Die einen suchen sie auf, die andern fliehen vor ihr

Einsamkeit hat viele Gesichter und viele Ursachen. Mal ist sie heilsam, mal ungesund, und sie kann auch tödlich sein. Wir wissen vom Einsiedler, der mit sich allein die mystische Vereinigung mit Gott anstrebt; wir hören von Gefangenen, die durch strikte Einzelhaft psychisch vernichtet werden; wir belassen die Soziopathen in ihrer verderblichen Isolation. Letztlich haben wir alle selbst irgendwann einmal Einsamkeit durchlitten, die mal Verlassenheit, mal Unverständnis, mal Unwillen, mal Ab- oder Ausgrenzung war. Die Gründe hierfür sind so vielfältig wie das Leben. Alter, Krankheit, Armut, Scheu, Anderssein, Depression, Menschenfeindlichkeit, Ichsucht und Selbstverliebtheit sind nur einige davon.
Zwar wird Einsamkeit überwiegend als ein bedrückender Zustand empfunden, dem man möglichst schnell entfliehen möchte – wir sprechen dann gerne von Vereinsamung. Doch gibt es auch beglückende Momente von Einsamkeit, die freudig gesucht werden. Diese Art der Einsamkeit nennen wir dann Klausur (heute eher »Retreat«) und meinen damit eine Phase der Zurückgezogenheit, an deren Ende wir geistig und seelisch erholt in unseren Alltag zurückkehren.
Disstress und Eustress
Einer Klausur muss allerdings nicht immer eine Weile der Überforderung, der Hektik oder Ablenkung vorausgegangen sein, weswegen wir dem Disstress entfliehen möchten. Eine Klausur, kann ebenso ein freiwilliger Rückzug sein, um dem Eustress, der positiven Herausforderung zu begegnen. Manch einer macht sich zum Beispiel auf, die Erde alleine und ohne Halt zu umsegeln. Allerdings begehen die wenigsten ein solches Abenteuer stillschweigend, also wirklich für sich allein, vielmehr vermarkten sie ihre Einsamkeit, noch ehe sie begonnen hat. Das gilt auch für so manchen, der die Einsamkeit der Exerzitien sucht. Noch ehe er die frugale Besinnung bei Stille und Gebet in einem Kloster pflegt, lässt er sich ob seines Vorhabens bereits im Vorfeld bewundern und weiß danach Sensationelles von den Wandlungen seines Gemütszustandes zu berichten. Indessen ist nicht jede freiwillig auferlegte Einsamkeit eine narzisstische Stärkung; häufig genug ist die gewollte Klausur die notwendige Voraussetzung, um einen forschenden Geist weiden zu lassen – dies gilt für den »Kopfarbeiter« ebenso wie für den Mystiker.
Einsamer Geist
Ihre Einsamkeit ist jedoch nur ein halbes Vergnügen. Gewiss ist die Möglichkeit des Rückzugs angenehm, um ungestört eigene Gedanken entwickeln zu können. Andererseits ist man bei der Entwicklung von Gedanken fast immer auf den Austausch mit anderen angewiesen. Je höher aber die Gedanken fliegen, umso einsamer wird es auf den Gipfeln, die man dabei erreicht. Folglich bedeutet Geistesgröße per se auch Einsamkeit; weswegen sich manch großer Geist auch mal ganz gerne in das Getümmel der Dummheit stürzt. Allerdings erlebt er dann meist nur eine andere Form seiner Einsamkeit, nämlich die, inmitten der Masse nicht wirklich dazuzugehören. Er verharrt unter den Einfältigen in der Besucherrolle und wird als solcher, auch wenn er sich noch so unterirdisch gibt, stets erkannt und isoliert. So gibt es fast in jedem Stehausschank einen »Professor«, der selbst bei eingetretener alkoholischer Verblödung noch der Studierte bleibt und mit seinen Saufkumpanen niemals wirklich gemein wird.
Ebenso unbestreitbar ist die Einsamkeit auf dem Gipfel einer Fähigkeit. Wer zum Beispiel in den höchsten Gefilden der Mathematik zuhause ist, wird auf der ganzen Welt vielleicht noch ein Dutzend weiterer Menschen finden, mit denen er seine mathematischen Probleme besprechen kann. Ähnlich mag es dem hochbegabten Künstler ergehen, der erkennen muss, dass sein Ringen um künstlerischen Ausdruck von seinem Publikum nicht mehr verstanden wird. Gleichermaßen unverstanden wird sich auch der Weise fühlen, der Gottes Rocksaum am Horizont zur Transzendenz erschauen durfte. Jiddu Krishnamurti – sicher ein Begnadeter – deutete seine diesbezügliche Einsamkeit kurz vor seinem Tod an, indem er gegenüber seinen Vertrauten meinte: »Wenn ihr alle doch bloß wüsstet, was euch entgangen ist – diese große Leere.«
Sich nicht mitteilen können
Das Fehlen eines Austauschs ist darum der eigentliche Grund, der jede Einsamkeit ausmacht. Wir müssen uns nicht in eine Einsiedelei begeben, um einsam zu sein. Wir werden inmitten des Trubels im Kölner Karneval einsam sein, sobald wir den Narren dort etwas von unserer Schwermut erzählen möchten – und es nicht ironisch meinen. Sich nicht mitteilen zu können, niemanden zu finden, der seine Gefühle, seine Überlegungen, sein Erleben mit einem teilt, macht uns einsam. Diese Art der Einsamkeit ist schmerzlich, ganz im Gegensatz zu der beschaulichen Einsamkeit in einem Schweigekloster, in dem man Teil der Gemeinschaft der Schweigenden ist, die ihr Schweigen, ihre Andacht und Gebete miteinander teilt, so dass dort niemand wirklich einsam ist. Das gemeinsame Schweigen kann sogar so sehr verbinden, dass man diese Gemeinschaft nicht mehr gegen die Oberflächlichkeit eines profanen Alltages eintauschen mag, in dem man zwar miteinander redet, aber meist nur aneinander vorbei.
Das Unteilbare
Es ist also das Nicht-teilen-können, was einsam macht. Wenn ich ein Geizhals bin, der sein Vermögen mit niemandem teilen will, wird mich das einsam machen, denn dann ist für mich jeder meiner Zeitgenossen ein potentieller Dieb. Ich werde das Geheimnis meines Reichtums also niemandem mitteilen und auch ansonsten jede engere Bindung tunlichst meiden, um mein Vermögen – gerade weil es teilbar ist – nicht zu gefährden.
Nun gibt es allerdings auch etwas Unteilbares in der Welt, zumindest vermuten wir dies. Das ist das Numinose oder die göttliche Unermesslichkeit oder, profaner gesagt, das metaphysische Sein. Dieses Unteilbare lässt sich, wie sein Name schon sagt, nicht teilen, auch wenn unsere Religionen hierzu ganz andere Behauptungen aufstellen. Würde es sich so fügen, wie wir es religiös gerne haben wollen, wäre es teilbar und somit auch nichts Göttliches; der religiöse Gedanke würde sich so also von selbst aufheben. Weil der Gedanke dieser Notwendigkeit jedoch nicht folgen will, haben wir es mit Religion zu tun. Diese kleine Verdrehtheit soll aber an dieser Stelle nicht weiter unser Thema sein, weil derlei Widersprüchlichkeiten seltsamerweise nicht einsam machen, sondern Kollektive stiften.
Mystik: das Duale verwischen
Gehen wir dagegen das Unteilbare mystisch an, indem wir es zum Gegenstand unserer Kontemplation machen, begeben wir uns in die große Gefahr, einer unwiderruflichen Einsamkeit anheimzufallen. Denn das Ziel jeder Kontemplation ist, eins mit dem Geschauten zu werden; was die Dualität zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten verwischt. Das eine wird zum anderen, und das andere zum einen. Gleichwohl gibt es auch hierfür einen religiösen Begriff. Der kirchentreue Mystiker spricht dann von der »unio mystica«, der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott; gerne wird dabei auch die Metapher von der dunklen Nacht gebraucht, die Johannes vom Kreuz (1542-1591) prägte. Damit ist eine vollkommen gottverlassene Einsamkeit gemeint, die den Kontemplierenden erfasst, und in die er ganz hineingehen muss, ehe er durch die ihn verklärende Einheit mit Gott erlöst wird.
Doch wie soll sich das Unteilbare mit dem Teilbaren, dem Menschen, vereinigen? Nun könnten wir das altbekannte magische Konstrukt aus unserer Zauberkiste ziehen, das da heißt: Alles ist mit allem verbunden. Doch wäre dies nur eine weitere Theorie, um sich einer wirklichen Beschauung zu entziehen. Wir würden damit das Unverstandene in ein Schublädchen mit der Aufschrift »Kapiert« verstauen und es so aus dem Sinn fegen. Nehmen wir hingegen die spirituelle Annahme ernst, dass es tatsächlich etwas Unteilbares und zugleich Allumfassendes gibt – denn nur solange auch Letzteres gilt, können wir uns mit ihm vereinigen –, müssen wir versuchen, die Trennung zwischen uns, den Schauenden, und dem zu Beschauenden aufzulösen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn wir das Trennende betrachten, anstatt uns auf das angenommene Heile zu beziehen.
Kontemplation
Üblicherweise ist eine Kontemplation – zumindest an ihrem Beginn – ein selbstbesonnener Diskurs, bei dem die Gedanken um das Ziel der Wahrnehmung kreisen, es dabei entblättern und soweit erschließen, dass es ganz für sich geschaut werden kann. Gelingt dies, wird die Achtsamkeit vollkommen, weil durch nichts mehr abgelenkt, und das Gesehene ist vom Sehenden nicht mehr unterschieden. Es wirkt in ihm, weil er selbst durch seine Schau still geworden ist. Jeder kennt solche erfüllenden, weil das ganze Wesen erfassende Augenblicke. Einsamkeit stellt sich hier meist erst im Nachhinein ein, wenn der solchermaßen Ergriffene von dieser Schau berichten möchte, die ihn durchdrungen hat. Dann erfährt er, dass zum einen seine Worte nicht genügen, um das Geschehen zu umschreiben, zum anderen seine Zuhörer dieses Erleben nicht wirklich nachvollziehen können, sondern sich allenfalls an etwas Ähnliches erinnern und dadurch sein Erleben durch ihr Vergleichen banalisieren. Das nicht Mitteilbare – nicht das Geschehen selbst – wird damit zum Grund von Einsamkeit.
Wollen wir uns hingegen wirklich auf die gottverlassene Einsamkeit des Mystikers einlassen, ehe er womöglich durch himmlischen Glanz begnadet und somit für seine Duldsamkeit im Leid belohnt wird, müssen wir ganz auf uns selbst gestellt bleiben. Damit meine ich, auf jeglichen Beistand zu verzichten und in die Einsamkeit des Ichs einzutauchen. Deswegen spreche ich von nun ab auch von ich und lasse es offen, ob Sie, lieber Leser, diese Perspektive für sich einnehmen wollen.
Ich ist allein in mir
Habe ich mich also entschlossen, das Unteilbare ganz in seinem Sein zu erschauen und mich deswegen in die vollkommene Einsamkeit zu begeben, beginne ich, mich in mir selbst als gefangen zu erleben. Meine Welt, meine Mit- wie Umwelt, besteht aus Bildern, Erinnerungen und Affekten in meinem Gedächtnis, die durch meine Prägungen bewegt, bedacht, erhalten und verwandelt werden. Damit meine ich keinen Solipsismus, der die Existenz der Welt nur in mir behauptet. Bei einem solchen Modell gäbe es das Unteilbare nicht als etwas zu Erlangendes, denn dann wäre ich es bereits und somit auch am Ende meiner Kontemplation. Nein, ich meine damit die Bewusstwerdung dessen, dass es eine unüberwindbare Schranke zwischen mir und meiner Welt gibt. Mein Fühlen und Denken bleibt bei mir. Mein Nächster mag es zwar nachvollziehen und mitempfinden, aber dieses Fühlen und Denken ist das seine und nicht das meine. Ich ist allein in mir. Im anderen bin ich stets du. Diese wechselseitige Empathie ist im übrigen das einzige wirkliche Mittel gegen die Einsamkeit.
Doch jetzt suche ich freiwillig die Einsamkeit, denn ich möchte sie gegen etwas Großartiges, Allverbindendes eintauschen. Deshalb erforsche ich mein Inneres. Ich sehe, wie ich mir das Äußere erdenke, wie ich es aus mir heraus in mich hineinhole und dasselbe auch durch meine Hinwendung zum Unteilbaren versuche. Ich erlebe dabei, wie ich mit meinen Gedanken absolut alleine mit mir selbst bin. Sie sind nur in meinem Kopf, in keinem anderen.
Gedanken trennen
Ja, ich sehe, dass nur sie es sind, die Gedanken, was mich von der Welt trennt und mich in mir noch mehr isoliert, indem sie mich so denken lassen, wie ich konditioniert bin: als Christen, Juden, Muslim oder Atheisten und dergleichen Weltanschauungen mehr. Ich erkenne zugleich, dass, wenn ich meine Gedanken ändere, ich nur die Farbe meiner Einsamkeit verändere. Meine Gedanken schwatzen mir vor, was ich aus zweiter Hand erlebe. Schließlich bin ich das Ergebnis meiner Prägung und außerdem stets nur der eigene wie erste Berichterstatter meines Erlebens. Das Unteilbare aber ist dem allen fern. Meine Gedanken darüber beschreiben es nicht einmal, sondern beschreiben einzig mich. Sie dienen somit nicht einmal mehr meiner eigenen Unterhaltung, meiner kurzweiligen Ablenkung von mir selbst und meiner Einsamkeit. So verharre ich, abgeschieden hinter Haut und Knochen meines Schädels, gefangen in der weißen Dunkelheit meines Gehirns und dem grauen Strömen meiner Gedanken.
Dennoch habe ich so vereinzelt nicht das Geringste mit dem Unteilbaren gemein. Vielmehr bin ich tausendfach zersplittert und daneben noch ein implantiertes »Man«, das mir von anderen genauso einsamen Seelen hineingereicht, hineingedrückt, hineinverkauft oder hineingeschlagen wurde und wird. »Man sollte« und »du solltest«, so die Litanei der Anmaßung, um durch die Gestaltung anderer Ichs den Ausbruch aus der eigenen Verlassenheit zu erzwingen. Teilen, sich in anderen zu teilen, um Teilhabe zu erlangen und die Einsamkeit zu besiegen – zum Ausbruch taugt das nicht.
Ausweglos
Erkenne ich dies, erkenne ich die Ausweglosigkeit. Nichts von dem Geschauten kann ich mehr mitteilen, denn da ist keiner mehr, der es mit mir teilt. Die anderen sind nur noch die Beobachter an meinem Sterbebett, die mich ihrerseits beschauen, um ihre eigene Furcht und Einsamkeit zu überwinden. Die sich mittels meines Leidens ablenken, um ihr eigenes Leid nicht zu empfinden.
Erkenne ich dies, gebe ich auch die Suche nach dem Unteilbaren auf, denn ich rieche in mir den Verwesungsgeruch meines faulenden, in sich verrottenden Ichs. Nun dringt nichts mehr in mich hinein, was nicht gleichermaßen Aas und Fäule wäre. Darüber werde ich müde. Ich wehre mich gegen nichts mehr und nehme, weil alles Tod ist, nichts mehr auf. In mir ist nichts mehr, das Hineingetragenes würde ergreifen wollen.
Erkenne ich dies, fließt es aus mir heraus. Der aasige Moder einer sich auflösenden Psyche, die aus sich heraus all das in sie Hineingetragene abstößt und ausscheidet. Das ist die Klärung, die jeder Tod mit sich bringt, indem der tote Leib verwest und aus seinem Balg tritt und in die Erde fließt, bis schließlich auch die gebleichten Knochen zu Staub verfallen und verwehen.
Einsamkeit ohne Schrecken
Erkenne ich dies, ist in mir die absolute Einsamkeit. Sie ist ohne Schrecken, weil ich sie längst bejaht habe. Weil ich längst erkannt habe, sie – und nur sie – ist mein einziger Grund. In ihr gründe ich. Leere, ausgefegtes Sein. Unaussprechbar, unteilbar.
Erkenne ich dies, bleibe ich leer. Ich beschaue diese Leere und sehe, wie sie sich ausdehnt, wie sie alles erfasst und in sich aufnimmt, meine ganze Welt geht in sie über, ohne auch nur ein Quäntchen von ihr zu füllen. Sie ist rein und unfassbar. Dies ist der Beginn des Alleinseins, das keine Einsamkeit mehr kennt.
Erkenne ich dies, bleibe ich still und sehe, was in mir und im anderen unteilbar ist. Nur dies ist …