Als das Kreißen meines Wahnsinns endete

High © M. Mala

Es musste etwas mit mir geschehen. Nur was? Jedenfalls ging es so nicht mehr weiter. Der ewige Kreislauf von Rückfall, kurzer Trockenphase und wieder Rückfall musste durchbro­chen werden. Nur wie? Drehte sich dieses Rad doch immer schneller. – Oder nicht? War nicht die letzte drogenfreie Spanne, die längste, die ich jemals durchlebte? Zehn saubere Monate.

Zehn schreckliche Monate. Jeden Tag fieberte ich nach der Droge. Alkohol, Schlafmit­tel, Speed, Tranquilizer, Haschisch, Heroin, egal was – jeden Tag und jede Stunde dachte ich daran. Dachte an die wenigen glücklichen Stunden mit der Droge und hoffte auf eine Gelegenheit, die es mir ermöglichte, Drogen zu nehmen. Hoffte auf ein Geschehen, das schrecklich genug war, um Verständnis für meinen Rausch in den Augen der anderen zu finden. Und so forderte ich das Schicksal heraus, mich zu schlagen, und wünschte mir jede Unbill herbei. Ja, ich spielte sogar mit Leib und Leben meines kleinen Sohnes. Setzte ihn so manches mal offenen Auges einer Gefahr aus, und verbrämte meine bitterböse Hoffnung auf ein Unglück mit der pädagogischen Bauernweisheit: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Doch das Schicksal schlug mich nicht. Und so widerstand ich Tag um Tag meinem wü­tenden Suchtdruck. Und jede Nacht, die ich mich sauber zu Bett legte, empfand ich Freu­de darüber, widerstanden zu haben; doch zugleich verwünschte ich den vergangenen Tag, der mir nur als anhaltender Schmerz und fortwährendes Elend erschien. Und in mir wuchs die dürstende Trauer, keine Drogen mehr nehmen zu können. Doch ich widerstand.

Ja, ich widerstand, weil ich um mein Leben fürchtete. Endete doch der letzte Rückfall mit einer Überdosis auf der Intensivstation. Und ich wusste, bereits der nächste Rausch könnte tödlich sein. Also quälte ich mich angstvoll, nach der Droge fiebernd, von einem Tag zum anderen und hoffte auf einen Anlass, einen Grund, mit dem ich den ersehnten Rausch hätte rechtfertigen können. Doch dieser Anlass stellte sich nicht ein und zugleich erinnerte ich mich der Worte meiner Freunde in der Selbsthilfegruppe: Es gibt keinen Grund, Drogen zu nehmen, außer du willst es.

Wollte ich es? Ja, ich wollte es! Und der Suchtdruck, mein quälendes Verlangen nach Drogen, wuchs. Obwohl längst entzogen litt ich unter heftigen Entzugssymptomen. Meine Muskeln und Glieder schmerzten mir und meine Gedanken verengten sich auf die eine Fra­ge: Holst du dir Stoff oder nicht? Auf Schritt und Tritt betete ich sie mir paternosterartig vor und schob zugleich besinnungslos die Antwort hinterher: Heute nicht! – Denn noch war mei­ne tödliche Furcht vor der Droge um ein Quentchen größer als meine Gier.

Doch es kam der Tag, da mein unstillbares Verlangen einen Deut mächtiger war als meine Todesangst. Es war ein ganz normaler Herbsttag, mild und sonnig. Und es gab kein­en Anlass. Kein erhoffter Schrecken war eingetreten. Es gab keinen Grund, Drogen zu neh­men. Nur ich wollte es. Und so verließ ich den Weg. Bog nach links ab. Ging in den Park und kaufte mir Haschisch. Ich hatte den Kampf verloren. Doch hatte ich auch kapituliert?

Nein! – Der langersehnte Rausch war fürchterlich. Nichts von dem erträumten Genuss, nichts von der ersehnten Leichtigkeit. Scham und tiefe Niedergeschlagenheit machten mich frösteln. Grauer kalter Rausch. Ich hatte mein Leben wieder einmal aus der Hand gegeben. Jetzt führte mich erneut die Droge. Und ich saß abermals auf dem alten Karussell. Dem Haschisch folgten Tabletten, den Tabletten Heroin und dem Heroin wiederum Alkohol. Und voller Schreck griff ich wieder zum Haschisch, und eine weitere Runde begann. Und von Runde zu Runde drehte sich das Drogenkarussell schneller und schneller. Es war kein Hal­ten mehr, längst schlitterte ich wie gehabt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Und wieder hoffte ich. Hoffte, das Karussell möge niemals anhalten, und zugleich wünschte ich mir, abspringen zu können. Meine Zerrissenheit war dieselbe wie wenige Tage zuvor, als ich meine Trockenheit verwünschte. Nur war ich jetzt auf der dunklen Seite, stand ohnmäch­tig unter dem Diktat der Droge und hoffte, irgendwer, irgendwas möge mich erlösen. Doch nur wer oder was sollte das sein? Und wünschte ich auch wirkliche Erlösung, oder wollte ich nur eine Pause? Eine weitere qualvolle Pause, bevor das Elend seinen Fortgang nähme? Tief in mir spürte ich, dass meine Hoffnung mich trog. Verlängerte sie doch nur mein Leiden. Doch wie anders? Es musste doch einen Ausweg geben. Ist Hoffnung denn nicht an jeder Straßenecke wohlfeil? Hofft nicht ein jeder auf Besserung seiner Lebensumstände? Und würde ich alle Hoffnung fahren lassen, wäre ich dann nicht gewiss gänzlich verloren?

Doch auf was hoffte ich denn wirklich? Um dies zu erkennen, musste ich erst einige Monate sauber sein. Erst dann sollte mir klar werden, wie unberechtigt und trügerisch meine Hoffnungen waren; wie ich mir durch sie den Weg in die Sauberkeit verbaute. So wünschte ich mir, als ich Qualen mit der Droge litt, voll Inbrunst, jemand möge kommen und mich ans Licht führen. Ein guter, weiser Mann sollte es sein. Ein verständnisvoller Vater, der mich be­hüten und mir mit mildem Tadel die Droge aus der Hand nehmen würde, sobald ich rückfäl­lig werden würde. Mit gütigen Augen sollte er über meine Sauberkeit wachen. Aber was wäre gewesen, hätte das Geschick mir eine solche Person an die Seite gestellt?

Ich hätte sie ebenso belogen und betrogen wie all jene, die an mich geglaubt und mit mir gehofft hatten. Und deren gab es viele im Laufe meiner Drogenkarriere. Eltern, Ver­wandte, Vorgesetzte, Psychologen und nicht zuletzt meine Frau. Welch traurige Geschich­ten etwa erzählte ich den um mich bemühten Psychologen der Drogenberatung. Wieviel Verständnis brachte er für mich auf, ja manchmal weinte er sogar mit mir. Und doch war alles nur Mache, windiges Theater meinerseits. Kaum hatte ich ihm den Rücken gekehrt, wähnte ich mich so weit geläutert, eine weitere Runde mit der Droge drehen zu können. Außerdem sah ich in ihm wie in allen anderen, die noch nicht resigniert hatten, eine Rück­versicherung, mit deren Hilfe ich auch den nächsten Rückfall noch überstehen vermochte. Sie alle waren mein Joker, den ich in tiefster Not ziehen konnte. Der Funke Hoffnung in ihren Augen, wurde mir zur Gewissheit, dass ich noch nicht verloren war, dass ich noch eine Chance mit der Droge hatte.

Dabei hatte ich längst alle Chancen verspielt. Mein Hoffen war in Wirklichkeit ohne Zu­versicht. Es war nur ein billiger Zauber, mit dem ich meinen Rausch bemäntelte. Im Grunde meines Herzens aber war ich hoffnungslos und zehrte nur noch von der Hoffnung der ande­ren. Ich war auf der Flucht vor mir selbst, und meine windigen Hoffnungen waren meine Fluchthelfer: Hoffnung auf den weisen Vater; Hoffnung auf ein mich veränderndes Gesche­hen; Hoffnung auf Wandlung durch Eingebung; Hoffnung, doch endlich einmal kontrolliert Drogen konsumieren zu können. All diese wirren Hoffnungen hatten nur den einen Zweck, meinen Blick von mir, von dem was jetzt war, abzulenken und ihn auf ein unbestimmtes Ziel zu richten, zu dem ich mir Mächtigkeit über die Droge zusprach. Und so verschob ich auch meine Verantwortung für mich selbst immer wieder auf einen nächsten Tag oder gab sie an­deren anheim. Letztere Möglichkeit zerstob, als sich auch meine Frau, der einzige Mensch, der noch an mich und meine leeren Versprechungen glaubte, von mir abwendete. Es war in der zweiten oder dritten Woche meines Rückfalles. Ich jobte damals als Nachtwächter. Zu mehr war ich nicht mehr fähig. Ich hatte Wochenenddienst in einer Notrufzentrale. Das be­deutete, ich musste ein paar auflaufende automatische Alarmmeldungen entgegennehmen und weiterleiten. Dazu saß ich 60 öde Stunden allein in einem hässlichen Keller vor einigen Telefonapparaten und einem Karteikasten. Zuvor hatte ich mich reichlich mit Haschisch ein­gedeckt und paffte nun ein Pfeifchen nach dem anderen. Am Samstag Nachmittag besuchte mich meine Frau. Sie musste mich nur ansehen, um zu wissen, was mit mir los war. Und als ich anhob, zu erklären und das abgenudelte Lied von „Morgen höre ich auf“ zu singen, wink­te sie nur mit Tränen in den Augen ab. Nein, ich musste ihr nichts mehr vormachen. Der Fun­ke Hoffnung, den ich bislang in Ihren Augen stets aufs neue anzufachen vermochte, war er­loschen. Mach was du willst, mach weiter so und erzähle mir nichts mehr, meinte sie. Dann ging sie. Sie sagte es ohne Drohung und ohne Vorwurf. Sie sagte es ohne jegliche Hoffnung mehr für mich. – Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Doch es gibt keine hoffnungslo­sen Fälle. Solange ein Süchtiger noch in den Schuhen steht, hat er auch die Chance, sauber zu werden. Auch, oder gerade dann, wenn er die­se Chance offensichtlich nicht mehr hat. Dies ist gewiss paradox. Doch egal, mir widerfuhr dieses Paradoxon, so wie es Abertausenden meiner suchtkranken Schicksalsgefährten widerfuhr; ist doch die Suchtkrankheit in sich widersprüchlich. Ich will, und ich will nicht! Das ewige Gezerre, gleich­gültig auf welcher Seite der Medaille ich mich just befinde. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu tragen: Entweder drogenfrei in seliger Nüchternheit oder mit als auch ohne Drogen in bitterer Verzweiflung. Und es war abgrund­tiefe Verzweiflung, die mich überkam, als ich alleine zurückblieb.

Mechanisch drehte ich mir einen Joint. Doch der Rausch brachte keine Linderung mehr. Er war nur kalt und grau. Ich weinte. Zugleich aber spürte ich, dass jede Träne eine Lüge war. Verlogenes Selbstmitleid, mit dem ich mich selbst beeindrucken wollte. Doch ich war mir ein schlechtes Publikum, schließlich durchschaute ich mein windiges Spiel. Die Ver­zweiflung über mich und mein Schicksal brannte mich aus. Wünschte ich mir Sauberkeit herbei, schmerzte mich der absehbare Verlust der Droge, und sehnte ich mich nach einer Fortsetzung meines Daseins mit der Droge, litt ich unter der Aussichtslosigkeit dieser Per­spektive. Es war pure, nackte Verzweiflung die mich schüttelte. Zwei verworfene Fälle. Ich kannte nur diese beiden Alternativen, Droge oder nicht Droge, und die eine wie die andere erschien mir nicht lebenswert. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich saß in der Falle. Als ich den nächsten Joint ansteckte, wurde mir mit einem Male ganz deutlich: Das ist es! Das ist dein Leben. So wird es bleiben. Drogen, Drogen und nochmals Drogen. Vielleicht mal eine kurze, zufällige Strecke der Sauberkeit, mehr nicht. Ansonsten elender Rausch bis zum Ende. Und das Ende, auch das sah ich, war nicht mehr weit. Jedenfalls war ich gesundheitlich schwer angeschlagen. Vielleicht noch zwei, höchstens drei Jahre, schätzte ich. Sofern keine Über­dosis das ganze beschleunigte. Und die Gefahr einer Überdosis war allein von den konsu­mierten Mengen her latent. Ja, das war es. Das ist Sucht. Und du bist süchtig. Es war so schrecklich banal und so mitleidlos gewiss. Ich hatte keine Chance mehr!

Es wurde kalt und still um mich. Ich litt nicht mehr. Meine Verzweiflung war gewichen. Ich hatte mich der dunklen Seite übergeben. Es gab nur noch diesen einen Fall, nur diese eine Möglichkeit, auch wenn sie verworfen war, ebenso verworfen wie mein Leben. Aus­sichts­los, kalt und dunkel.

In meiner Verlassenheit rauchte ich mehr Haschisch, als ich zu Beginn meines Wo­chen­enddienstes abgeschätzt hatte. Sonntag mittag ging mir der Stoff aus. Ich hatte kein Geld mehr. Sollte ich an der nahen Tankstelle auf Pump Alkohol kaufen? Oder wäre es bes­ser ihn zu stehlen? Oder sollte ich die Kasse im Büro des Geschäftsführers aufbrechen? Ich dachte nicht mehr daran, aufzuhören. Ich dachte nur noch an Stoff, tieftraurig und müde. Ich schaute auf den zertretenen Rasen vor dem Haus, der als Hundeklo diente. Starrte auf das schmutzige Herbstlaub auf dem Pflaster und spürte das Fieber des sich ankündigenden Entzuges. Alkohol? Nur keinen Alkohol, dachte ich mir, du bringst dich um damit. Doch wie sollte ich an Haschisch kommen? Ich sah, wie sich der Paternoster in meinem Kopf, die immer wiederkehrende Leier, zu drehen begann. Und ich sah mich zugleich in dem herbst­feuchten Schlamm vor dem Fenster liegen: Niedergeschlagen von der Droge, die wie ein mächtiger Schatten über mir stand. Ich wollte aufstehen, doch alle Glieder schmerzten mir. Und ich wusste, wenn ich aufstünde, würde ich wieder einen Schlag erhalten, der mich zu Boden streckte – und so würde es unablässig weitergehen, bis ich endgültig liegen bliebe. Die Außenwelt trat zurück, und nur noch dieses Bild war in aller Klarheit vor mir. Gnadenlos, Schlag um Schlag würde ich von der Droge auf die Bretter gestreckt werden … bis ich end­gültig ausgezählt werden würde. Ich war zu müde, mich noch zu wehren, und so blieb ich liegen.

Eigentlich wollte ich nur um eine kleine Verschnaufpause bitten, bevor ich den Kampf wieder aufnehmen würde. Doch ich merkte, dass ich verschont wurde, solange ich liegen blieb. Streckte ich aber meinen Kopf wieder in die Höhe und stimmte die alte Leier „Stoff, ja oder nein?“ wieder an, so sah ich, wie sich der tiefschwarze Schatten, die Droge, in Positur stellte, um mir einen weiteren Niederschlag zu verpassen. Also blieb ich liegen.

Der Entzug machte sich mittlerweile deutlich bemerkbar. Ich kannte dieses Spiel zur Genüge. Was soll’s, dachte ich mir, auch das wirst du überstehen. Versuchst du es halt noch einmal, und reihst dich wieder ein ans Ende der Schlange. Doch diesmal hatte ich kei­ne Hoffnung mehr und keine Zuversicht, ich wollte einfach nur keine weitere Prügel mehr beziehen. Am Montag früh schlurfte ich zitternd, fiebernd und krumm vor Entzugsschmerzen nach Hause. Seither habe ich mich, um im Bild zu bleiben, nicht mehr von den Ringbrettern erhoben. Ich habe den Kampf verloren, die Droge ist stärker als ich. Ich habe kapituliert. Zum ersten Mal hatte ich die Verantwortung für mich selbst übernommen, indem ich das Handtuch für mich warf.

Freilich sollte ich erst einige Tage später wirklich erfahren, was an jenem Sonntag mit mir geschehen war. Es war an einem jener unvergleichlich schönen Oktobertage, zu denen die milde Sonne das bunte Laub zum glühen bringt und Blumen in lauschigen Winkeln zu später Blüte anregt. Ich ging durch ein tristes Industriegelände auf die Straßenbahn zu. Auf einer einsamen Plakatwand wuchs ein frisch eingeschenktes Pilsglas in einen gleichfalls strahlenden Oktoberhimmel. Ich sah das Plakat und im selben Moment traf mich mit unge­heurer Wucht ein so noch nie dagewesener Suchtdruck. Mir verschlug es den Atem. Die glitzernden Tauperlen auf dem abgebildeten Glas taten ihr übriges. Versprachen sie doch kühles Labsal und sanfte Linderung des mich heftig schüttelnden Fiebers. Am liebsten wäre ich mit einem Satz in die Plakatwand gesprungen, um dieses Bier in einem Zug zu leeren. Da war er also wieder der gefürchtete Suchtdruck, und schon drehte sich gebetsmühlenartig die immergleiche Frage in meinem Hirn: Holst du dir was, oder nicht? Doch in dem Augen­blick, da ich beginnen wollte über eine Antwort auf diese Frage nachzusinnen, fühlte ich mich absolut hilflos und unfähig, den Gedanken aufzunehmen. Welche Antwort sollte ich finden? Gleichgültig ob Ja oder Nein, jede Antwort wäre falsch gewesen, hätte das altbe­kannte Karussell wieder in Bewegung gesetzt. Was hatte ich hier zu entscheiden? Nichts! Ich war knockout, hatte aufgegeben und lag nach wie vor auf den Brettern. Sollte ich etwa wieder aufstehen? Nein. Aber was sollte ich tun? Nichts – mir fiel nichts ein!

Also tat ich nichts. Ich folgte dem Gedanken nicht. Ich bemühte mich um keine Ant­wort. Ich tat nichts, denn ich sah, ich konnte nichts tun. Ich konnte keine Entscheidung tref­fen, denn ich selbst war das, was mich da umtrieb. Es war die Sucht, und ich bin süchtig.

Ich ging wie betäubt weiter. Erst als ich die Straßenbahninsel erreichte, kam ich all­mählich wieder zu mir. Es fehlte mir nichts, ich fühlte mich wohl. Mit einem Male begriff ich, dass ich noch vor wenigen hundert Metern einem unglaublichen Suchtdruck ausgesetzt war, und jetzt? Jetzt war nichts. Kein Verlangen, keine in sich kreisenden Gedanken, nichts von alledem, was vormals einem Suchtdruck folgte. Es war das erste Mal, dass ich auf einen Suchtdruck hin mir keinen Stoff beschaffen musste. dass ich nicht die Frage „Holst du dir was, oder nicht“ solange stumpfsinnig wälzte – selbst wenn es wie vordem zehn Monate währte – bis ich erschöpft nach der Droge griff und dem quälenden Suchtdruck so sein fol­gerichtiges Ende setzte. Der Suchtdruck, der mir noch vor wenigen Minuten, die Knie schlottern ließ, war vorbei. Aber was hatte ich dafür getan? Nichts?

Ja, in der Tat hatte ich nichts getan. Aber eben dieses Nichtstun war meine große Tat gewesen. Sie forderte viel mehr von mir als jede billige Entscheidung. Sie forderte Aufgabe. Völlige Passivität. Gleichwohl war dieses Passivsein von höchster Aktivität. In ihr war keine Trennung zwischen mir und meinem Erleben. Ich hob mich nicht mehr über mich, eilte mir nicht mehr davon, und öffnete mich so für ein Geschehen, das in mir alle Zweifel einte. Für einen Augenblick war ich heil gewesen. Und in diesem Heilsein hatte ich mich gewandelt. Es war ein Vorgang von höchster Spiritualität. Ich hatte mit meinem Herzen begriffen, was ich zuvor nur mit meinem Verstand zu fassen versuchte: Ich bin süchtig.

Dieses Geschehen, dem ich mich durch meine Aufgabe öffnete und in vollkommener Aufmerksamkeit hingab, lässt sich mit Worten eigentlich nicht beschreiben; denn es war ein Wirken, das sich jenseits meines Verstandes vollzog. Gleichwohl versuche ich an dieser Stelle, diesen Prozeß zu umschreiben. War er doch ein Damaskuserlebnis, in dem ich mich gewissermaßen vom Saulus zum Paulus wandelte, und das fortan meine Sauberkeit be­gründete. Es bewirkte kein bedachtes, willentliches Handeln, sondern Wahrnehmung und Handlung waren eins. Ich sah den Suchtdruck, sah meine Zwiespältigkeit, sah meinen ver­zweifelten Drang mich für eine Seite zu entscheiden und sah meine Hilflosigkeit keinen Aus­weg zu finden. All dies einte sich in meiner Wahrnehmung und wurde zu einer Wahrheit, die zugleich die Handlung bedingte. Diese Handlung aber war nicht meine Handlung, sondern Ausdruck der durch mich wirkenden Wahrheit. – Seitdem erlebe ich mein Süchtigsein nicht mehr als Zwiespältigkeit, sondern als eine Einheit, in der Licht wie Schatten, Sauberkeit und Droge, sich zu einer sich wechselseitig durchwirkenden neuen Dimension weitern. Und seit­dem lebe ich in einem nüchternen Gleichgewicht und bin sauber, ohne dass ich mir diese Sauberkeit als meinen Verdienst zurechnen möchte.

Allerdings hätte dieses Geschehen keinen großen Wert, wenn es nur ein einmaliger Vorgang geblieben wäre. Denn dann würde mir seine spirituelle Intensität zur Erinnerung, um die ich mich bemühte, um aus ihr die geistige Kraft für meine Sauberkeit zu ziehen. Die­ser erinnerten Kraft fehlte jedoch ihre Lebendigkeit, und sie würde von daher mit der Zeit verblassen, so wie in mir auch der Eindruck dieses Geschehens an Stärke verliert. Folglich bemühe ich mich darum, diesen Prozeß in meinem sauberen Alltag zu fördern, indem ich diesen Schritt der Aufgabe und Öffnung ein ums andre Mal wiederhole. Wobei es an Gele­genheiten hierfür in meinem wie auch in keinem anderen Lebensplan mangelt.

Eine erste Maßnahme hierzu ist, mich vor Enttäuschungen zu schützen. Schließlich falle ich gerade durch die verschiedensten Formen der Enttäuschung in jene gefährlich labilen Gemütslagen, in denen ich vor Trauer und Selbstmitleid am Sinn meiner Sauberkeit zu zweifeln beginne. In solch depressiver Zerrissenheit aber gewinnen die unheilvollen Strukturen meiner Suchtkrankheit wieder Oberhand, und die Möglichkeit, Trost in der Droge zu suchen, erschiene mir plötzlich wieder bedenkenswert. Freilich bedingt jede Enttäusch­ung auch, dass ich mich zuvor getäuscht habe beziehungsweise täuschen ließ. Folglich muss ich mich vor jeglicher Täuschung hüten, was von mir besondere Bedachtsamkeit für mein Tun und lassen erfordert. Das bedeutet allerdings nicht, stets nur die schlechteste Möglich­keit als Folge meines Handelns anzunehmen, um womöglich später in angenehmer Weise ent­täuscht zu werden. Eine solche negative Einstellung nämlich wäre für mich ebenso ver­häng­nisvoll wie lähmend. Nein, was mir hilft, Täuschungen zu vermeiden, ist Achtsamkeit. Acht­samkeit für diesen Tag. Denn dieser Tag ist mein ganzes Leben. Nur heute kann ich gültig darüber entscheiden, ob ich mein sauberes Leben fortsetzen möchte. Nur heute kann ich das umgehen, was meiner Sauberkeit hinderlich ist, und nur heute kann ich mich aktiv um meine Sauberkeit bemühen.

Was aber über diesen Tag, diese 24 Stunden, hinausreicht, liegt nicht mehr in meiner Hand. Sicher setze ich auch heute Impulse, die in die Zukunft hineinwirken, aber Zeit zum Handeln habe ich immer nur heute. Und solange ich mir hierbei aufmerksam folge, kann ich auch erkennen, wie ich durch kleine oder große Hoffnungen und Wünsche den Keim der Täuschung setze, dessen Frucht schlussendlich der Schmerz der Enttäuschung sein wird. Und so entdecke ich auch in meinem sauberen Alltag das gleiche Prinzip wieder, das zu Be­ginn meiner Sauberkeit wirkende Voraussetzung war: lasse deine Hoffnungen fahren und trage deine Verzweiflung, so einst du dich mit dem was ist und gelangst zu unzweifelbarer Handlung. Damit allerdings diese Einigung, dieses geistige Heilsein, geschehen kann, muss ich mich ein ums andere Mal von meinen Vorstellungen und meinem Wollen lösen und mich bescheiden. Dieses Bescheiden aber verlangt Demut und Aufgabe von mir, nur dann kann sich fügen, was meine Sauberkeit erhält und was ich mit aller gebotenen Scheu als spirituel­le Führung bezeichnen möchte.

Mithin bemühe ich mich alltäglich um mein inneres wie äußeres Gleichgewicht, was mir freilich nur gelingt, solange ich nicht erneut vor mir und dem Was ist fliehe. Und gerade in diesem Zusammenhang, wird von Nichtbetroffenen oder noch akut erkrankten Süchtigen bemängelt, dass eine solche Lebensführung, die so gut wie alle Hoffnung negiert, wohl kaum eine tröstliche Alternative sei. Nun, ich lebe in dieser „Hoffnungslosigkeit“ und muss sagen, dass ich sie heute nicht mehr gegen eine andere Lebenssicht und Lebensweise tauschen möchte. Denn nur durch ebendiese grundlegende Lebensführung fand ich zu mir und lebe heute in einem von jeder äußeren Bedingung unabhängigen inneren Frieden, von dem ich niemals zu träumen vermochte. Zugleich wäre es ein Irrtum, anzunehmen, jede Art von Hoffnung sei verwerflich, da diesen Frieden gefährdend. Es liegt also an mir, zwischen be­rechtigter und unberechtigter Hoffnung zu unterscheiden. Als unberechtigt empfinde ich all­ein jenes Hoffen, bei dem ich Hilfe und Entscheidungen für mich, die ich mir grundsätzlich nur selbst gewähren kann, von anderen erflehe; so kann mir etwa keine wirksame Hilfe von außen zuteil werden, solange ich mich vornehmlich nicht selbst um meine eigene Sauber­keit sorge. Für berechtigt aber erachte ich all solches Hoffen, bei dem mir notwendigerweise Hilfe von außen zuteil werden muss, damit ich mein Geschick weiter formen kann. Dies mag beim erwünschten Wetter beginnen und muss nicht nur bei der Erwartung freundschaftlichen Zuspruchs in der Not enden. Aus dieser Einsicht resultiert eine meine Sauberkeit bedingen­de Lebensweise, die ich als „Leben mit vollem Risiko“ umschreiben möchte. Damit meine ich, dass ich jederzeit für grundlegende Änderungen in meinem Leben offen bleibe. Was ich bin, was ich habe, empfinde ich nur als geliehen. Ich kann nichts davon festhalten, gleich­wohl bleibe ich bemüßigt, es achtsam zu hüten. Steht es mir doch nicht an, die wertvollen Leihgaben zu meiner Sauberkeit zu verschleudern. Andererseits bewahre ich mir gerade so die Fähigkeit, mich jederzeit auch von scheinbar unverrückbaren Dingen und Werten lösen zu können, sobald ich dies als Forderung an mich und meinen weiteren Weg der Genesung erkenne. Weiß ich doch mittlerweile, das dieser Weg der Genesung, dieser Pfad der Sau­berkeit ohne Ziel und ohne Ende ist. Es obliegt mir nur, auf ihm voranzuschreiten und nicht zu rasten, solange ich Rückschritte vermeiden möchte. Und so kann jeder Tag für mich zur Erfüllung werden, sobald ich mich ihm mit meinem ganzen Geschick hingebe. Gelingt es mir, bin ich dem wahren Leben nahe. Ich werde wach. In diesem wachen Sohiersein aber erwächst die Kraft zur Handlung. In ihrer Stärke liegt zugleich ein Anruf, der mir zum eini­genden Impuls wird, aus dem heraus sich durch mich mein weiterer Weg formt. So handele ich aus einem tiefen übergreifenden und alles verbindenden Verständnis heraus, durch des­sen Wirken sich letztlich auch jede Hoffnung erübrigt.

So geschah, was ich nicht mehr erhoffen konnte. Der Funke Sauberkeit sprang auf mich über und ich gab mich ihm zur Nahrung, auf dass er zur Flamme werden konnte. Und diese Flamme wurde mir zum Licht. Nun liegt es fürderhin an mir, dieses Licht zu hegen und zu nähren. Hierzu bin ich stets aufs neue gefordert, Ballast abzuwerfen und meine Seele sei­nem reinigenden Feuer auszusetzen. Unterließe ich es, würde ich diese heilsame Flamme ganz allmählich mit meiner Last ersticken.

Fremd

Noch fremd © Matthias Mala

Noch fremd © Matthias Mala

Das Wort „fremd“ meinte in seiner ursprünglichen Bedeutung „fortsein“ oder „von etwas entfernt sein“. Fremd ist uns also, was uns nicht nahe ist. Ebenso sind wir Fremde, solange wir nicht nahe, nicht eingebunden sind. Fremdsein verliert sich darum rasch, sobald wir in der Fremde Gastfreundschaft erfahren oder in eine Gemeinschaft aufgenommen werden. Auch das Bekannte kann einen befremden, wenn es sich entfernt, indem es sich anders zeigt, oder wir es anders sehen. Wir kennen alle die seltsame Anwandlung, wenn wir zum Beispiel längere Zeit nicht zu Hause waren und uns bei der Heimkunft beim Blick auf das altbekannte Interieur, dieses sehr befremdet; es mutet uns ein wenig wie eine Traumwirklichkeit an.

Das Gefühl von Fremde ist ambivalent. Das Fremde vermag uns ebenso zu locken wie zu ängstigen. Das Fremdsein selbst scheint mal bedrückend, mal befreiend. In jedem Fall ist das Fremde eine Unterbrechung des Bekannten, es entrückt uns, fordert von uns Aufmerksamkeit, zwingt uns zur Auseinandersetzung mit ihm. Deswegen mögen wir das Fremde eigentlich nur, solange es sich – quasi nur ein wenig fremd ‑ im Erwarteten und Bekannten zeigt. Ist es hingegen ganz fremd, lässt es uns entweder wie kleine Kinder fremdeln oder wir neigen dazu, es zu übersehen, indem wir ihm mit unseren Vorurteilen begegnen und es uns so angenehm machen. Können wir ihm jedoch nicht ausweichen, setzen wir uns notgedrungen mit ihm auseinander, indem wir es abwägen und deuten. Dies ist ein Prozess der Aneignung, bei dem sich das Fremde zum Bekannten wandelt. Indem es für uns handbar und erklärbar wurde, haben wir das Fremde kennengelernt. Wer das Fremde kennt, fürchtet es nicht mehr. Weiterlesen

Vampirismus

Vampir © Matthias Mala

Vampir © Matthias Mala

Vampire waren in den Mythen zu allen Zeiten gegenwärtig; schließlich geschahen zu jeder Zeit blutige Grausamkeiten, hinter denen die Menschen einen blutrünstigen Geist vermuteten, der zwanghaft umging: der Untote, der Wiedergänger, der Vampir. Heutzutage erschaffen wir uns einen neuen Vampirmythos, nämlich den des smarten Vampirs, des verzweifelten Schönlings, der daran leidet, dass er seiner Natur nicht entfliehen kann. Vampirromane dieses Typs verkaufen sich mehr als gut. Mittlerweile avancieren auch bissige Frauen zu Protagonisten. Für Kinder gibt es ja schon seit gut drei Jahrzehnten die Mär vom kleinen vegetarischen Vampir als Gutenachtgeschichte. Somit haben warmduschende Vampire einer Generation das Gruseln gelernt und einen Mythos vergegenwärtigt, der sich von der Anbindung an Bluttaten vergangener Epochen scheinbar abgelöst hat. Das heutige millionenfache Morden rund um den Globus hat aus unserer aufgeklärten Sicht demnach nichts mehr mit den Wiedergängern von einst gemein; es mutet uns vielmehr wie ein Stück Wirklichkeit an, das in keiner Anderswelt verankert ist. ‑ Meint man! Weiterlesen

Unpolitisch sein

Konsens im Dissens © Matthias Mala

Konsens im Dissens © Matthias Mala

Sein Garten war sein Refugium. In ihm zog er Gemüse und Blumen, meditierte und diskutierte mit seinen Schülern. Es war ein schönes Stück Land vor der Stadt, ein wahrer Hort der Einkehr – ja, beinahe ein heiliger Ort. Seine Peperoni, die er dort erntete, machten ihm besondere Freude. Klärte doch ihre Schärfe immer wieder aufs neue seinen Geist und Leib. So verbrachte der Meister viele gute Jahre in seinem Haus und Garten.

Irgendwann jedoch nahmen Bauträger seinen Grund ins Visier. Man machte ihm ein Angebot, das er ablehnte. Man erhöhte das Angebot, was er wiederum zurückwies, da er seinen Garten nicht aufgeben wollte und ihm das angebotene Geld nichts bedeutete. Also griffen die Baulöwen zu unlauteren Methoden und vergälltem ihm das Leben in seinem Refugium derart, dass er schließlich aufgab und in die Stadt zog. Weiterlesen

Alles dir gilt mir

liebevolle Vernachlässigung © Matthias Mala

liebevolle Vernachlässigung © Matthias Mala

 Ihr Kind sollte es einmal besser haben als sie. Sie war im Waisenhaus aufgewachsen, kam dann zu Verwandten, die sie nicht mochten, aber aufnahmen, weil sie Geld für die Pflege bekamen. Entsprechend trost- und lieblos war ihre Kindheit und Jugend. Bald nach der Geburt ihres Kindes trennte sie sich von seinem Vater und entzog ihm das Kind, denn sie wollte es ganz für sich alleine. Es war ihr Schmuckstück, das sie behütete und an dem sie sich immer wieder erneut ergötzte. Da konnte sie keinen Vater gebrauchen, der das Kind von ihr ablenkte und zur Eigenständigkeit anhielt. Nein, sie wusste stets, was das beste für ihr Kind war, und das war vor allem, seinen Launen zu entsprechen.

So wuchs ihr Kind ohne Einschränkungen auf, jede Schwierigkeit wurde ihm aus dem Weg geräumt und jeder Wunsch wurde ihm von den Augen abgelesen. Als es in der Schule zu sehr gefordert wurde, weil es immer unausgeschlafen zum Unterricht kam, nahm sie es lieber von der Schule, anstatt feste Schlafzeiten einzurichten. Als es in der Ausbildung versagte, nahm sie das Kind ganz nach Hause, damit ihr die Welt nicht weiter übles antun konnte. So lebte das Kind scheinbar seine Freiheit, doch in Wirklichkeit verwirklichte es nur die Vorstellung seiner Mutter von einer unbeschwerten Jugend – es wurde zu deren fleischgewordenem Traum. Entsprechend eigenartig und launisch verhielt es sich auch zu seiner Mitwelt. In der Folge wurde das mittlerweile erwachsen gewordene Kind immer einsamer und neigte zunehmend der Mutter zu, und diese ließ es nicht los. Weiterlesen