Perspektiven

Kleinkariert © M. Mala

Von München aus sieht man bei klarem Wetter die östliche Alpenkette mit der Zugspitze. Wobei die Zugspitze die Sicht nach rechts markant unterbricht. Man sieht eine steile hunderte Meter hohe Abbruchkante, die das Wettersteingebirge begrenzt. Doch dem ist nur dem Anschein nach so.

Seit einiger Zeit fahre ich öfters mit dem Zug nach Memmingen und sehe immer wieder mit erneuter Verwunderung, dass mein Blick begrenzt war. Denn nähert sich der Zug dem Lech und gibt damit den Blick auf die Ammerseer und Lechtaler Alpen frei, geht die scheinbare Abbruchkante der Zugspitze in eine weite Flanke über. Das Massiv zeigt sich aus dieser Sicht, zwar ebenso mächtig doch bei weitem nicht mehr so markant aufragend.

Perspektiven gründen auf Standpunkten. Wird ein Standpunkt verändert, ändert sich auch die Ansicht. Nicht das Betrachtete wandelt sich, sondern nur die Wahrnehmung des Betrachters. Für ihn kann ein solcher Perspektivwechsel erhellend sein, wobei die Erhellung sich auch als Enttäuschung einer eingefahrenen Sicht entpuppen kann. Wobei auch der Blickwinkel eine Rolle spielt. Der fokussierte Blick richtet sich auf die Details, während der Weitblick die gesamte Erscheinung erfasst. Beide Sichtweisen sind neben der Rundschau notwendig, um das Betrachtete in seiner Gesamtheit zu erfassen.

Allerdings ist das das Ideal. Manch einer kommt über Jahrzehnte nicht aus seinem Ort heraus und sieht somit stets nur den gleichen Prospekt, der ihm zu einer Weltsicht wird. Ein Tor, der deswegen die Sicht dieses Betrachters abwertet. Immanuel Kant hatte zum Beispiel das Weichbild Königsbergs nur selten verlassen; gleichwohl blickte er mit seiner Philosophie weit über seinen Horizont hinaus.

Diese kurze Betrachtung erhellt, ob kleinkariert oder weitblickend hängt nicht von der realen Perspektive ab. Es gibt weitgereiste Menschen, die ihre Engstirnigkeit nie überwanden und andererseits Leute, die aus ihrem Dorf nie herauskamen und gleichwohl eine Weisheit in sich tragen, als hätten sie die ganze Welt bis hinter die Sterne bereist und geschaut.

Und so wie der Blinde nichts sehen kann, vermag der Sehende nichts wahrhaftig zu schauen, solange er seine Sicht nicht hinterfragt, ob das, was er sieht, nicht doch anders sein könnte, als er es wahrnimmt. Hierzu aber braucht es die Tugend der Unbefangenheit, denn nur dann bewahrt man sich die innere Freiheit, eine andere Betrachtung annehmen zu wollen. Ohne diese Freiheit wären wir Menschen mit unserer Erkenntnis nicht dort, wo wir heute stehen. Allerdings sind für beachtlich viele gerade derlei Perspektiven verhasst und sie wünschen sich in eine Zeit zurück, wo allein der Blick vom Kirchturm sie bereits in Schwindel versetzen hätte können.

Weltuntergang

©Matthias Mala

Als ich Ende 1950 geboren wurde, war der letzte Weltuntergang gerade mal 5 Jahre vorbei. Es war das Armageddon des Zweiten Weltkrieges mit der Shoa und geschätzten 65 Millionen Toten. Derweil ging das Wüten in der UdSSR und in China weiter. Beim letzten erwarteten Weltuntergang 2012 zum Ablauf des Mayakalenders starb in meiner näheren Umgebung nur eine Magersüchtige ihren absehbaren Tod. In der Zwischenzeit aber hatten über 100 Propheten einen Weltuntergang prophezeit und daran in ihrer Mehrheit gut verdient. Derzeit sind es die „Umweltschützer“, die uns den Weltuntergang voraussagen, das aktuelle Datum müssen sie freilich noch liefern.

Weltuntergang begleitet die Menschheit schon immer und das Christentum von Anfang an. Der Apostel Johannes war wahrscheinlich auf Droge oder hatte einen psychotischen Schub, als er seine Apokalypse verfasste; stand damit aber in guter jüdischer Tradition. Seitdem ging für irgendeine Sekte oder gelegentlich eine Weltreligion alle naselang die Welt unter. Eine Liste bekannter Weltuntergänge ist hier abrufbar.

Drohungen mit dem Weltuntergang sind im Grunde ähnliche Erpressungen wie sie unwillige Selbstmörder verüben. Man droht ratzfatz mit dem Ende, wenn nicht bis dahin dies oder das geschieht: Tausend Halleluja und tausend Euronen in die Kasse des Propheten, oder es ist Schluss mit lustig. Ja, es ist billiges sektiererisches Gehabe und da derzeit wie vor 1020 Jahren Politik und Medien an den Weltuntergang glauben, mag ich ihn belustigt erwarten; denn zum damals erwarteten Weltuntergang kroch Kaiser Otto III., der mächtigste Mann seiner Zeit, auf dem Bauch herum und gelobte, Mönch zu werden, falls sich dadurch das Jüngste Gericht aufhalten lasse.

Stellen Sie sich vor Angela Merkel robbte auf dem Bauch vor dem Reichstag, damit die Prophezeiungen der heiligen Greta unerfüllt blieben. Nur was könnte sie versprechen, um den Herrgott zu beschwören? Dass sie nie wieder Nägel beißen würde? Nein, nichts dergleichen, sie würde wohl eher schwören, dass sie dem deutschen Volk bis zu ihrem Tod weiterhin als Kanzler zur Verfügung stünde. Gut, dann lieber Weltuntergang …

In diesem Sinne mein Senryū zum Jahresbild 2020, diesmal wegen dem Silbenmaß 5-7-5 auf bayerisch:

Ois greint im gonz’n Lond,
Dös Joa ist Woiduntagang.
Passt, pflanzts Opfibaim!

Einen guten Rutsch und Gesundheit und Glück im neuen Jahr.

Fein und fürchterlich

Predigt © Matthias Mala

Predigten haben etwas einlullendes; sie kreisen meist monothematisch um einen Punkt, und ihr Kreisen wird zum Kreißen, und am Ende gebären sie eine Seifenblase an Erkenntnis, die kurz darauf platzt, sprich die Quintessenz, das heißt der fünfte Aufguss mystischer Verzückung, verpufft lautlos als feuchtes Lüftchen. Zurück bleibt nichts, außer allenfalls der Durst nach erneuter spiritueller Anmutung und belangloser Verzauberung; weswegen man sich am nächsten Sonntag wieder zur Kirche begibt, um demselben Prediger zu lauschen.

In meinem Sprengel predigt ein narzisstischer Priester, der sich mit jeder Predigt so schamlos in Selbstverzückung ergeht, dass man meint, ob dieser Leidenschaft müsse er, wenn nicht ausschließlich von sich doch auch vom Heiligen Geist beseelt sein. Also reisen Gläubige von weither, um ihn zu erleben und ihm zu lauschen. Seine Kirche ist auch stets gut gefüllt. Sie ist wie anderswo eine In-Kneipe eine In-Kirche. Man kommt und findet es doll, dabei gewesen zu sein, einen Priester beinahe beim evangelikalen Zungenreden erlebt zu haben.

Diesmal ging es um Trost, nicht in dieser Pfarre, sondern bei der Predigt zum 3. Advent Weiterlesen

Selbstbesonnen ist der Weg

Ein Geschenkbuch für alle, die die mystisch, spirituelle Versenkung schätzen.

Lied 148 Stundenbuch der weißen Magie

Losung

Mein erster Freund bin ich selbst. Versage ich mir meine Freundschaft, versage ich mir meine Freunde. Nicht von anderen geliebt zu sein, sondern mich selbst zu lieben, ist Voraussetzung, um liebenswert zu sein.

Versenkung

Die Einheit von Seele, Geist und Psyche mit seiner Welt zu leben ist höchste Glückseligkeit und wahre praktizierte Magie. Sich dieser Forderung immer wieder zu erinnern, ist der magische Weg. Obgleich unsere Seele in der Halle des magischen Raumes weilt, bleiben wir den Einflüssen unserer Welt ausgesetzt. Unsere Psyche erzittert unter dem Anprall dumpfer Schwingungen, die böse Menschen aussenden. Wir empfinden uns in solchen Augenblicken gespalten, als aus dem Himmel Gestürzte. Die Kommunikation zwischen Seele und Psyche ist gestört, weil der Geist durch die psychische Gewalt, der wir ausgesetzt sind, verstört ist. Erinnern wir uns jedoch der ursprünglichen Einheit, finden wir die Kraft, uns zu versiegeln und den Kreis zu schließen. Denn zur Einheit gelangen wir nicht, indem wir das Böse bezwingen. Einheit entsteht niemals im Gegensatz zu einer anderen Kraft, sondern stets nur durch die Sammlung der eigenen inneren Kräfte. Der Gegner ist nicht der böse Feind, sondern wir selbst, sobald wir unsere Integrität aufgeben. Bleiben wir in uns, bleiben wir letztlich unerschütterlich.

Lasse ich mich durch äußere Widrigkeiten soweit erschüttern, dass ich auch innerlich zerrüttet bin?

Stimmung

Mein Haupt ist bedeckt und mein Gürtel eng geschnürt, ich schließe mich in meinen Mantel. Mein Blick rundet den Kreis und seine Kraft wird mir zum Dom. Nun umkränzen Blüten mein Haupt und mein Mantel schwingt weit. Ich bitte darum, dass ich mir diese Offenheit nicht nehmen lasse.

Wie man selbst zum Engel wird

Zum Advent eine Kontemplation aus meinem Stundenbuch der weißen Magie.

Losung

Wer in den Himmel greifen möchte, wird den Boden unter den Füßen verlieren; und wer auf festem Boden steht, wird den Himmel nicht erfassen. Die Welt ist gerecht im Ungerechten, weil sie im Ungleichen keinen Ausgleich bietet.

Versenkung

Die Pole bedingen einander, um die Form zu halten. Jenseits der Form herrscht das Formlose. Doch auch das Formlose ist Gestalt. Magie wirkt im Geformten wie im Ungeformten. Das eine ist wie das andere und doch ist beides grundverschieden. Reduzieren wir die Welt auf ihr Kleinstes, machen wir sie ebenso gleich, wie wenn wir sie ins Höchste verklären wollten. In beiden aber ist die Welt nicht mehr, sondern nur noch ihre Idee. Die Liebe weht zwischen diesen Nichtigkeiten und gar über sie hinaus, ins Unvorstellbare. Liebe ist die Spanne, die die Welt erstehen lässt. Liebe ist das milde Licht der Morgensonne, die den Tau der Nacht von den Blüten leckt und uns das Leben in die Glieder träuft. Bewahren wir die Frische dieser Stunde im Gemüt, werden wir uns selbst zum Engel, der uns führt. Ein Engel versteht es, die Schöpfung zu bewahren, indem er sie von Jetzt zu Jetzt wiederholt. Dies ist sein Anruf an das Unermessliche, sein immer neues Lied, durch das die Wiederkehr stets zur erneuten Schöpfung wird. Nicht die Erscheinung der Form oder des Formlosen ist der Akt solcher Weltwerdung, sondern das gelauschte Lied der Anrufung. Seine Stimmung temperiert die Kreation durch die harmonische Folge wohl gesetzter Töne.

Vermag ich das rechte Maß zu finden, ohne Maß zu nehmen?

Stimmung

Ich singe das Lied und wiederhole es, bis sich der Kreis schließt. Nun tönt der Kreis. Er schwingt im Widerhall der stillen Weise. Wen sie erfasst, der schwingt mit ihr. Ich bitte darum, dass meinem Ohr die Weise zeitlos schmeichelt

Seien Sie Ihr erster Freund und schenken Sie sich zu Weihnachten „Das Stundenbuch der weißen Magie“ – 183 Lieder kontemplativer Lyrik. Klicken Sie hier.

Der Zauber liegt im Auge des Betrachters

Sehen bis Nichts © Matthias Mala

Sehen bis Nichts © Matthias Mala

Jetzt, wo die Tage immer kürzer werden und die Finsternis immer tiefer wird, erinnere ich mir das 70. Lied des Stundenbuches der weißen Magie. Es fügt sich angemessen in die dunkle Zeit, nicht als Keim einer Hoffnung – das wäre banal -, sondern als erleuchtendes Moment, um die Finsternis mit all ihren Schatten anzunehmen und seinzulassen, was sie ist, nämlich notwendiger Gegensatz zu dem was ist. Oder um es anders auszudrücken, jegliches Wissen steht im Schatten des Nichtwissens, so wie jede Erkenntnis im Schatten der Erkenntnislosigkeit steht.

Losung

Die Welt, die die Welt trägt, ist der Welt ein Gegensatz. Doch der Geist, der diese Welten samt ihres Gegensatzes trägt, steht zu nichts im Gegensatz. Er ist von der Kraft ursprünglichen Seins, die beiden Welten ihren Odem spendet.

Versenkung

Ein Jüngling führte einen Blinden. Der Blinde fragte ihn, was er sehe. Der Jüngling beschrieb ihm die Dinge auf ihrem Weg. Doch der Blinde war darüber unzufrieden: „Du erzählst mir nicht mehr, als ich ertaste. Kannst du denn nicht die Seele der Dinge mit deinen Augen sehen?“ „Wie sollte ich das?“, entgegnete der Jüngling. „Du musst die Welt mit anderen Augen sehen“, meinte der Blinde. „Wie soll ich die Welt mit anderen Augen schauen? Ich habe nur diese“, klagte sein Führer. „Dann sieh sie mit meinen Augen“, riet ihm der Blinde. „Wie soll ich sie mit deinen Augen sehen, wo du die Welt durch meine Augen siehst?“, lachte der Jüngling. „Sieh mit deinem Herzen“, antwortete der Blinde. Der Jüngling schwieg darauf und sah. Nach einer Weile seufzte der Blinde dankbar und sagte: „Ja, so schön ist die Welt, erzähl mir mehr davon.“ Sein Führer betrachtete weiter schweigend die Welt. Und beide wandelten auf dem Pfad und wer sie sah, vermochte nicht zu sagen, welcher der beiden Sehenden der Blinde sein sollte.

Will ich den Grund hinter meinen Empfindungen sehen? Und will ich auch hinter diesen Grund blicken?

 Stimmung

Mit Leichtigkeit führe ich den Stab von der Einheit zur Zweiheit; hebe ihn zur Dreiheit, um ihn in der Vierheit zu senken. Springt die Kraft über, sehe ich das Kristall des Fünfsterns. Sehe, wie es sich in sich beständig wechselnd verkehrt und die Kraft kaskadengleich befördert. Ich bitte um die Einsicht, die Einsicht in mir wirken zu lassen.

Das Stundenbuch der weißen Magie können Sie hier beziehen, es kommt, sofern Sie es bis Ende der Woche bestellen, noch vor Weihnachten bei Ihnen an.

… und der Erwachte lachte

Bayerischer Buddha © Matthias Mala

Bayerischer Buddha © Matthias Mala

Als Siddhartha unter einem Feigenbaum meditierte, näherte sich ihm eine Gazelle und legte sich ihm zu Füßen. Siddhartha lächelte darüber milde, galt ihm doch das zutrauliche Verhalten des Tieres als Zeichen für seine innere Ruhe und die grenzenlose Weite seines Bewusstseins. Das zutrauliche Tier zog aber auch einen Schwarm von Mücken mit, die den Asketen umschwirrten und piesackten. Schließlich wurde es Siddhartha zu viel. Er sprang auf, mit ihm die Gazelle, lief zum nahen Fluss und stürzte sich hinein. Die Gazelle sprang davon, die Mücken folgten ihr. Vielfach gestochen von den Quälgeistern, doch von ihrer weiteren Verfolgung endlich erlöst, stieg Siddharta aus dem Wasser.

Befreiung

Als er so befreit ans Ufer watete, wurde er gewahr, dass er in einem noch viel weiteren Sinne befreit war. Die ihm gewährte Zuneigung der Gazelle, die erlittene Qual der Mückenstiche, sein Spurt zum Fluss, die schlagartige Erfrischung und die Erlösung von irdischer Plage hoben ihn in eine andere Sphäre. Er war nun ein anderer. Als er so vom nahen Fluss zurückkam, bemerkten seine Begleiter, die mit ihm meditiert hatten, seine plötzliche Wandlung und hielten ihn für erleuchtet. Doch Siddhartha entgegnete ihnen, es seien nur die Mücken gewesen. Hierauf lachten sie herzlich, denn sie wussten, es war die Erleuchtung, was den Meister verklärte. Siddhartha jedoch blieb hartnäckig dabei, es seien nur Mücken gewesen.
Dies verdrießte seine Jünger zunehmend. Einer nach dem anderen wandte sich von ihm ab, ging seiner Wege und berichtete von dem Geschehen. So kündeten sie von der Erleuchtung ihres Meisters und verbreiteten seine Reden. Seine letzte Erklärung aber, dass alle Erleuchtung nicht mehr als ein paar Mückenstiche zuviel sei, verschwiegen sie. Siddhartha kümmerte das nicht. Er war mit sich und der Welt eins und blieb dies bis zu seinem Lebensende.

Der Meister und sein Fliegenwedler

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Vom Ende der Endlosigkeit, oder die Entdeckung der Weltformel

Man kennt die Sprüche der G’scheithaferln zur genüge. Jeder Tag sei ein neuer Anfang, biete eine neue Chance, und immer wieder geht die Sonne auf … Ja, die Welt quillt über von Anfängen und Anfängerglück. Richtig fertig wird jedoch keiner von ihnen, weder mit seinem Leben, noch mit der Welt, noch mit seinem Weg, oder was auch immer er angepeilt hatte. Sie bleiben alle irgendwann und irgendwo auf der Strecke und nicht im Ziel … Schließlich vergaßen sie allesamt, dass, sobald es einen Anfang gibt, es zuvor auch ein Ende geben musste; denn ohne Ende gibt es keine neue Vorstellung, weder im Kino, noch im Leben oder irgendwo, ja, nicht einmal im nirgendwo … Ach, könnten wir nur einmal, was wir angefangen haben, nur irgendwann endgültig zu Ende bringen. Nicht einmal einen kleinen Gedanken vermögen wir so gültig zu beenden; weswegen wir auch beständig den gleichen Schmarren durchdenken … endlos …

Der Chef meinte mal, er sei das A und O, der Anfang und das Ende. Er muss wohl den Schlossgarten von Schleißheim schon gekannt haben, denn dort findet sich, das Ende der Welt. Und bei seiner Betrachtung fanden die apokalyptischen Reiter, nachdem sie alles niedergemäht und endgültig beendet hatten, so gründlich gar, das kein Anfang mehr möglich war, weil das Ende schon vor dem Anfang war …

Doch sehen sie selbst …

Fremd

Noch fremd © Matthias Mala

Noch fremd © Matthias Mala

Das Wort „fremd“ meinte in seiner ursprünglichen Bedeutung „fortsein“ oder „von etwas entfernt sein“. Fremd ist uns also, was uns nicht nahe ist. Ebenso sind wir Fremde, solange wir nicht nahe, nicht eingebunden sind. Fremdsein verliert sich darum rasch, sobald wir in der Fremde Gastfreundschaft erfahren oder in eine Gemeinschaft aufgenommen werden. Auch das Bekannte kann einen befremden, wenn es sich entfernt, indem es sich anders zeigt, oder wir es anders sehen. Wir kennen alle die seltsame Anwandlung, wenn wir zum Beispiel längere Zeit nicht zu Hause waren und uns bei der Heimkunft beim Blick auf das altbekannte Interieur, dieses sehr befremdet; es mutet uns ein wenig wie eine Traumwirklichkeit an.

Das Gefühl von Fremde ist ambivalent. Das Fremde vermag uns ebenso zu locken wie zu ängstigen. Das Fremdsein selbst scheint mal bedrückend, mal befreiend. In jedem Fall ist das Fremde eine Unterbrechung des Bekannten, es entrückt uns, fordert von uns Aufmerksamkeit, zwingt uns zur Auseinandersetzung mit ihm. Deswegen mögen wir das Fremde eigentlich nur, solange es sich – quasi nur ein wenig fremd ‑ im Erwarteten und Bekannten zeigt. Ist es hingegen ganz fremd, lässt es uns entweder wie kleine Kinder fremdeln oder wir neigen dazu, es zu übersehen, indem wir ihm mit unseren Vorurteilen begegnen und es uns so angenehm machen. Können wir ihm jedoch nicht ausweichen, setzen wir uns notgedrungen mit ihm auseinander, indem wir es abwägen und deuten. Dies ist ein Prozess der Aneignung, bei dem sich das Fremde zum Bekannten wandelt. Indem es für uns handbar und erklärbar wurde, haben wir das Fremde kennengelernt. Wer das Fremde kennt, fürchtet es nicht mehr. Weiterlesen

Seinsam sein

Seinsam © Matthias Mala

Seinsam © Matthias Mala

Ein Samenkorn. Woher, wohin? Nein, jetzt!

Jetzt: Vogelfutter, Mäusefraß und Saat. Und doch eine Abermillionen Jahre alte genetische Entwicklung und eine ebenso lange Zukunft. Auch das nur jetzt, solange es keimt, wächst, blüht und welkt und Samen streut. ‑ Und wieder nur ein Samenkorn …

Welch Weite, welch Herrlichkeit, welche Begnadung, dies zu sehen, zu spüren, zu atmen, zu denken, zu ahnen, zu erleben. Kein Versuch, diese Wahrnehmung einzufangen, einzuengen, einzuworten. Nein, hinaus in diese Weite schreiten, in diese Unbegrenztheit wehen, sich von ihr tragen lassen; hineinfallen, ohne abzustürzen; hineinsterben, um lebendig zu bleiben; hineinlieben, um heil zu sein.

Wie banal dagegen Worte aus dem Jetzt, um das Jetzt, das Sein, das Hier und Nichtdort einzukreisen, einzufangen, einzuengen, um sich gleich einem Pfeil, vom sirrenden Bogen ins Zentrum der Scheibe zu jagen. Im Treffpunkt verharrend, verwurzelnd, als gäbe es keine Bewegung mehr davor und danach. Als gäbe es nur ewiges Jetzt auf die Attosekunde[1] genau, als wäre Jetzt etwas anderes als aller Anfang und Ende, als das Alpha und Omega, das zeitlose Sein, als das sich Christus verstand (Offb 22,13). Als wäre Jetzt nicht ein ganzes Leben, gleichermaßen für die Eintagsfliege wie für die Welt.

Wie eng das Denken, das den Denker aus sich denken möchte, das sich selbst als Schein gedenkt und dabei so hart, so schwer wie ein Gebirge scheint. Unbeweglich auf sich selbst gewichtet, gleich dem Pfeil die Scheibe den Gedanken trifft, ihn aushöhlt und vernagelt, und dabei nur sich selbst erstickt, sich den Atem nimmt, um in sich selbst zu schweigen und jedes Leben aus sich zu hauchen.

So sind wir nicht, so sind wir leer, so leer wie Nichts und somit in aller Fülle, und ohne Ich und dennoch selbst, um der Selbstlosigkeit willen. So heil wie eitel. Und dergleichen Blubber mehr. Ein Schaumbad aus Worthülsen. Sinnentleert, doch schillernd wie Seifenblasen unterm Regenbogen. Schon im Denken platzend, Letztes sprühend, dann nur noch Luft. Luft ‑ kein Raum; eine Atmosphäre Druck auf Weggedachtes. Befreit, erwacht, erleuchtet. Ein Witz, ein Irrwitz ‑ nein kein Witz, nur tiefe Traurigkeit.

Da welkt nichts mehr, da keimt nichts mehr, da liegt ein Stein. Wind und Wetter zehren von seiner Unbeweglichkeit. Und erst, wenn das letzte Staubkorn von der Stelle wehte, kehrt sie ein, die Seinsamkeit …


[1] Attosekunde = eine trillionstel Sekunde

Gradus Mystica

Weihnachten © Matthias Mala

Weihnachten © Matthias Mala

Magie ist das Klingeln,
um Gott ins Gespräch zu zwingen.

Theurgie ist,
das Gespräch zu führen.

Weisheit ist,
zu Schweigen
und das Gespräch zu sein.

Wissen

Wissen © Matthias Mala

Wissen © Matthias Mala

Dass er weiß, dass er nichts weiß, zählte zu seinen Standardsätzen. Doch dafür wusste der Swami recht viel. So kannte er zum Beispiel die Abläufe der Reinkarnation; sah auf den ersten Blick, wer welchen spirituellen Grad erreicht hatte; war bewandert in allen Graden der Erleuchtung und vertraut mit den Weisen von Akasha, mit denen er sich im Geiste regelmäßig beriet. Er sprach viel zu seinen Adepten über all das, von dem er vorgeblich nichts wusste. Man lauschte ihm ehrfürchtig, auch wenn sich seine Botschaften nur wenig von dem unterschieden, was seit hundert und mehr Jahren von fernöstlichen Gurus zu uns getragen wurde. Ja, gerade weil sich seine Rede von deren kaum unterschied, waren seine Adepten davon überzeugt, dass er von den Meistern direkt inspiriert wurde.

Aus der steten Beschäftigung mit seinem Glauben entsteht häufig Glaubensgewissheit; dabei handelt es sich um eine Glaubensüberzeugung, die einem Wissen um das Geglaubte gleichkommt. Hierdurch wird der Glauben zur Wahrheit. Das Geglaubte wird für den Gläubigen objektiv und ist ihm fortan eine wahrnehmbare Größe in der Welt. Weiterlesen