
Von München aus sieht man bei klarem Wetter die östliche Alpenkette mit der Zugspitze. Wobei die Zugspitze die Sicht nach rechts markant unterbricht. Man sieht eine steile hunderte Meter hohe Abbruchkante, die das Wettersteingebirge begrenzt. Doch dem ist nur dem Anschein nach so.
Seit einiger Zeit fahre ich öfters mit dem Zug nach Memmingen und sehe immer wieder mit erneuter Verwunderung, dass mein Blick begrenzt war. Denn nähert sich der Zug dem Lech und gibt damit den Blick auf die Ammerseer und Lechtaler Alpen frei, geht die scheinbare Abbruchkante der Zugspitze in eine weite Flanke über. Das Massiv zeigt sich aus dieser Sicht, zwar ebenso mächtig doch bei weitem nicht mehr so markant aufragend.
Perspektiven gründen auf Standpunkten. Wird ein Standpunkt verändert, ändert sich auch die Ansicht. Nicht das Betrachtete wandelt sich, sondern nur die Wahrnehmung des Betrachters. Für ihn kann ein solcher Perspektivwechsel erhellend sein, wobei die Erhellung sich auch als Enttäuschung einer eingefahrenen Sicht entpuppen kann. Wobei auch der Blickwinkel eine Rolle spielt. Der fokussierte Blick richtet sich auf die Details, während der Weitblick die gesamte Erscheinung erfasst. Beide Sichtweisen sind neben der Rundschau notwendig, um das Betrachtete in seiner Gesamtheit zu erfassen.
Allerdings ist das das Ideal. Manch einer kommt über Jahrzehnte nicht aus seinem Ort heraus und sieht somit stets nur den gleichen Prospekt, der ihm zu einer Weltsicht wird. Ein Tor, der deswegen die Sicht dieses Betrachters abwertet. Immanuel Kant hatte zum Beispiel das Weichbild Königsbergs nur selten verlassen; gleichwohl blickte er mit seiner Philosophie weit über seinen Horizont hinaus.
Diese kurze Betrachtung erhellt, ob kleinkariert oder weitblickend hängt nicht von der realen Perspektive ab. Es gibt weitgereiste Menschen, die ihre Engstirnigkeit nie überwanden und andererseits Leute, die aus ihrem Dorf nie herauskamen und gleichwohl eine Weisheit in sich tragen, als hätten sie die ganze Welt bis hinter die Sterne bereist und geschaut.
Und so wie der Blinde nichts sehen kann, vermag der Sehende nichts wahrhaftig zu schauen, solange er seine Sicht nicht hinterfragt, ob das, was er sieht, nicht doch anders sein könnte, als er es wahrnimmt. Hierzu aber braucht es die Tugend der Unbefangenheit, denn nur dann bewahrt man sich die innere Freiheit, eine andere Betrachtung annehmen zu wollen. Ohne diese Freiheit wären wir Menschen mit unserer Erkenntnis nicht dort, wo wir heute stehen. Allerdings sind für beachtlich viele gerade derlei Perspektiven verhasst und sie wünschen sich in eine Zeit zurück, wo allein der Blick vom Kirchturm sie bereits in Schwindel versetzen hätte können.