitempfinden, aber dieses Fühlen und Denken ist das seine und nicht das meine. Ich ist allein in mir. Im anderen bin ich stets du. Diese wechselseitige Empathie ist im übrigen das einzige wirkliche Mittel gegen die Einsamkeit.

Doch jetzt suche ich freiwillig die Einsamkeit, denn ich möchte sie gegen etwas Großartiges, Allverbindendes eintauschen. Deshalb erforsche ich mein Inneres. Ich sehe, wie ich mir das Äußere erdenke, wie ich es aus mir heraus in mich hineinhole und dasselbe auch durch meine Hinwendung zum Unteilbaren versuche. Ich erlebe dabei, wie ich mit meinen Gedanken absolut alleine mit mir selbst bin. Sie sind nur in meinem Kopf, in keinem anderen.

Gedanken trennen

Ja, ich sehe, dass nur sie es sind, die Gedanken, was mich von der Welt trennt und mich in mir noch mehr isoliert, indem sie mich so denken lassen, wie ich konditioniert bin: als Christen, Juden, Muslim oder Atheisten und dergleichen Weltanschauungen mehr. Ich erkenne zugleich, dass, wenn ich meine Gedanken ändere, ich nur die Farbe meiner Einsamkeit verändere. Meine Gedanken schwatzen mir vor, was ich aus zweiter Hand erlebe. Schließlich bin ich das Ergebnis meiner Prägung und außerdem stets nur der eigene wie erste Berichterstatter meines Erlebens. Das Unteilbare aber ist dem allen fern. Meine Gedanken darüber beschreiben es nicht einmal, sondern beschreiben einzig mich. Sie dienen somit nicht einmal mehr meiner eigenen Unterhaltung, meiner kurzweiligen Ablenkung von mir selbst und meiner Einsamkeit. So verharre ich, abgeschieden hinter Haut und Knochen meines Schädels, gefangen in der weißen Dunkelheit meines Gehirns und dem grauen Strömen meiner Gedanken.

Dennoch habe ich so vereinzelt nicht das Geringste mit dem Unteilbaren gemein. Vielmehr bin ich tausendfach zersplittert und daneben noch ein implantiertes »Man«, das mir von anderen genauso einsamen Seelen hineingereicht, hineingedrückt, hineinverkauft oder hineingeschlagen wurde und wird. »Man sollte« und »du solltest«, so die Litanei der Anmaßung, um durch die Gestaltung anderer Ichs den Ausbruch aus der eigenen Verlassenheit zu erzwingen. Teilen, sich in anderen zu teilen, um Teilhabe zu erlangen und die Einsamkeit zu besiegen – zum Ausbruch taugt das nicht.

Ausweglos

Erkenne ich dies, erkenne ich die Ausweglosigkeit. Nichts von dem Geschauten kann ich mehr mitteilen, denn da ist keiner mehr, der es mit mir teilt. Die anderen sind nur noch die Beobachter an meinem Sterbebett, die mich ihrerseits beschauen, um ihre eigene Furcht und Einsamkeit zu überwinden. Die sich mittels meines Leidens ablenken, um ihr eigenes Leid nicht zu empfinden.

Erkenne ich dies, gebe ich auch die Suche nach dem Unteilbaren auf, denn ich rieche in mir den Verwesungsgeruch meines faulenden, in sich verrottenden Ichs. Nun dringt nichts mehr in mich hinein, was nicht gleichermaßen Aas und Fäule wäre. Darüber werde ich müde. Ich wehre mich gegen nichts mehr und nehme, weil alles Tod ist, nichts mehr auf. In mir ist nichts mehr, das Hineingetragenes würde ergreifen wollen.

Erkenne ich dies, fließt es aus mir heraus. Der aasige Moder einer sich auflösenden Psyche, die aus sich heraus all das in sie Hineingetragene abstößt und ausscheidet. Das ist die Klärung, die jeder Tod mit sich bringt, indem der tote Leib verwest und aus seinem Balg tritt und in die Erde fließt, bis schließlich auch die gebleichten Knochen zu Staub verfallen und verwehen.

Einsamkeit ohne Schrecken

Erkenne ich dies, ist in mir die absolute Einsamkeit. Sie ist ohne Schrecken, weil ich sie längst bejaht habe. Weil ich längst erkannt habe, sie – und nur sie – ist mein einziger Grund. In ihr gründe ich. Leere, ausgefegtes Sein. Unaussprechbar, unteilbar.

Erkenne ich dies, bleibe ich leer. Ich beschaue diese Leere und sehe, wie sie sich ausdehnt, wie sie alles erfasst und in sich aufnimmt, meine ganze Welt geht in sie über, ohne auch nur ein Quäntchen von ihr zu füllen. Sie ist rein und unfassbar. Dies ist der Beginn des Alleinseins, das keine Einsamkeit mehr kennt.

Erkenne ich dies, bleibe ich still und sehe, was in mir und im anderen unteilbar ist. Nur dies ist …

Mein Wunsch zum neuen Jahr

Jahresbild 2023 © M. Mala

Es ist wieder Zeit für ein prognostisches Jahresbild zum neuen Jahr. Gingen wir letztes Jahr noch baden, so machen wir uns nunmehr auf die Reise nach Privatissima, einem Wolkenkuckucksheim nicht mehr verortet im hiesigen Raum und hiesiger Zeit, sondern ein Ort in unserem Herzen und unserer Seele, an dem wir uns wohlfühlen. – Mit wir meine ich meine Frau und mich. Beide leben wir seit 1970 in einer Nußschale, mit der wir schon so mancher stürmischen See getrotzt haben. Ja, wir können längst vor dem Wind kreuzen.

Privatissima ist kein Rückzug ins private, sondern wie gesagt ein weiterer Abschnitt unserer Studienreise zum rechten Leben. Wobei das rechte Leben, so wie wir es verstehen, sicher nicht jenes ist, was derzeit von den „Woken“, den Erwachten, dafür gehalten wird; also weder Lebenshaltung noch Wahrheit, sondern ein realistischer Blick, soweit das in einer an sich vagen, verhandelten, ja verrückten Welt überhaupt möglich ist. Jedenfalls bemühen wir uns allein ob unserer psychischen Gesundheit um eine solche Lebensweise, schließlich ist die Welt um uns nicht minder irre als vor 50 Jahren, nur im Gegensatz zu damals, hält man heute den Wahnsinn für Wahrheit … Weisheit … Wesentlichkeit … Nein, zurück, für das hielt man die Welt auch vor 50, 80, 100 oder 1000 Jahren. Somit mag meine prognostische Zeichnung nur ein Abbild unseres Status quo und in diesem Sinne nur eine Anregung für Euch sein, liebe Freunde, sich das Ruder nicht aus der Hand nehmen zu lassen, sondern Euren eigenen Weg in dieser Welt zu finden und sich dabei vom Wahnsinn nicht anstecken zu lassen und gut zu finden, was verdorben ist.

In diesem Sinne verfasste ich das Haiga, dessen bildhafte Mitteilung Ihr nach Eurem Belieben deuten dürft, sowie das Haiku im Bild – was ein Haiga ausmacht -, das eigentlich ein Senryū ist:


Künftig verarsche
Ich mich lieber selbst! – Und ihr?
Macht es ebenso!

Ein gutes neues Jahr, Gesundheit und Glück, wünschen Euch
Dagmar & Matthias Mala

Fährnisse

Übermüdet © M. Mala

Ich schwimme regelmäßig dreimal die Woche. Anfang November schwamm ich wie gewohnt und wie gewohnt bekam ich Wasser in die Ohren. Doch diesmal wollte es offensichtlich nicht mit ein wenig Kopfneigung und Handtuchtupferei verschwinden. In der Nacht auf Sonntag begann das linke Ohr so zu schmerzen, dass meine Frau nach dem Bereitschaftsarzt telefonierte. Er kam schließlich gegen zwei Uhr. Er dauerte mir, denn er war völlig übermüdet. Ich teilte ihm mein Mitgefühl mit. Er fragte nach der Befindlichkeit des Ohrs und ließ ein Rezept für antibiotische Tropfen zurück. Der Bereitschaftsarzt hatte seine Praxis 240 Kilometer entfernt in Schweinfurt, wie ich vom Rezept ablas. Das erklärte zum einen seine Übermüdung und verwies zum anderen auf den miserablen Zustand unseres Gesundheitssystems.

Mitte der kommenden Woche war die Befindlichkeit immer noch im Ohr, weshalb ich dann donnerstags beim HNO-Arzt anrief. Am Dienstag drauf hatte ich einen Termin. Der Ohrenarzt schaute mir ins Ohr und zog ein Schirmchen vom Hörgerät heraus. So ein Schirmchen ist aus weichem Kunststoff und hat etwa einen Zentimeter Durchmesser. Es dient dazu, den Lautsprecher des Hörgerätes im Ohr zu fixieren und so auch das Hörgerät in seiner Position hinter dem Ohr zu stabilisieren. Es sah zerquetscht und orangefarben verbacken aus. Es war eine cremige Mischung aus Blut und Cerumen – Ohrenschmalz –, die das milchige Weichplastik umhüllte. Das Schirmchen wurde, nachdem es beim Ablegen des Hörgerätes im Gehörgang steckenblieb, vom nächsten Schirmchen noch tiefer ins Ohr gedrückt, so dass es hinter dem Knick des Gehörganges verschwand und von außen nicht mehr zu sehen war. Deswegen konnte meine Frau es auch nicht sehen, wenn sie mir die Ohrtropfen ins Ohr träufelte. Sie sah nur, dass der Ohreingang wegen der Schwellung durch die entstandene Entzündung verengt war.

Das eigentliche Malheur lag indes etwa sechs Wochen zurück, als mir beim Herausnehmen der Hörgeräte ein Schirmchen am Hörer fehlte. Da ich es nicht fand, dachte ich, es wäre vom Hörer abgefallen, auf den Teppich gepurzelt und dort im Flor versunken. Das zweite Malheur war, dass mir der Schweinfurter Arzt nicht ins Ohr gesehen hatte, denn dann wäre die Ursache meiner Ohrentzündung bereits eine Woche früher entfernt worden.

So sind sie eben die Fährnisse des Alters. Man braucht Hilfen: Hörhilfen, Sehhilfen, Gehhilfen und so weiter und alle bergen in sich Gefahren, so stellte ich schon mal beim Spazieren mit meinen Gehstock anderen ein Bein oder sah, wie andere über ihren Rollator stürzten. Ja, Hilfe kann überhaupt gefährlich sein, denn was da oft mit guter Absicht vorgetragen wird, entpuppt sich am Ende als der Beginn eines Raubzuges. Man denke nur an die „Staatshilfen“, die wir alle über unsere Steuern bezahlen müssen. Keiner ist davon ausgenommen, denn sieben oder 19% Mehrwertsteuer sind bereits eine hübsche Steuerquote, die ein jeder für seinen Konsum berappen muss, damit ihm am Ende Vater Staat mit ein paar Euro helfen kann.

Macht ist sexy

Macht © M. Mala

Der „liebe“ Gott ist allmächtig. Er kann Wunder vollbringen. Obgleich seine Wunder hienieden ausschließlich Menschen vollbrachten, sofern man Jesus als Mensch und nicht als Gott versteht. Allmächtig ist ansonsten niemand, nicht mal ein brutaler Tyrann, denn auch er bleibt sterblich und wird gelegentlich an einer Laterne aufgehängt. Die meisten Menschen fliegen auf die Mächtigen, sie bewundern und verehren sie, ja sie himmeln sie an; denn der Abglanz der Macht erhebt auch Ohnmächtige. So scharen mächtige Personen leichthin Anhänger um sich, auch wenn ihre Macht vordergründig nur auf Bekanntheit fußt; schließlich ist Ruhm durchaus ein Machtfaktor.

Macht korrumpiert. Diesem Fakt können sich nur integre Menschen entziehen. Es sind Menschen, die sich nicht von den Vorzügen der Macht bestechen lassen und hierdurch beginnen, ihre Moral zu relativieren, um sich Vorteile zu verschaffen und zu sichern. Gleichwohl bleiben sie wie alle anderen Mächtigen umschmeichelt und erfahren allein dadurch einen freundlicheren Umgang als andere, was wiederum ihr Weltbild positiv färbt. Hierdurch entwickeln sie leicht eine gewisse Selbstherrlichkeit, treten selbstbewusster auf und vermitteln so ihrerseits einen beachtlicheren Status. Ihre Macht strahlt aus, ob sie das wollen oder nicht, wodurch sie attraktiv werden; so wirken selbst unansehnliche Menschen durchaus anziehend. Ja, Macht kann Zwerge in Riesen verwandeln.

Macht ummantelt und schützt den mächtigen, was seinerseits Missbrauch erleichtert. Doch der wird dann meist nicht so benannt, sondern gilt gar als Ausweis rechter Machtausübung. Was kann auch daran verkehrt sein, wenn ausgeübte Macht schmerzt? Nicht umsonst sind Tyrannen von Schmeichlern umgeben, die ihr Lied singen und ihnen nach dem Maul reden. In solchen Momenten wird deutlich, das Macht und ihre Korrumpierung ein Selbstzweck ist. Ich töte die Fliege, weil ich es kann. Ich missbrauche das Kind, weil ich es kann. Ich schlage meinen Nächsten, weil ich es kann.

Kleine wie große Gemeinheiten und Verbrechen nur deswegen zu tun, weil man es kann, ist für viele Mächtige für sich allein schon sexy, was heißt sexuell stimulierend und ihr Ego erregend. Sie genießen das berauschende Gefühl von Macht. Ich bin, und ihr alle seid erst nach mir, sehr weit nach mir. Ein Mensch plustert sich auf, trommelt sich wie vor Freude auf die Brust, wobei das keine männliche, sondern eine rein menschliche Eigenschaft ist. Schon kleine Kinder üben sich darin und Frauen stehen den Männern darin in nichts nach. Ja, oft ist die Machtausübung durch Frauen noch einen Dreh sadistischer, als durch Männer und das nur, weil sie es können.

Macht birgt somit auch etwas autoerotisches, es ist Onanie durch Knechtschaft. Eine durch und durch perverse, jedoch keineswegs außergewöhnliche Dominanz. Wir können sie in Palästen wie in Reihenhaussiedlungen oder Slums beobachten. Ein jeder von uns trägt einen Nukleus davon in sich, niemand ist vor ihrer Versuchung gefeit. Doch ein jeder vermag ihr zu widerstehen, denn sobald sie aufkeimt, spüren wir sie auch körperlich und können ihr Hautgout atmen; es ist dieser süßfaule Duft der Verderbnis, der die Bosheit begleitet. Dieser Verlockung nachzugeben ist eine gewollte und überlegte Entscheidung. Man spürt die Schwelle, die man übertreten, die Schranke, die man einreißen wird. Wir können es tun, doch wir können es auch unterlassen. Wir haben die Macht.

Falsch ausgeübte Macht ist allerdings nicht mehr sexy, sondern abartig und verdorben. Sie ist und bleibt abnorm und hässlich; auch wenn das die Claqueure der Macht nicht wahrhaben wollen.