Als das Kreißen meines Wahnsinns endete

High © M. Mala

Es musste etwas mit mir geschehen. Nur was? Jedenfalls ging es so nicht mehr weiter. Der ewige Kreislauf von Rückfall, kurzer Trockenphase und wieder Rückfall musste durchbro­chen werden. Nur wie? Drehte sich dieses Rad doch immer schneller. – Oder nicht? War nicht die letzte drogenfreie Spanne, die längste, die ich jemals durchlebte? Zehn saubere Monate.

Zehn schreckliche Monate. Jeden Tag fieberte ich nach der Droge. Alkohol, Schlafmit­tel, Speed, Tranquilizer, Haschisch, Heroin, egal was – jeden Tag und jede Stunde dachte ich daran. Dachte an die wenigen glücklichen Stunden mit der Droge und hoffte auf eine Gelegenheit, die es mir ermöglichte, Drogen zu nehmen. Hoffte auf ein Geschehen, das schrecklich genug war, um Verständnis für meinen Rausch in den Augen der anderen zu finden. Und so forderte ich das Schicksal heraus, mich zu schlagen, und wünschte mir jede Unbill herbei. Ja, ich spielte sogar mit Leib und Leben meines kleinen Sohnes. Setzte ihn so manches mal offenen Auges einer Gefahr aus, und verbrämte meine bitterböse Hoffnung auf ein Unglück mit der pädagogischen Bauernweisheit: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Doch das Schicksal schlug mich nicht. Und so widerstand ich Tag um Tag meinem wü­tenden Suchtdruck. Und jede Nacht, die ich mich sauber zu Bett legte, empfand ich Freu­de darüber, widerstanden zu haben; doch zugleich verwünschte ich den vergangenen Tag, der mir nur als anhaltender Schmerz und fortwährendes Elend erschien. Und in mir wuchs die dürstende Trauer, keine Drogen mehr nehmen zu können. Doch ich widerstand.

Ja, ich widerstand, weil ich um mein Leben fürchtete. Endete doch der letzte Rückfall mit einer Überdosis auf der Intensivstation. Und ich wusste, bereits der nächste Rausch könnte tödlich sein. Also quälte ich mich angstvoll, nach der Droge fiebernd, von einem Tag zum anderen und hoffte auf einen Anlass, einen Grund, mit dem ich den ersehnten Rausch hätte rechtfertigen können. Doch dieser Anlass stellte sich nicht ein und zugleich erinnerte ich mich der Worte meiner Freunde in der Selbsthilfegruppe: Es gibt keinen Grund, Drogen zu nehmen, außer du willst es.

Wollte ich es? Ja, ich wollte es! Und der Suchtdruck, mein quälendes Verlangen nach Drogen, wuchs. Obwohl längst entzogen litt ich unter heftigen Entzugssymptomen. Meine Muskeln und Glieder schmerzten mir und meine Gedanken verengten sich auf die eine Fra­ge: Holst du dir Stoff oder nicht? Auf Schritt und Tritt betete ich sie mir paternosterartig vor und schob zugleich besinnungslos die Antwort hinterher: Heute nicht! – Denn noch war mei­ne tödliche Furcht vor der Droge um ein Quentchen größer als meine Gier.

Doch es kam der Tag, da mein unstillbares Verlangen einen Deut mächtiger war als meine Todesangst. Es war ein ganz normaler Herbsttag, mild und sonnig. Und es gab kein­en Anlass. Kein erhoffter Schrecken war eingetreten. Es gab keinen Grund, Drogen zu neh­men. Nur ich wollte es. Und so verließ ich den Weg. Bog nach links ab. Ging in den Park und kaufte mir Haschisch. Ich hatte den Kampf verloren. Doch hatte ich auch kapituliert?

Nein! – Der langersehnte Rausch war fürchterlich. Nichts von dem erträumten Genuss, nichts von der ersehnten Leichtigkeit. Scham und tiefe Niedergeschlagenheit machten mich frösteln. Grauer kalter Rausch. Ich hatte mein Leben wieder einmal aus der Hand gegeben. Jetzt führte mich erneut die Droge. Und ich saß abermals auf dem alten Karussell. Dem Haschisch folgten Tabletten, den Tabletten Heroin und dem Heroin wiederum Alkohol. Und voller Schreck griff ich wieder zum Haschisch, und eine weitere Runde begann. Und von Runde zu Runde drehte sich das Drogenkarussell schneller und schneller. Es war kein Hal­ten mehr, längst schlitterte ich wie gehabt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Und wieder hoffte ich. Hoffte, das Karussell möge niemals anhalten, und zugleich wünschte ich mir, abspringen zu können. Meine Zerrissenheit war dieselbe wie wenige Tage zuvor, als ich meine Trockenheit verwünschte. Nur war ich jetzt auf der dunklen Seite, stand ohnmäch­tig unter dem Diktat der Droge und hoffte, irgendwer, irgendwas möge mich erlösen. Doch nur wer oder was sollte das sein? Und wünschte ich auch wirkliche Erlösung, oder wollte ich nur eine Pause? Eine weitere qualvolle Pause, bevor das Elend seinen Fortgang nähme? Tief in mir spürte ich, dass meine Hoffnung mich trog. Verlängerte sie doch nur mein Leiden. Doch wie anders? Es musste doch einen Ausweg geben. Ist Hoffnung denn nicht an jeder Straßenecke wohlfeil? Hofft nicht ein jeder auf Besserung seiner Lebensumstände? Und würde ich alle Hoffnung fahren lassen, wäre ich dann nicht gewiss gänzlich verloren?

Doch auf was hoffte ich denn wirklich? Um dies zu erkennen, musste ich erst einige Monate sauber sein. Erst dann sollte mir klar werden, wie unberechtigt und trügerisch meine Hoffnungen waren; wie ich mir durch sie den Weg in die Sauberkeit verbaute. So wünschte ich mir, als ich Qualen mit der Droge litt, voll Inbrunst, jemand möge kommen und mich ans Licht führen. Ein guter, weiser Mann sollte es sein. Ein verständnisvoller Vater, der mich be­hüten und mir mit mildem Tadel die Droge aus der Hand nehmen würde, sobald ich rückfäl­lig werden würde. Mit gütigen Augen sollte er über meine Sauberkeit wachen. Aber was wäre gewesen, hätte das Geschick mir eine solche Person an die Seite gestellt?

Ich hätte sie ebenso belogen und betrogen wie all jene, die an mich geglaubt und mit mir gehofft hatten. Und deren gab es viele im Laufe meiner Drogenkarriere. Eltern, Ver­wandte, Vorgesetzte, Psychologen und nicht zuletzt meine Frau. Welch traurige Geschich­ten etwa erzählte ich den um mich bemühten Psychologen der Drogenberatung. Wieviel Verständnis brachte er für mich auf, ja manchmal weinte er sogar mit mir. Und doch war alles nur Mache, windiges Theater meinerseits. Kaum hatte ich ihm den Rücken gekehrt, wähnte ich mich so weit geläutert, eine weitere Runde mit der Droge drehen zu können. Außerdem sah ich in ihm wie in allen anderen, die noch nicht resigniert hatten, eine Rück­versicherung, mit deren Hilfe ich auch den nächsten Rückfall noch überstehen vermochte. Sie alle waren mein Joker, den ich in tiefster Not ziehen konnte. Der Funke Hoffnung in ihren Augen, wurde mir zur Gewissheit, dass ich noch nicht verloren war, dass ich noch eine Chance mit der Droge hatte.

Dabei hatte ich längst alle Chancen verspielt. Mein Hoffen war in Wirklichkeit ohne Zu­versicht. Es war nur ein billiger Zauber, mit dem ich meinen Rausch bemäntelte. Im Grunde meines Herzens aber war ich hoffnungslos und zehrte nur noch von der Hoffnung der ande­ren. Ich war auf der Flucht vor mir selbst, und meine windigen Hoffnungen waren meine Fluchthelfer: Hoffnung auf den weisen Vater; Hoffnung auf ein mich veränderndes Gesche­hen; Hoffnung auf Wandlung durch Eingebung; Hoffnung, doch endlich einmal kontrolliert Drogen konsumieren zu können. All diese wirren Hoffnungen hatten nur den einen Zweck, meinen Blick von mir, von dem was jetzt war, abzulenken und ihn auf ein unbestimmtes Ziel zu richten, zu dem ich mir Mächtigkeit über die Droge zusprach. Und so verschob ich auch meine Verantwortung für mich selbst immer wieder auf einen nächsten Tag oder gab sie an­deren anheim. Letztere Möglichkeit zerstob, als sich auch meine Frau, der einzige Mensch, der noch an mich und meine leeren Versprechungen glaubte, von mir abwendete. Es war in der zweiten oder dritten Woche meines Rückfalles. Ich jobte damals als Nachtwächter. Zu mehr war ich nicht mehr fähig. Ich hatte Wochenenddienst in einer Notrufzentrale. Das be­deutete, ich musste ein paar auflaufende automatische Alarmmeldungen entgegennehmen und weiterleiten. Dazu saß ich 60 öde Stunden allein in einem hässlichen Keller vor einigen Telefonapparaten und einem Karteikasten. Zuvor hatte ich mich reichlich mit Haschisch ein­gedeckt und paffte nun ein Pfeifchen nach dem anderen. Am Samstag Nachmittag besuchte mich meine Frau. Sie musste mich nur ansehen, um zu wissen, was mit mir los war. Und als ich anhob, zu erklären und das abgenudelte Lied von „Morgen höre ich auf“ zu singen, wink­te sie nur mit Tränen in den Augen ab. Nein, ich musste ihr nichts mehr vormachen. Der Fun­ke Hoffnung, den ich bislang in Ihren Augen stets aufs neue anzufachen vermochte, war er­loschen. Mach was du willst, mach weiter so und erzähle mir nichts mehr, meinte sie. Dann ging sie. Sie sagte es ohne Drohung und ohne Vorwurf. Sie sagte es ohne jegliche Hoffnung mehr für mich. – Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Doch es gibt keine hoffnungslo­sen Fälle. Solange ein Süchtiger noch in den Schuhen steht, hat er auch die Chance, sauber zu werden. Auch, oder gerade dann, wenn er die­se Chance offensichtlich nicht mehr hat. Dies ist gewiss paradox. Doch egal, mir widerfuhr dieses Paradoxon, so wie es Abertausenden meiner suchtkranken Schicksalsgefährten widerfuhr; ist doch die Suchtkrankheit in sich widersprüchlich. Ich will, und ich will nicht! Das ewige Gezerre, gleich­gültig auf welcher Seite der Medaille ich mich just befinde. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu tragen: Entweder drogenfrei in seliger Nüchternheit oder mit als auch ohne Drogen in bitterer Verzweiflung. Und es war abgrund­tiefe Verzweiflung, die mich überkam, als ich alleine zurückblieb.

Mechanisch drehte ich mir einen Joint. Doch der Rausch brachte keine Linderung mehr. Er war nur kalt und grau. Ich weinte. Zugleich aber spürte ich, dass jede Träne eine Lüge war. Verlogenes Selbstmitleid, mit dem ich mich selbst beeindrucken wollte. Doch ich war mir ein schlechtes Publikum, schließlich durchschaute ich mein windiges Spiel. Die Ver­zweiflung über mich und mein Schicksal brannte mich aus. Wünschte ich mir Sauberkeit herbei, schmerzte mich der absehbare Verlust der Droge, und sehnte ich mich nach einer Fortsetzung meines Daseins mit der Droge, litt ich unter der Aussichtslosigkeit dieser Per­spektive. Es war pure, nackte Verzweiflung die mich schüttelte. Zwei verworfene Fälle. Ich kannte nur diese beiden Alternativen, Droge oder nicht Droge, und die eine wie die andere erschien mir nicht lebenswert. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich saß in der Falle. Als ich den nächsten Joint ansteckte, wurde mir mit einem Male ganz deutlich: Das ist es! Das ist dein Leben. So wird es bleiben. Drogen, Drogen und nochmals Drogen. Vielleicht mal eine kurze, zufällige Strecke der Sauberkeit, mehr nicht. Ansonsten elender Rausch bis zum Ende. Und das Ende, auch das sah ich, war nicht mehr weit. Jedenfalls war ich gesundheitlich schwer angeschlagen. Vielleicht noch zwei, höchstens drei Jahre, schätzte ich. Sofern keine Über­dosis das ganze beschleunigte. Und die Gefahr einer Überdosis war allein von den konsu­mierten Mengen her latent. Ja, das war es. Das ist Sucht. Und du bist süchtig. Es war so schrecklich banal und so mitleidlos gewiss. Ich hatte keine Chance mehr!

Es wurde kalt und still um mich. Ich litt nicht mehr. Meine Verzweiflung war gewichen. Ich hatte mich der dunklen Seite übergeben. Es gab nur noch diesen einen Fall, nur diese eine Möglichkeit, auch wenn sie verworfen war, ebenso verworfen wie mein Leben. Aus­sichts­los, kalt und dunkel.

In meiner Verlassenheit rauchte ich mehr Haschisch, als ich zu Beginn meines Wo­chen­enddienstes abgeschätzt hatte. Sonntag mittag ging mir der Stoff aus. Ich hatte kein Geld mehr. Sollte ich an der nahen Tankstelle auf Pump Alkohol kaufen? Oder wäre es bes­ser ihn zu stehlen? Oder sollte ich die Kasse im Büro des Geschäftsführers aufbrechen? Ich dachte nicht mehr daran, aufzuhören. Ich dachte nur noch an Stoff, tieftraurig und müde. Ich schaute auf den zertretenen Rasen vor dem Haus, der als Hundeklo diente. Starrte auf das schmutzige Herbstlaub auf dem Pflaster und spürte das Fieber des sich ankündigenden Entzuges. Alkohol? Nur keinen Alkohol, dachte ich mir, du bringst dich um damit. Doch wie sollte ich an Haschisch kommen? Ich sah, wie sich der Paternoster in meinem Kopf, die immer wiederkehrende Leier, zu drehen begann. Und ich sah mich zugleich in dem herbst­feuchten Schlamm vor dem Fenster liegen: Niedergeschlagen von der Droge, die wie ein mächtiger Schatten über mir stand. Ich wollte aufstehen, doch alle Glieder schmerzten mir. Und ich wusste, wenn ich aufstünde, würde ich wieder einen Schlag erhalten, der mich zu Boden streckte – und so würde es unablässig weitergehen, bis ich endgültig liegen bliebe. Die Außenwelt trat zurück, und nur noch dieses Bild war in aller Klarheit vor mir. Gnadenlos, Schlag um Schlag würde ich von der Droge auf die Bretter gestreckt werden … bis ich end­gültig ausgezählt werden würde. Ich war zu müde, mich noch zu wehren, und so blieb ich liegen.

Eigentlich wollte ich nur um eine kleine Verschnaufpause bitten, bevor ich den Kampf wieder aufnehmen würde. Doch ich merkte, dass ich verschont wurde, solange ich liegen blieb. Streckte ich aber meinen Kopf wieder in die Höhe und stimmte die alte Leier „Stoff, ja oder nein?“ wieder an, so sah ich, wie sich der tiefschwarze Schatten, die Droge, in Positur stellte, um mir einen weiteren Niederschlag zu verpassen. Also blieb ich liegen.

Der Entzug machte sich mittlerweile deutlich bemerkbar. Ich kannte dieses Spiel zur Genüge. Was soll’s, dachte ich mir, auch das wirst du überstehen. Versuchst du es halt noch einmal, und reihst dich wieder ein ans Ende der Schlange. Doch diesmal hatte ich kei­ne Hoffnung mehr und keine Zuversicht, ich wollte einfach nur keine weitere Prügel mehr beziehen. Am Montag früh schlurfte ich zitternd, fiebernd und krumm vor Entzugsschmerzen nach Hause. Seither habe ich mich, um im Bild zu bleiben, nicht mehr von den Ringbrettern erhoben. Ich habe den Kampf verloren, die Droge ist stärker als ich. Ich habe kapituliert. Zum ersten Mal hatte ich die Verantwortung für mich selbst übernommen, indem ich das Handtuch für mich warf.

Freilich sollte ich erst einige Tage später wirklich erfahren, was an jenem Sonntag mit mir geschehen war. Es war an einem jener unvergleichlich schönen Oktobertage, zu denen die milde Sonne das bunte Laub zum glühen bringt und Blumen in lauschigen Winkeln zu später Blüte anregt. Ich ging durch ein tristes Industriegelände auf die Straßenbahn zu. Auf einer einsamen Plakatwand wuchs ein frisch eingeschenktes Pilsglas in einen gleichfalls strahlenden Oktoberhimmel. Ich sah das Plakat und im selben Moment traf mich mit unge­heurer Wucht ein so noch nie dagewesener Suchtdruck. Mir verschlug es den Atem. Die glitzernden Tauperlen auf dem abgebildeten Glas taten ihr übriges. Versprachen sie doch kühles Labsal und sanfte Linderung des mich heftig schüttelnden Fiebers. Am liebsten wäre ich mit einem Satz in die Plakatwand gesprungen, um dieses Bier in einem Zug zu leeren. Da war er also wieder der gefürchtete Suchtdruck, und schon drehte sich gebetsmühlenartig die immergleiche Frage in meinem Hirn: Holst du dir was, oder nicht? Doch in dem Augen­blick, da ich beginnen wollte über eine Antwort auf diese Frage nachzusinnen, fühlte ich mich absolut hilflos und unfähig, den Gedanken aufzunehmen. Welche Antwort sollte ich finden? Gleichgültig ob Ja oder Nein, jede Antwort wäre falsch gewesen, hätte das altbe­kannte Karussell wieder in Bewegung gesetzt. Was hatte ich hier zu entscheiden? Nichts! Ich war knockout, hatte aufgegeben und lag nach wie vor auf den Brettern. Sollte ich etwa wieder aufstehen? Nein. Aber was sollte ich tun? Nichts – mir fiel nichts ein!

Also tat ich nichts. Ich folgte dem Gedanken nicht. Ich bemühte mich um keine Ant­wort. Ich tat nichts, denn ich sah, ich konnte nichts tun. Ich konnte keine Entscheidung tref­fen, denn ich selbst war das, was mich da umtrieb. Es war die Sucht, und ich bin süchtig.

Ich ging wie betäubt weiter. Erst als ich die Straßenbahninsel erreichte, kam ich all­mählich wieder zu mir. Es fehlte mir nichts, ich fühlte mich wohl. Mit einem Male begriff ich, dass ich noch vor wenigen hundert Metern einem unglaublichen Suchtdruck ausgesetzt war, und jetzt? Jetzt war nichts. Kein Verlangen, keine in sich kreisenden Gedanken, nichts von alledem, was vormals einem Suchtdruck folgte. Es war das erste Mal, dass ich auf einen Suchtdruck hin mir keinen Stoff beschaffen musste. dass ich nicht die Frage „Holst du dir was, oder nicht“ solange stumpfsinnig wälzte – selbst wenn es wie vordem zehn Monate währte – bis ich erschöpft nach der Droge griff und dem quälenden Suchtdruck so sein fol­gerichtiges Ende setzte. Der Suchtdruck, der mir noch vor wenigen Minuten, die Knie schlottern ließ, war vorbei. Aber was hatte ich dafür getan? Nichts?

Ja, in der Tat hatte ich nichts getan. Aber eben dieses Nichtstun war meine große Tat gewesen. Sie forderte viel mehr von mir als jede billige Entscheidung. Sie forderte Aufgabe. Völlige Passivität. Gleichwohl war dieses Passivsein von höchster Aktivität. In ihr war keine Trennung zwischen mir und meinem Erleben. Ich hob mich nicht mehr über mich, eilte mir nicht mehr davon, und öffnete mich so für ein Geschehen, das in mir alle Zweifel einte. Für einen Augenblick war ich heil gewesen. Und in diesem Heilsein hatte ich mich gewandelt. Es war ein Vorgang von höchster Spiritualität. Ich hatte mit meinem Herzen begriffen, was ich zuvor nur mit meinem Verstand zu fassen versuchte: Ich bin süchtig.

Dieses Geschehen, dem ich mich durch meine Aufgabe öffnete und in vollkommener Aufmerksamkeit hingab, lässt sich mit Worten eigentlich nicht beschreiben; denn es war ein Wirken, das sich jenseits meines Verstandes vollzog. Gleichwohl versuche ich an dieser Stelle, diesen Prozeß zu umschreiben. War er doch ein Damaskuserlebnis, in dem ich mich gewissermaßen vom Saulus zum Paulus wandelte, und das fortan meine Sauberkeit be­gründete. Es bewirkte kein bedachtes, willentliches Handeln, sondern Wahrnehmung und Handlung waren eins. Ich sah den Suchtdruck, sah meine Zwiespältigkeit, sah meinen ver­zweifelten Drang mich für eine Seite zu entscheiden und sah meine Hilflosigkeit keinen Aus­weg zu finden. All dies einte sich in meiner Wahrnehmung und wurde zu einer Wahrheit, die zugleich die Handlung bedingte. Diese Handlung aber war nicht meine Handlung, sondern Ausdruck der durch mich wirkenden Wahrheit. – Seitdem erlebe ich mein Süchtigsein nicht mehr als Zwiespältigkeit, sondern als eine Einheit, in der Licht wie Schatten, Sauberkeit und Droge, sich zu einer sich wechselseitig durchwirkenden neuen Dimension weitern. Und seit­dem lebe ich in einem nüchternen Gleichgewicht und bin sauber, ohne dass ich mir diese Sauberkeit als meinen Verdienst zurechnen möchte.

Allerdings hätte dieses Geschehen keinen großen Wert, wenn es nur ein einmaliger Vorgang geblieben wäre. Denn dann würde mir seine spirituelle Intensität zur Erinnerung, um die ich mich bemühte, um aus ihr die geistige Kraft für meine Sauberkeit zu ziehen. Die­ser erinnerten Kraft fehlte jedoch ihre Lebendigkeit, und sie würde von daher mit der Zeit verblassen, so wie in mir auch der Eindruck dieses Geschehens an Stärke verliert. Folglich bemühe ich mich darum, diesen Prozeß in meinem sauberen Alltag zu fördern, indem ich diesen Schritt der Aufgabe und Öffnung ein ums andre Mal wiederhole. Wobei es an Gele­genheiten hierfür in meinem wie auch in keinem anderen Lebensplan mangelt.

Eine erste Maßnahme hierzu ist, mich vor Enttäuschungen zu schützen. Schließlich falle ich gerade durch die verschiedensten Formen der Enttäuschung in jene gefährlich labilen Gemütslagen, in denen ich vor Trauer und Selbstmitleid am Sinn meiner Sauberkeit zu zweifeln beginne. In solch depressiver Zerrissenheit aber gewinnen die unheilvollen Strukturen meiner Suchtkrankheit wieder Oberhand, und die Möglichkeit, Trost in der Droge zu suchen, erschiene mir plötzlich wieder bedenkenswert. Freilich bedingt jede Enttäusch­ung auch, dass ich mich zuvor getäuscht habe beziehungsweise täuschen ließ. Folglich muss ich mich vor jeglicher Täuschung hüten, was von mir besondere Bedachtsamkeit für mein Tun und lassen erfordert. Das bedeutet allerdings nicht, stets nur die schlechteste Möglich­keit als Folge meines Handelns anzunehmen, um womöglich später in angenehmer Weise ent­täuscht zu werden. Eine solche negative Einstellung nämlich wäre für mich ebenso ver­häng­nisvoll wie lähmend. Nein, was mir hilft, Täuschungen zu vermeiden, ist Achtsamkeit. Acht­samkeit für diesen Tag. Denn dieser Tag ist mein ganzes Leben. Nur heute kann ich gültig darüber entscheiden, ob ich mein sauberes Leben fortsetzen möchte. Nur heute kann ich das umgehen, was meiner Sauberkeit hinderlich ist, und nur heute kann ich mich aktiv um meine Sauberkeit bemühen.

Was aber über diesen Tag, diese 24 Stunden, hinausreicht, liegt nicht mehr in meiner Hand. Sicher setze ich auch heute Impulse, die in die Zukunft hineinwirken, aber Zeit zum Handeln habe ich immer nur heute. Und solange ich mir hierbei aufmerksam folge, kann ich auch erkennen, wie ich durch kleine oder große Hoffnungen und Wünsche den Keim der Täuschung setze, dessen Frucht schlussendlich der Schmerz der Enttäuschung sein wird. Und so entdecke ich auch in meinem sauberen Alltag das gleiche Prinzip wieder, das zu Be­ginn meiner Sauberkeit wirkende Voraussetzung war: lasse deine Hoffnungen fahren und trage deine Verzweiflung, so einst du dich mit dem was ist und gelangst zu unzweifelbarer Handlung. Damit allerdings diese Einigung, dieses geistige Heilsein, geschehen kann, muss ich mich ein ums andere Mal von meinen Vorstellungen und meinem Wollen lösen und mich bescheiden. Dieses Bescheiden aber verlangt Demut und Aufgabe von mir, nur dann kann sich fügen, was meine Sauberkeit erhält und was ich mit aller gebotenen Scheu als spirituel­le Führung bezeichnen möchte.

Mithin bemühe ich mich alltäglich um mein inneres wie äußeres Gleichgewicht, was mir freilich nur gelingt, solange ich nicht erneut vor mir und dem Was ist fliehe. Und gerade in diesem Zusammenhang, wird von Nichtbetroffenen oder noch akut erkrankten Süchtigen bemängelt, dass eine solche Lebensführung, die so gut wie alle Hoffnung negiert, wohl kaum eine tröstliche Alternative sei. Nun, ich lebe in dieser „Hoffnungslosigkeit“ und muss sagen, dass ich sie heute nicht mehr gegen eine andere Lebenssicht und Lebensweise tauschen möchte. Denn nur durch ebendiese grundlegende Lebensführung fand ich zu mir und lebe heute in einem von jeder äußeren Bedingung unabhängigen inneren Frieden, von dem ich niemals zu träumen vermochte. Zugleich wäre es ein Irrtum, anzunehmen, jede Art von Hoffnung sei verwerflich, da diesen Frieden gefährdend. Es liegt also an mir, zwischen be­rechtigter und unberechtigter Hoffnung zu unterscheiden. Als unberechtigt empfinde ich all­ein jenes Hoffen, bei dem ich Hilfe und Entscheidungen für mich, die ich mir grundsätzlich nur selbst gewähren kann, von anderen erflehe; so kann mir etwa keine wirksame Hilfe von außen zuteil werden, solange ich mich vornehmlich nicht selbst um meine eigene Sauber­keit sorge. Für berechtigt aber erachte ich all solches Hoffen, bei dem mir notwendigerweise Hilfe von außen zuteil werden muss, damit ich mein Geschick weiter formen kann. Dies mag beim erwünschten Wetter beginnen und muss nicht nur bei der Erwartung freundschaftlichen Zuspruchs in der Not enden. Aus dieser Einsicht resultiert eine meine Sauberkeit bedingen­de Lebensweise, die ich als „Leben mit vollem Risiko“ umschreiben möchte. Damit meine ich, dass ich jederzeit für grundlegende Änderungen in meinem Leben offen bleibe. Was ich bin, was ich habe, empfinde ich nur als geliehen. Ich kann nichts davon festhalten, gleich­wohl bleibe ich bemüßigt, es achtsam zu hüten. Steht es mir doch nicht an, die wertvollen Leihgaben zu meiner Sauberkeit zu verschleudern. Andererseits bewahre ich mir gerade so die Fähigkeit, mich jederzeit auch von scheinbar unverrückbaren Dingen und Werten lösen zu können, sobald ich dies als Forderung an mich und meinen weiteren Weg der Genesung erkenne. Weiß ich doch mittlerweile, das dieser Weg der Genesung, dieser Pfad der Sau­berkeit ohne Ziel und ohne Ende ist. Es obliegt mir nur, auf ihm voranzuschreiten und nicht zu rasten, solange ich Rückschritte vermeiden möchte. Und so kann jeder Tag für mich zur Erfüllung werden, sobald ich mich ihm mit meinem ganzen Geschick hingebe. Gelingt es mir, bin ich dem wahren Leben nahe. Ich werde wach. In diesem wachen Sohiersein aber erwächst die Kraft zur Handlung. In ihrer Stärke liegt zugleich ein Anruf, der mir zum eini­genden Impuls wird, aus dem heraus sich durch mich mein weiterer Weg formt. So handele ich aus einem tiefen übergreifenden und alles verbindenden Verständnis heraus, durch des­sen Wirken sich letztlich auch jede Hoffnung erübrigt.

So geschah, was ich nicht mehr erhoffen konnte. Der Funke Sauberkeit sprang auf mich über und ich gab mich ihm zur Nahrung, auf dass er zur Flamme werden konnte. Und diese Flamme wurde mir zum Licht. Nun liegt es fürderhin an mir, dieses Licht zu hegen und zu nähren. Hierzu bin ich stets aufs neue gefordert, Ballast abzuwerfen und meine Seele sei­nem reinigenden Feuer auszusetzen. Unterließe ich es, würde ich diese heilsame Flamme ganz allmählich mit meiner Last ersticken.

Unterbrechen

Unterbrechung © M. Mala

Wer seinen Weg geht, trifft auf Gabelungen, die eine Entscheidung fordern, in welche Richtung man weiter schreiten möchte. Wobei meist der Gedanke einer besseren Wahl ausmacht, in welche Richtung es geht. Als wenn es immer nur vorwärts, höher und vollkommener ginge? Mit derlei Annahmen setzt man sich nur selbst unter Druck, mit sich selbst in Wettstreit zu treten und sich und sein Leben zu optimieren. Wobei sich hierbei verschiedene Wesenszüge offenbaren, auch wenn es beim Ringen mit sich selbst nur selten unerwartete Entscheidungen gibt; es widerstreiten lediglich in der einen Person verschiedene Persönlichkeitsanteile und Selbstbilder. Eigentlich ein günstiger Augenblick, um sich selbst besser kennenzulernen. Doch dazu müsste man verharren, sich ein wenig Zeit nehmen, um mit sich selbst ins Gespräch zu treten. Ein Geschehen freilich, vor dem viele ein Leben lang davonlaufen; weshalb sie so gerne vom Weg als Ziel sprechen, als wäre, sich selbst zu enteilen, bereits ein Ziel.

Hinzukommt, dass selbst, wenn derlei Selbstbetrachtung glückt, es fraglich ist, ob auch der richtige Betrachter in einem den Blick auf die eigene Konstellation wirft. Schließlich besteht jeder Mensch mit seiner Persönlichkeit aus einem Konglomerat aus Widersprüchen, Unwissenheit, Meinungen und Perspektiven; dazu obendrein noch jede Art an Gusto, Lüsten, Moral und Moralinsaurem, das in seiner Mischung kaum einen vernünftigen, geschweige denn originären Gedanken zulässt. Die Person ist so gepackt und in sich verflochten, dass sie im Grunde keinen klaren Blick auf sich selbst zulässt. Einziger Ausweg aus diesem Dilemma bleibt, zu verharren. Keinen Schritt weiter, keinen zurück und auch nicht sich selbst zum Schiedsrichter seiner selbst erhöhen. Denn diese personale Annahme, mit der man sein halbes Leben gut bestritten hatte, ist die eigene Person, das Selbst und nichts anderes. Wir sind die Scharade unseres Selbst und lassen die Figuren spielen, indem wir uns gar einbilden, sie selbst zu sein. Und verflixt nochmal, es stimmt, wir sind es, das Bündel da an irgendeiner Weggabelung, sind wir selbst, unser Selbst, eine selbstverständliche Scharade.

Erfassen wir das in seiner Gesamtheit als unveränderliche Einheit, verliert sich die Weggabelung und mit ihr auch der Weg; denn durch die Gesamtschau entfällt die Notwendigkeit, sich zu entscheiden. Wir finden uns wieder – allein in einer Lebenslandschaft, die uns ausmacht und in der wir aus jedem Winkel zu erkennen sind, so wie wir uns wiederum in jedem ihrer Winkel selbst erkennen. Wir sind sowohl der Mittelpunkt des Universums als auch dieses unser Universum zugleich. Wir müssen nirgendwo hin, sondern sind da im Hier und Jetzt. Erlauben wir uns diese unverschämte, weil unverstellte Sicht, unterbrechen wir den üblichen Lauf der Dinge. Wir steigen aus dem Fluss, um in ihm zu bleiben. So lassen wir Wandlung zu. Nicht eine ausgedachte oder angenommene, sondern eine, die sich aus sich selbst und ihrem eigenen Impetus, nämlich der unbefangenen Erfassung seiner selbst, geschieht. Es ist eine Bewegung, die uns bewegt, sofern wir sie zulassen … können. Doch lassen Sie sie zu, werden Sie erfassen, dass es nicht Ihre Bewegung ist. Bitte bleiben Sie dabei bescheiden und eignen Sie sie sich nicht an, Sie würden sie andernfalls nur verlieren.

Nun denn, unterbrechen wir hier …

Ein Geschenkbuch

Ein Geschenkbuch für alle, die die mystisch, spirituelle Versenkung schätzen.

Dieses Buch ist ebenso grundsolide wie außergewöhnlich. Grundsolide, weil dieser Hartband mit Lesebändchen bedacht gesetzt und illustriert ist. Sie verschenken mit ihm ein Gesamtkunstwerk, das Sie zugleich adelt. Das Stundenbuch der Magie ist ein Born magischen Wissens und mystischer Räume. In ihm sind 183 Kontemplationen versammelt, die den Blick auf und in die Welt verrücken. Hier stelle ich Ihnen die erste vor. – Wollen Sie das Buch erwerben klicken Sie bitte auf das Titelbild.

1 Zur Magie der Weile

Losung

Zeitlos ist der Zeit habende. Sich Zeit zu nehmen vermag nur, wer Zeit hat. Zeit haben ist indes ein Luxus, der sich nicht erwerben lässt. Er fällt allein demjenigen zu, der klug zu verzichten weiß. Zeit ist aller Zauber Anfang.

Versenkung

Ich blicke weder zurück zum Anfang noch voraus auf das Ende des Pfades. Ich stehe an meinem Platz und sehe mich um, und in dieser Umschau entdecke ich die Richtung, in die mein nächster Schritt mich führt. Die Bewegung allein ist meine Freude. Sie ist ohne Richtung. Der Schatten dessen, der im Ziel stehen wird, weilt neben mir. Ich spanne meinen Bogen und sende meinen Pfeil in den Himmel. Ich verharre. Mein Pfeil stürzt aus dem Himmel zurück und trifft meinen Schatten. Ich lege den Pfeil in meinen Köcher zurück. Der mit mir weilende Schatten fällt von mir. Ich blicke mich um und setze erneut einen Schritt. Ich werfe keinen Schatten mehr. Die Bewegung fließt. Anfang und Ende sind entrückt. Wieder sende ich einen Pfeil in den Himmel. Er sirrt davon und fällt nicht mehr zurück. Die Bewegung fließt ohne Weile in alle Weile.

Kann ich mein Ziel aus den Augen verlieren, ohne mich darob zu ängstigen?

Stimmung

Handle ich im Augenblick, überwinde ich alle Vorsätze. Das, was ich jetzt tue, ist für sich bereits Erfüllung. Es zielt auf nichts. Darum darf ich meine Hände in den Schoß legen und auf das lauschen, was um mich waltet. Ich sammle mich und bitte um Teilhabe an diesem Walten. Ergreift mich seine Bewegung, bitte ich darum, mich auch ergreifen zu lassen. Ich bitte für diesen Tag und um die kraftvolle Leichtigkeit, auf ihn zu schauen. Möge mich diese ehrliche Bitte Tag um Tag durchs Jahr begleiten.

Ein Haiga

Ich bin, was ich bin
Und noch mehr, was ich nicht bin
Wer mag ich nur sein?

Der Text zu diesem Haiga entstand im Zug auf meiner Fahrt zur Traumatherapie. Es umreißt den Zustand meiner Depersonalisation, von der ich Jahrzehnte glaubte, ihr liege ein spiritueller Prozess zugrunde. Doch mit der seit einem Jahrzehnt laufenden psychotherapeutischen Auseinandersetzung mit meiner kPTBS gelangte ich zu der Einsicht, dass meine vermeintliche Erleuchtung schlicht eine Depersonalisation ist. Das ist ein gewaltiger und deswegen erschreckender Schritt zu mir selbst. Ich werde sehen, wie nah ich meinem Selbstverständnis in der bald beginnenden vierten Phase meiner Traumatherapie komme.

Depersonalisation ist kein angenehmer Gemütszustand. Personen, die an dieser psychischen Beeinträchtigung leiden, haben ihr Selbstverständnis verloren. Sie leiden unter Selbstentfremdung. Ihr ich erscheint ihnen als diffus und fremd, auch ihre Mitwelt wirkt fremd auf sie. Obgleich Depersonalisation eine der ersten beschriebenen psychischen Erkrankungen ist, ist sie relativ unbekannt, weswegen sie auch häufig von Psychotherapeuten verkannt und nicht gezielt behandelt wird.

Mehr zum Thema Depersonalisation erfahren Sie hier.

Perspektiven

Kleinkariert © M. Mala

Von München aus sieht man bei klarem Wetter die östliche Alpenkette mit der Zugspitze. Wobei die Zugspitze die Sicht nach rechts markant unterbricht. Man sieht eine steile hunderte Meter hohe Abbruchkante, die das Wettersteingebirge begrenzt. Doch dem ist nur dem Anschein nach so.

Seit einiger Zeit fahre ich öfters mit dem Zug nach Memmingen und sehe immer wieder mit erneuter Verwunderung, dass mein Blick begrenzt war. Denn nähert sich der Zug dem Lech und gibt damit den Blick auf die Ammerseer und Lechtaler Alpen frei, geht die scheinbare Abbruchkante der Zugspitze in eine weite Flanke über. Das Massiv zeigt sich aus dieser Sicht, zwar ebenso mächtig doch bei weitem nicht mehr so markant aufragend.

Perspektiven gründen auf Standpunkten. Wird ein Standpunkt verändert, ändert sich auch die Ansicht. Nicht das Betrachtete wandelt sich, sondern nur die Wahrnehmung des Betrachters. Für ihn kann ein solcher Perspektivwechsel erhellend sein, wobei die Erhellung sich auch als Enttäuschung einer eingefahrenen Sicht entpuppen kann. Wobei auch der Blickwinkel eine Rolle spielt. Der fokussierte Blick richtet sich auf die Details, während der Weitblick die gesamte Erscheinung erfasst. Beide Sichtweisen sind neben der Rundschau notwendig, um das Betrachtete in seiner Gesamtheit zu erfassen.

Allerdings ist das das Ideal. Manch einer kommt über Jahrzehnte nicht aus seinem Ort heraus und sieht somit stets nur den gleichen Prospekt, der ihm zu einer Weltsicht wird. Ein Tor, der deswegen die Sicht dieses Betrachters abwertet. Immanuel Kant hatte zum Beispiel das Weichbild Königsbergs nur selten verlassen; gleichwohl blickte er mit seiner Philosophie weit über seinen Horizont hinaus.

Diese kurze Betrachtung erhellt, ob kleinkariert oder weitblickend hängt nicht von der realen Perspektive ab. Es gibt weitgereiste Menschen, die ihre Engstirnigkeit nie überwanden und andererseits Leute, die aus ihrem Dorf nie herauskamen und gleichwohl eine Weisheit in sich tragen, als hätten sie die ganze Welt bis hinter die Sterne bereist und geschaut.

Und so wie der Blinde nichts sehen kann, vermag der Sehende nichts wahrhaftig zu schauen, solange er seine Sicht nicht hinterfragt, ob das, was er sieht, nicht doch anders sein könnte, als er es wahrnimmt. Hierzu aber braucht es die Tugend der Unbefangenheit, denn nur dann bewahrt man sich die innere Freiheit, eine andere Betrachtung annehmen zu wollen. Ohne diese Freiheit wären wir Menschen mit unserer Erkenntnis nicht dort, wo wir heute stehen. Allerdings sind für beachtlich viele gerade derlei Perspektiven verhasst und sie wünschen sich in eine Zeit zurück, wo allein der Blick vom Kirchturm sie bereits in Schwindel versetzen hätte können.

Geist ist Dada

Dada lux © Mala

Er ist ein kluger Mensch und versteht über Gott und die Welt zu parlieren. Nein, eigentlich, sagt er, verstünde er nur über die Welt zu parlieren, von dem anderen verstünde er nichts, sondern fabuliere nur. Wie auch, wie könne man über etwas reden, das man weder schauen noch überschauen kann.

Aber gerade diese Zurückhaltung mache seine Glaubwürdigkeit aus. Man habe den Eindruck, dass er, auch wenn er es verneine, doch tiefer und weiter sähe als andere.

Er lächelte, bedauernd aber irgendwie auch wissend, und sah in den Raum, als sähe er bis zum Horizont. Nein, meinte er, der Eindruck, den wir gewönnen, sei eine Selbsttäuschung. Es sei nur unser eigener Blick, den wir nicht wagten und deshalb auf ihn projizierten. Wir würden diesen eigenen Blick nur deshalb nicht wagen, weil wir, mit jeder Bewegung auch die Perspektive wechselten und somit Weite und Tiefe neu justieren müssten. Also blickten wir weg und suchten in anderen, im äußeren die Konstante, die wir in uns selbst vermissten. Doch die gäbe es dort auch nicht; wie wir längst durch eigene Erfahrung wüssten. Wir wandeln uns, die Welt wandelt sich, alles fließt und bleibt im Fluss.

Der Geist ist ebenso keine Konstante, die wie bei einem Altarbild als Täuberl vom Himmel strahlt, sondern der Geist ist die Wahrnehmung und die wandelt sich mit jedem Atemzug und mit jedem Schritt; und selbst die Wahrnehmung an sich ist nicht konstant, sondern gewinnt Weite und Tiefe solange man lernt. Lernen verändert uns und unsere Wahrheit. Wir werden allerdings hierdurch nicht wahrer, vollendeter, sondern nur anders und bestenfalls differenzierter. Ja, panta rhei … Eine jahrtausendealte Weisheit, die auch bei Nachdenklichen vor Heraklit ein Lichtlein aufleuchten ließ.

Ich atme. Atme die Luft. Atme meinen Nächsten. Atme die ganze Welt. Die Welt atmet mich. Alles ist Atem. Einatmen, ausatmen … Der Geist ist Atem. Atem ist Leben. Alles ist Leben. Stets.

Also ist der Geist so beständig, wie unbeständig, im steten Wandel. Verharrt er, verliert er sich. So wird er sich selbst zum Pfad, zum Fluss, der sich schlängelt und sich dabei immer wieder selbst erkundet. Auch wenn er seit Ewigkeiten dasselbe Bett durchströmt, ist er nie derselbe. Man kann nicht zweimal im selben Fluss baden, sagt eine andere ewige Weisheit. Erkunde ich sie, und nehme sie nicht als ein Wissen an, muss ich sie immer wieder neu erkunden, und erlebe sie somit immer wieder erneut als neu. Doch nie ist das Neue sich jemals gleich, andernfalls wäre es nicht neu, sondern bekannt.

Diese Form der steten Verneinung, um etwas zu bejahen, ist die Essenz des Geistes, und diese Art der Weltbetrachtung ist Dadaismus, der inmitten der Weltenkatastrophe des Ersten Weltkrieges entstand, indem man den kreativen Geist entfesselte. Er ist entwichen, so wie er schon immer entwichen ist, ein paar Künstler haben es bemerkt, das Publikum hat ihn nicht verstanden, sondern ihm Museen gebaut. – So ist es.

Vor 2000 Jahren im Tempel zu Jerusalem war das nicht anders. Für einen Moment war der Geist entfesselt und einige Hundert verstanden ihn, dann aber wurde er wieder eingefangen und durch Theologie in den Kirchen gefesselt. Für Augenblicke blitzt er immer wieder auf, doch er ist zu flüchtig, als dass er einem bleibt …

Der Tod ist honigsüß

Nichts © Matthias Mala

Eine steile Behauptung, der Tod sei honigsüß. Warum nicht chilischarf oder milchsauer? Wer weiß es schon? Es kam außer Christus jedenfalls niemand zurück. Schon deshalb dürfte die Auferstehung eine ziemliche Ente gewesen sein. Selbst wenn man den Reliquienhändlern glauben schenken wollte und annimmt, das Turiner Grabtuch wäre echt, lässt sich damit nichts beweisen. Jedenfalls umhüllte das zweidimensionale Abbild auf dem Tuch keinen dreidimensionalen Körper, außer wir kreieren ein neues Wunder und erzählen uns, Jesus war platt wie eine Flunder.

Was ich damit sagen will ist angesichts des nahenden Novembers mit seinen Totengedenktagen, wir wissen um den Tod – also vom Sterben und Verwesen -, aber wir wissen nichts vom Tod. Wir Lebende können nur die Schwelle des Todes betrachten, jedoch sie nur um unseres Lebens willen überschreiten. Die Toten haben das gleiche Problem, sie gelangen nicht mehr zurück ins Leben. Das löst auch kein Glaube an Reinkarnation; denn niemand konnte sich bislang an ein Leben vor seiner Geburt erinnern. Wer es dennoch behauptet fabuliert, was er glauben möchte; andernfalls sollte er zumindest imstande sein, auch seine frühkindliche Amnesie zu erhellen.

Redlich können wir nur sagen, wir wissen nicht, was vor uns war und was nach uns sein wird. Wir mögen darüber spekulieren und die Spekulation glauben, aber Glauben bleibt Unwissen, selbst Glaubensgewissheit ist nur ein besonders stabiler Glauben. Folglich können wir mit Sicherheit sagen, wir wissen nichts vom Nichtsein noch von dem ihm nach dem Leben folgenden Totsein. Blicken wir zudem auf das große Ganze, das Sein als solches in Gestalt unseres Universums, so wissen wir nur, es war vorher nicht und wird irgendwann nicht mehr sein. Sind wir darob bescheiden und bescheiden uns damit, dass wir vor unserem Leben nichts waren und nach ihm gleichfalls nichts sein werden, dann wissen wir mehr konkretes über den Tod, als alle Religionen und Gscheidhaferl, die mit dem allgemeinen Unwissen über ihn gar noch einen Riesenreibach machen.

Wäre derlei Lebensbetrachtung der Kern einer Religion, wäre wahrscheinlich vieles auf Erden einfacher und so manche Untat würde ihre Rechtfertigung verlieren. Jedenfalls würde so manche Spekulation aufhören, denn wir würden wohl das Paradox oder das Koan: „Nichts ist alles, und alles ist Nichts“, eher intuitiv leben und für uns ein ums andere Mal lösen; so dass wir am Ende unseres Lebens leichthin ins All-Einsein, sprich ins Nichtsein eingehen könnten.

Coronales

Janus © Matthias Mala

Dieser Tage, da die Seuche rund um den Globus zieht und wir zueinander auf Distanz gehen und gleichzeitig Nähe suchen … Was soll man sagen, wo wir gerade alles wieder und wieder auskehren, was wir an guten wie schlechten Eigenschaften besitzen: Nachbarschaftsgeist, Raffgier, Nächstenliebe und Selbstsucht, dazu noch Dankbarkeit und Feindseligkeit. In der Not entblößen sich die Charaktere bis auf ihren ebenso hässlichen wie schönen Kern. Da erwacht Janus in uns wieder, der doppelgesichtige römische Gott. Allerdings war es Janus Eigenschaft, sowohl Anfang als auch das Ende oder die beiden Seiten einer Medaille zu sehen, anstatt die Menschen anzuhalten, auf ihren eigenen zwiespältigen Charakter zu blicken. Diese Übung bleibt auch heute überwiegend der Seelenheilkunde vorbehalten, die dabei aber auch meist versagt, indem sie das Böse als Folge frühkindlicher Störungen betrachtet und es somit als eingefleischte Unreife entschuldigt. So kommt es, dass heute wie damals die Figur des Massenmörders faszinierender ist, als diejenige seiner Opfer. Dabei wäre es so einfach, würde man ein Charakterschwein als Charakterschwein bezeichnen und nicht als Opfer des Klammerbeutels, mit dem es als Säugling gepudert wurde.

Einfach …? Ja, einfach! Einschichtig, ein Fach, eine Lade, in ihr liegt die sichtbare Tat, das Böse und nicht sein Gegenteil. Diese Münze besitzt keine zweite Seite. Sie ist einseitig, und diese Einseitigkeit ist bei der Betrachtung der Täter entscheidend, um ihren Opfern gerecht zu werden. Niemand käme auf die Idee einem Philanthropen beim Lob seiner Wohltaten im gleichen Atemzug seine Schändlichkeiten vorzuhalten. Bei Tätern neigen wir hingegen beinahe zwanghaft dazu, ihnen auch gute Züge nachzusagen, als ob wir so ihre Schlechtigkeit eingrenzen könnten. Damit aber missachten wir ihre Opfer, die nichts gutes durch sie erfuhren, und werden letztlich somit niemanden gerecht. Dabei sollten wir allein die Tat und ihre Folgen wiegen, nur so würden wir dem eigentlichen Ereignis gerecht. – Warum aber vermeiden wir das?

Weil letztlich all unsere Handlungen in unseren Absichten begründet sind. So geben sich manche betont weltoffen, um ihren eigene Kleinkariertheit zu kaschieren. Andere geben sich feindselig, um die gleiche Erbärmlichkeit vor sich zu vertuschen. Wobei uns die eigene Absicht häufig selbst verborgen bleibt, weil allein das vorgetragene Motiv uns ziert, während der tiefere Blick uns als selbstsüchtig, schwach und berechnend bloßstellen könnte. So zeigen wir Milde, gegenüber der bösen Tat, weil wir uns selbst korrumpieren. Schließlich sind wir Täter wie Opfer in einem. Wir sind die Janusköpfigen, die hinter ihrer honorigen Fassade die Bestie verbergen. So haben wir Deutsche zwar nach den Massenmorden, die wir allein begingen und nicht – wie eine gängige Floskel vorgaukelt – in unserem Namen begangen worden waren, die Verjährungsfrist für Mord nachträglich aufgehoben. Wenige Jahre darauf aber ermöglichte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, dass die lebenslängliche Strafe hierfür faktisch auf 15 Jahre Gefängnis reduziert wurde. Damit entschuldeten sich die Kinder der Massenmörder gewissermaßen selbst.

Um unserer eigenen Schlechtigkeit willen, stifteten wir das Gute, um zu heilen, was das Böse in uns anrichtete. Doch in Wahrheit beförderten wir nur Bitternis und Scheinheiligkeit. So wurden Täter zu Gerechten und Opfer zu Vergessenen, denen man sich zu Stichtagen pflichtschuldigst erinnerte. 2002 fand sich die Bundesrepublik großzügig bereit, einstigen Zwangsarbeitern im Ghetto Rentenleistungen in Aussicht zu stellen. 2014 waren 90% der Anträge der Zwangsarbeiter abgelehnt worden, da zum einen Rentenanwartschaften nur durch freiwillige Arbeit entstehen konnten, und zum anderen Kinder unter 14 Jahren gar nicht arbeiten durften und somit ebenfalls keine Rentenansprüche erwerben konnten (Quelle).

In diesen Tagen, wo wirkliche Not und scheinbarer Anspruch miteinander wetteifern, werden überspannte Seelen auf Flitzebogen gesehnt, um böse Pfeile abzusenden … Es wird gelogen, weil Absichten getarnt, und manch einer kocht sein eigenes Süppchen wie immer, wenn eine Krise neue Chancen bietet, die man noch nicht überblickt. Dann kommt auch Janus wieder ins Spiel, denn man versucht, aus dem Schatten ins Licht zu linsen und seine künftigen Pfründe zu fundieren. Oder anders gesagt, man erfindet des Rad wieder neu, auf das man seine Widersacher spannt, um ihnen die Knochen zu brechen, und schaut dazu ganz unbedarft aus der Wäsche. Womit selbst im Umbruch der Krise alles beim alten bleibt. Und wir Deutschen haben darin nun wirklich gründliche Erfahrung.

Vor der Krise ist in der Krise. In der Krise ist nach der Krise, und nach der Krise ist vor der Krise. Wer zu spät Toilettenpapier bunkerte, musste sich seinen Hintern wie zu Napoleons Zeiten am Brunnen waschen. Offensichtlich bleiben wir im Kern dieselben, egal wie sich die Zeiten ändern. Darum sollten wir auch unsere Hoffnungen auf eine bessere Welt aufgeben. Jedenfalls dürfen wir uns glücklich schätzen, dass wir seit 1945 bis heute so glimpflich über die Runden kamen. Betrachten wir zudem den mythischen Januskopf genauer, erkennen wir, dass er von beiden Seiten gleich auszieht. Beide Seiten seiner Medaille gleichen sich. Die Zeiten ändern sich, so wie sie sich grundsätzlich wiederholen.

Was sich gewiss ändert ist, dass wir dieselben Fehler nicht wiederholen können, dafür aber die gleichen, und die Variationen des gleichen sind, blicken wir nur in die Geschichte, unendlich. Andernfalls würden solche Bilder wie das des doppelköpfigen Janus über die Zeit unverständlich. Es waren übrigens die Römer, die ihn schöpften. Bei den alten Griechen gab es noch keine Idee für ihn. Angesichts dieses mythologischen Fortschrittes in der Antike bin ich selbst närrisch genug, zu glauben, dass über die Zeit Vernunft und Mitempfinden in den Menschen zunehmen; obgleich die nackten Zahlen im großen und ganzen dagegen sprechen. Doch im kleinen Hier und Jetzt hat sich die Welt weit mehr zum guten verändert. Das schließt atavistische Ausbrüche nicht aus, wie wir sie jetzt und danach immer wieder erleben werden. – Bleiben wir gesund und werden wir vernünftig …

Lichtbringer

Ein weiterer Blogbeitrag zum Sinn des Lebens. Er bringt wenig neues, außer ein paar mäandernde Gedanken zur zeitlosen Frage: Gibt es Gott, und wenn nicht, was macht sonst noch Sinn? Wobei ich mich der Gottesfrage enthalte, da sei schon Doktor Google vor, er bietet auf sie binnen 0,46 Sekunden 234.000 Antworten, was so gut wie keine ist. Denn verspricht ein Problem so viele Lösungen, kann es keines sein. Oder anders gesagt, es bleibt sich schnurzegal, ob es einen Gott gibt oder nicht. Hingegen ist es nicht egal, ob es Priester, Mullahs, Popen oder Pfarrer gibt; denn sie sind die Ideologen, die die Gedanken und Herzen der Menschen mit ihrer Vorstellung von Gott und ihren Ihm zugedachten Gesetzen vergiften. Gleich kommunistischer Politkommissare trennen sie die Menschen in Recht- und Ungläubige. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Sie kungeln mit den Mächtigen und segnen deren Waffen, mit denen sie notfalls auch das eigene Volk über den Haufen kartätschen lassen. Die Schandtaten ihrer Gläubigen zu rechtfertigen und ihnen dabei noch ein gutes Gefühl zu vermitteln, ist somit der eigentliche Sinn von Gottheiten.

Allein deswegen macht die Frage nach einem realen Gott so viel Sinn wie die Frage nach dem ewigen Leben. Wir haben nur dieses Leben, und es ist nicht zu übersehen, dass es für jeden von uns endlich ist. Allerdings haben sich einige Gottessucher eine besondere Geschichte ausgedacht. Sie ist so besonders, dass die Kirche sie mit Stumpf und Stiel tilgen wollte, auf dass niemand mehr an sie denken möge; nur es war wie alles, was aus der Büchse der Pandora einmal in die Welt gesetzt wurde, nicht mehr rückholbar. Ich meine die Geschichte von Hephaistos, Vulkan oder Luzifer. Sie waren die Lichtbringer, die dem Menschen das Feuer brachten und somit die Zivilisation stifteten. Hephaistos und Vulkan waren, als das Christentum begann, schon sieche Götter. Luzifer hingegen entstand wie das Christentum für dieselbe Mär aus den Hirngespinsten weltabgewandter Gnostiker. Er war der Lichtbringer, der sich zu weit aus der himmlischen Sphäre lehnte, weil er meinte, sein Licht genüge ihm. So kam es, dass ihn die Dunkelheit einfangen konnte, wodurch es zu einem Weltbeben kam. Denn der Demiurg – der Geist der Dunkelheit – benützte das himmlische Licht, um ein Abbild der strahlenden Schöpfung zu schaffen. So entstand das Universum und mit ihm das Jammertal der Erde. Doch das Licht konnte er nicht tilgen. Es strahlt seitdem als Seelenfunken in jedem Menschen fort. Folglich wären wir Menschen weil luzide Funken alle Teufelsbrut.

Versöhnend ist allerdings, dass wir Kinder Luzifers unser Licht in den Himmel zurücktragen werden. So verspricht es uns jedenfalls das Christentum, das als einzige gnostische Sekte der Zeitenwende überlebte. Jetzt zu Ostern feiern wir wie zu Weihnachten auch ein Lichterfest, das die Überwindung des Demiurgen, der Dunkelheit, symbolisiert. Christus führt die Seelen ins Licht zurück. In dieser Pose wird er in den nordischen Kirchen abgebildet. Christus als Lichtbringer im Strahlenkranz seiner Mandorla. Doch das ist eine täuschende Symbolik; denn er bringt kein Licht, sondern entführt es. Er nimmt es mit. Entsprechend war das Christentum über 2000 Jahre eine Ideologie der Verdummung. Jedenfalls bis in die Renaissance hinein, war die Kirche so mächtig, dass sie das Volk für blöd verkaufen konnte. Und wie reagierte sie auf die dann beginnende Aufklärung? Mit Hexenverbrennung! Einem 150 Jahre anhaltenden Terror gegen die Bevölkerung, denn es brannten 60.000 Frauen wie Männer im Verhältnis 3:2.

Nein, Christus war kein Luzifer, kein Lichtbringer. Er war kein Menschenfreund, der uns Erkenntnis – Gnosis – brachte. Er war nur ein herrschsüchtiger Rebell, der sich nach seiner Scheinhinrichtung nach Kaschmir verzog[1], und somit ein Gott weniger, der auf Erden wandelte. Sein Eklektizismus bediente die Sehnsüchte aller, die durch die römische Herrschaft erniedrigt worden waren, indem er ihnen den Ausgleich ihrer Schmach im Jenseits, also im kühlen Grab versprach. Erkenntnis aber brachte er nicht. Jedenfalls ist von ihm keine naturwissenschaftliche Einsicht oder gesellschaftspolitische These überliefert, die es nicht schon vor ihm gab – außer vielleicht, dass er der Natur trotzte und über Wasser ging und von den Toten auferstand. Die womöglich dahinterliegenden Gesetze der Quantenmechanik behielt er jedenfalls für sich.

Erkenntnis und nicht Glaube oder Dogma ist aber die Eigenschaft, die der mythische Luzifer in die Welt trug. Sie war tatsächlich das Licht der Menschheit und könnte es auch heute sein, wäre der Mensch mitgegangen. Doch er tat es nicht. Die meisten Menschen blieben irgendeiner Ideologie verhaftet, egal wie der Ismus auch heißt, sie folgen dem Satan, dem Seth, dem Gott der Nacht, der Dunkelheit. Schließlich umnachtet jeder Ismus den Geist und die Erkenntnis. Folgerichtig sind auch jene, die sich Satanisten nennen, umnachtete. Ja, erst wenn wir auch den Mythos des Luzifers zerbrechen, haben wir eine Chance frei zu werden. Was bleibt ist lernen, und bereit sein, Gelerntes zu verwerfen, sobald es dank besserer Erkenntnis widerlegt wurde. Allerdings sollten wir auch hier wachsam bleiben, denn unsere Wissenschaften sind inzwischen von Ideologien durchseucht, unsere Hochschulen sind zu einem Hort totalitärer Volkserzieher geworden, wie sie Orwell vor über 70 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg skizzierte. Und es gab seitdem trotz faktischer Erkenntnisse keine Luft, keine bessere Zeit, kein Licht von Erkenntnis. Wir stolperten gut gebildet von einer ideologischen Verblendung zur nächsten: McCarthyismus, Maoismus, Sozialismus, Ökologismus, Neoliberalismus, Islamismus, Feminismus, Genderismus usw. usf.

Jüngst las ich Texte von Jiddu Krishnamurti, die jemand aus dem Kreis seiner Nachlasspfleger ausgewählt hatte, um die Notwendigkeit der Verbreitung seiner Lehre für den Weltfrieden zu untermauern. Ich musste lachen, ob des Dünkels und der Hirnverdreherei, die da durch die Zeilen spukte. Und ich lachte zugleich darüber, mit welch bitterem Ernst ich einst selbst seine Gedanken wie eine Monstranz vor mir her trug. Dabei ist das Leben viel einfacher und umso viel schöner, solange man es schlicht lebt, solange man in seinem Fluss bleibt. Es trägt einen von der Quelle bis zur Mündung. Je weniger Ismen es für einen selbst stauen, umso wilder, tiefer, kräftiger und erquickender ist es in jedem Moment.

Ganz besonders bedeutsam ist, dass wir es von Anfang fließen lassen, also unsere Kinder nicht in unsere Fußstapfen zwingen, sondern ihnen stets die Wahl lassen, das Leben selbst original zu entdecken. Leider tun wir das nicht. Noch im Januar verschreckten wir sie mit der Klimakatastrophe, heute ist es eine Pandemie, morgen wird es die Wirtschaftskrise und übermorgen ein Krieg sein. Vor lauter Phantasmen und vor lauter Angst überantworten wir sie Wahrheitsministerien, die im Grunde wir selbst sind, weil wir sie nicht loslassen wollen, weil wir durch sie unser eigenes sinnentleertes Leben perpetuieren wollen. Ja, wir wollen es nicht dulden, dass andere ihre und nicht unsere Wahrheit leben. Wir brauchen die Mitträger unserer Meme[2], damit wir durch sie Beständigkeit und vermeintliche Fortdauer erhalten. Was letztlich nur verblasener Dünkel ist. Das Leben ist unbeständig, panta rhei, alles fließt. Das zuzulassen macht Sinn. Sich selbst der Sinnlosigkeit anheim zu geben, ist demnach höchster Lebenssinn. Denn nichts ist lebendiger als das Leben selbst. Baden wir in ihm, lassen wir uns forttragen; selbst wenn die äußeren Umstände bitter sind, ist der Lebensstrom die einzige unverfälschte Wahrheit. Ihm dürfen wir vertrauen. Zünden wir an seiner Wahrheit unsere Laterne an.

[1] Jesusgrab Srinagar https://de.wikipedia.org/wiki/Yuz_Asaf

[2] Meme sind soziokulturelle Bewusstseinsinhalte https://de.wikipedia.org/wiki/Mem

Korona

Eine Korona ist der feurige Kranz der Sonne, der Schein um Sonne oder Mond oder ein „Regenbogen“ bei klarem Himmel. Das Lichtkleid eines Menschen, seine Aura, wird ebenfalls so genannt. Der Strahlenkranz ums Haupt eines Guru oder Heiligen ist die Corona radiata. Ja, Korona ist der Glorienschein.

Derzeit plagt uns allerdings nicht das physische Scheinen der Gestirne noch das spirituelle Scheinen irgendwelcher Sonderlinge, sondern ein Coronavirus. Auch hier geht es viel um Scheinen, also um Annahmen und ein jeder ist Schmalspurexperte in Epidemiologie, Virologie und Pneumologie.

Andererseits ist alles Scheinen. Maya nennen es die Buddhisten und Hindis; wobei bezeichnenderweise die Mutter des Siddhartha Gautama ebenfalls Maya hieß. Sie empfing den Buddha durch ihn selbst, indem dieser in Gestalt eines weißen Elefanten sie an der rechten Seite berührte und in sie überging – sozusagen pränataler Inzest. Zehn Monate später gebar Maya Siddhartha im stehen ebenfalls aus ihrer rechten Seite. Der Junge konnte gleich nach seiner Geburt laufen und sprechen. Sieben Tage nach seiner Geburt starb seine Gebärerin.

Nun Coronaviren sind echt und nicht nur Schein. Die Welt ist ebenso echt und nicht nur Schein. Und wenn Sie an Corona erkranken, erkranken Sie nicht nur zum Schein. Ebenso sind all die Scheine, die die westlichen Regierungen jetzt über ihre zertrümmerte Ökonomie regnen lassen, nicht nur Schein, obwohl sie mehr Maya als Gold sind. Gleichwohl sollte man den Schein auch hier nicht verachten. Er scheint Schutz zu bieten.

Darum lange Rede kurzer Sinn, lassen Sie es für sich scheinen. Wie? Indem Sie sich eine spirituelle Maske basteln. Sie hilft ebenso wie echte Masken. Sie hilft zwar nicht gegen Ihre Infektion, doch dafür schützt sie ihre Mitmenschen davor, dass Sie sie infizieren. So schützt sich die Gemeinschaft insgesamt. Indem ein jeder andere schützt, schützet ein jeder sich selbst. Das ist ein wunderschönes Bild für Nächstenliebe. Wären die Kirchen nicht wegen verordneter sozialer Distanz geschlossen, wäre es ein erbauendes Gleichnis für die Prediger.

Also greife ich es ebenfalls auf und ermuntere uns alle, uns künftig weniger geistlich und geistig infizieren zu wollen. Binden wir uns eine Maske vor, damit wir unsere ideologischen Viren und Bazillen nicht ungebremst in die Welt schleudern; denn so wie wir in letzter Zeit hierzulande miteinander umgingen, vergifteten wir uns nur gegenseitig, indem wir wie Kammerjäger versuchten, die scheinbar giftigen Gedanken in der Gedankenwelt unserer Mitmenschen zu desinfizieren. Dabei banden sich all jene, die das versuchten, einen Glorienschein um. Denn sie wähnten sich im Besitz der Wahrheit. Das derlei Wähnen allerdings ein erster Baustein zu Dummheit ist, blendeten sie im Schein ihrer Selbstgerechtigkeit aus. Da aber die Dummheit die Schwester der Boshaftigkeit ist, wurden in der Tat die Gedanken und damit die Welt unserer Erscheinung, unser Maya, vergiftet.

Ich habe darum wenig Hoffnung, dass es nach der Coronakrise besser wird. Mithin rette ich mich in mein Scheinen: und das ist die Kunst. Das Bild oben ist beispielhaft für meinen neuen Ansatz, den ich aktuell im Wahnsinn dieser Welt für mich kreierte. Ich male Kreise aus der freien Hand. Möglichst perfekt und deswegen perfekt unperfekt und somit vollkommen menschlich. Alsdann, bleiben Sie gesund!

Gedankenleere

Gedankenleere © Mala

Ihrer Lebtag strebte sie nach Erleuchtung – allerdings nicht nach Einsichten durch Erkenntnis, also nicht nach mehr und tieferem Wissen, das ihr so manchen weltlichen Zusammenhang erhellte, sondern einzig nach spiritueller Erleuchtung. Wobei sie daran verschiedene Bedingungen knüpfte. Hierfür klaubte sie sich aus östlichen Religionen und abendländischer Esoterik ihren maßgeschneiderten Synkretismus zusammen. Ein wenige Hinduismus, ein wenige Buddhismus aller drei Fahrzeuge und Weisheiten von so manchem Guru. Sie nahm an vielen Retreats teil, fastete, schwieg und meditierte alleine wie in Gruppen. Ihre Idee war ihre unmittelbare Wahrnehmung durch Gedankenlosigkeit zu schulen. Jedenfalls meinte sie die himmlische Wahrheit der Schöpfung teile sich nur einem entleerten Geist mit. Entleert sei ein Geist, wenn er nur noch schaue, aber das geschaute nicht bedenke, denn alle Gedanken seien Trug. Man schaute und erkannte, von keinem Gedanken getrübt, die reine Wahrheit. Auf meine Frage hin, wie sie denn dann im erleuchteten Zustand wieder nach Hause fände, schimpfte sie mich einen Defätisten.

Andererseits half ihr ihre Weltsicht auch, sich von störendem Gedankengut abzugrenzen. Denn ihre Gedanken basierten auf Einsichten, die sie durch ihre Einkehr gewann; sie waren also inspiriert und somit von göttlicher Natur, zumindest himmlisch befruchtet – was auch immer sie damit meinte. So lebte sie angenehm und ungestört in ihrer Filterblase, hatte Freunde, die ihre Weltsicht teilten und ebenso kritisches nicht zuließen. Auf diese Weise sorgten sie gemeinsam auch um ihr eigenes Wohlergehen, indem sie Wasser von rechts auf links polten, Strichkodes auf Lebensmittel energetisch neutralisierten und ähnlichen Humbug mehr. Es war eine gemütlich Welt, die sie sich da schufen, vergleichbar mit der fiktiven Grafschaft Midsomer des Inspektors Barnaby.

Inzwischen ist sie alt und dement geworden. Ihre Freundinnen haben sich zerstreut, sie starben oder sind gleichfalls dement oder haben den Kontakt aufgegeben, da sie nichts mehr zur Freundschaft beitragen kann. Im Grunde eine eigene Art seelischer Grausamkeit: Vernachlässigung durch Alter. Jedenfalls sitzt oder liegt sie auf ihrer Couch oder in ihrem Bett und schaut in die Welt mit großen Augen. Es ist ein meist leerer, gelegentlich suchender Blick, als sähe sie einen Gedanken, den sie zwar denken aber nicht erhaschen möchte. So lebt sie sich in sich zurückgezogen und ist zumindest dahingehend gedankenleer, als dass sie anscheinend keinen Gedanken mehr verfolgt. Im Grunde hat sie nun jenen Zustand erreicht, um den sie sich zeitlebens bemüht hatte. Allerdings ist dieserart geistige Reizlosigkeit nicht die Art der Vergeistigung, die ihr einst vorschwebte.

So ist sie am Ende ihres Lebens, das ein langer Lebensweg war, erschöpft. Ihrem Dasein, ihrem Status quo eilte sie dabei stets davon, um sich in einem Ideal zu veredeln. Sie ist müde geworden und würde gerne sterben, wenn ihr Leib ihre Seele nicht weiter fesselte. Manchmal sagt sie spontan: Ich will hier raus, und meint damit wohl, dass sie als Seele in ein Jenseits frei von quälender Leiblichkeit entfleuchen möchte. Wenn sie könnte, würde sie ihrem Lebensziel wahrscheinlich wie gehabt wieder folgen. Sie war zufrieden, solange sie Gedankenleere üben konnte, und als sie durch Demenz eintrat, hatte sie Ihre Urteilskraft darüber verloren. Es sind nur noch Oberflächlichkeiten, die ihr einfallen, die sie anders hätten machen sollen, ansonsten scheint sie mit sich zufrieden zu sein.

Den Weg, den sie ging, war belanglos, er war nicht schlecht und auch nicht gut, es war ein Weg, so wie wir ihn alle gehen, ein wenig angepasst, ein wenig eigen. Immer war auch Ablenkung dabei, um seine Belanglosigkeit ertragen zu können. Und Ablenkung gleich welcher Art war ihr auch eine Art von Meditation, um nicht schon vor dem Ende lebensmüde zu werden. Fernsehen war ihr so eine Mediationsmaschine, um sich selbst zu entkommen. Heute sind es Smartphone und „soziale“ Netzwerke. Schauen wir in die öffentlichen Verkehrsmittel, wie die Menschen einander weltweit entrücken. Abgestöpselt fixieren sie sich auf den Bildschirm ihres Wischi-Waschis, blicken nicht mehr auf, sondern bleiben in sich eingekehrt. So werden sie alt und vergehen irgendwann.

Es ist alles so unbedeutend, so gänzlich unbedeutend …

Jetzt hat sie das große Nichts, das Samadhi erreicht, das diskursive Denken ist mit sich selbst erloschen. Glücklich ist sie erkennbar nicht. Falls das Erleuchtung ist, verzichte ich lieber darauf.

Blasen, nichts als Blasen

Von Mtag – Eigenes Werk, CC0,

In der Ludwigskirche in München findet sich das zweitgrößte Altarfresko der Welt. Es wurde von Peter von Cornelius gemalt, der bei den Nazarenern, einer romantische Künstlergruppierung, maßgebend war. Das Fresko zeigt das Jüngste Gericht, oder auf die sozialen Internetmedien übertragen die Filterblase Jesus, samt seiner Trolle. Denn zu seiner Rechten fahren die Guten, vorwiegend Frauen und Kleriker in den Himmel, während zu seiner Linken die Sünder in die Hölle fallen. Dazu ein illustratives Aperçu, zur Linken des Herrn, fährt auch der Geheimrat Goethe (zweite Reihe von unten rechts) ob seiner Völlerei ins Fegefeuer. Allerdings ist sein Körper gut definiert, was wohl eher als eine zynisch paradoxe Anspielung auf seine tatsächliche Leibesfülle zu verstehen ist.

Jedenfalls ist in diesem Fresko alles enthalten, was der Heiland für seine funktionierende Welt brauchte: Jünger und Feinde. Feinde waren alle, die nicht seine Anhänger waren, also Römer und bibeltreue Juden, die sich von seinen kruden Ideen unbeeindruckt zeigten. Krude waren seine Ideen aus jüdischer Sicht allemal. Als Prophet hätte man ihn womöglich noch toleriert, aber als Gottessohn niemals. Das war Blasphemie. Weiterlesen