Als das Kreißen meines Wahnsinns endete

High © M. Mala

Es musste etwas mit mir geschehen. Nur was? Jedenfalls ging es so nicht mehr weiter. Der ewige Kreislauf von Rückfall, kurzer Trockenphase und wieder Rückfall musste durchbro­chen werden. Nur wie? Drehte sich dieses Rad doch immer schneller. – Oder nicht? War nicht die letzte drogenfreie Spanne, die längste, die ich jemals durchlebte? Zehn saubere Monate.

Zehn schreckliche Monate. Jeden Tag fieberte ich nach der Droge. Alkohol, Schlafmit­tel, Speed, Tranquilizer, Haschisch, Heroin, egal was – jeden Tag und jede Stunde dachte ich daran. Dachte an die wenigen glücklichen Stunden mit der Droge und hoffte auf eine Gelegenheit, die es mir ermöglichte, Drogen zu nehmen. Hoffte auf ein Geschehen, das schrecklich genug war, um Verständnis für meinen Rausch in den Augen der anderen zu finden. Und so forderte ich das Schicksal heraus, mich zu schlagen, und wünschte mir jede Unbill herbei. Ja, ich spielte sogar mit Leib und Leben meines kleinen Sohnes. Setzte ihn so manches mal offenen Auges einer Gefahr aus, und verbrämte meine bitterböse Hoffnung auf ein Unglück mit der pädagogischen Bauernweisheit: Wer nicht hören will, muss fühlen.

Doch das Schicksal schlug mich nicht. Und so widerstand ich Tag um Tag meinem wü­tenden Suchtdruck. Und jede Nacht, die ich mich sauber zu Bett legte, empfand ich Freu­de darüber, widerstanden zu haben; doch zugleich verwünschte ich den vergangenen Tag, der mir nur als anhaltender Schmerz und fortwährendes Elend erschien. Und in mir wuchs die dürstende Trauer, keine Drogen mehr nehmen zu können. Doch ich widerstand.

Ja, ich widerstand, weil ich um mein Leben fürchtete. Endete doch der letzte Rückfall mit einer Überdosis auf der Intensivstation. Und ich wusste, bereits der nächste Rausch könnte tödlich sein. Also quälte ich mich angstvoll, nach der Droge fiebernd, von einem Tag zum anderen und hoffte auf einen Anlass, einen Grund, mit dem ich den ersehnten Rausch hätte rechtfertigen können. Doch dieser Anlass stellte sich nicht ein und zugleich erinnerte ich mich der Worte meiner Freunde in der Selbsthilfegruppe: Es gibt keinen Grund, Drogen zu nehmen, außer du willst es.

Wollte ich es? Ja, ich wollte es! Und der Suchtdruck, mein quälendes Verlangen nach Drogen, wuchs. Obwohl längst entzogen litt ich unter heftigen Entzugssymptomen. Meine Muskeln und Glieder schmerzten mir und meine Gedanken verengten sich auf die eine Fra­ge: Holst du dir Stoff oder nicht? Auf Schritt und Tritt betete ich sie mir paternosterartig vor und schob zugleich besinnungslos die Antwort hinterher: Heute nicht! – Denn noch war mei­ne tödliche Furcht vor der Droge um ein Quentchen größer als meine Gier.

Doch es kam der Tag, da mein unstillbares Verlangen einen Deut mächtiger war als meine Todesangst. Es war ein ganz normaler Herbsttag, mild und sonnig. Und es gab kein­en Anlass. Kein erhoffter Schrecken war eingetreten. Es gab keinen Grund, Drogen zu neh­men. Nur ich wollte es. Und so verließ ich den Weg. Bog nach links ab. Ging in den Park und kaufte mir Haschisch. Ich hatte den Kampf verloren. Doch hatte ich auch kapituliert?

Nein! – Der langersehnte Rausch war fürchterlich. Nichts von dem erträumten Genuss, nichts von der ersehnten Leichtigkeit. Scham und tiefe Niedergeschlagenheit machten mich frösteln. Grauer kalter Rausch. Ich hatte mein Leben wieder einmal aus der Hand gegeben. Jetzt führte mich erneut die Droge. Und ich saß abermals auf dem alten Karussell. Dem Haschisch folgten Tabletten, den Tabletten Heroin und dem Heroin wiederum Alkohol. Und voller Schreck griff ich wieder zum Haschisch, und eine weitere Runde begann. Und von Runde zu Runde drehte sich das Drogenkarussell schneller und schneller. Es war kein Hal­ten mehr, längst schlitterte ich wie gehabt im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Und wieder hoffte ich. Hoffte, das Karussell möge niemals anhalten, und zugleich wünschte ich mir, abspringen zu können. Meine Zerrissenheit war dieselbe wie wenige Tage zuvor, als ich meine Trockenheit verwünschte. Nur war ich jetzt auf der dunklen Seite, stand ohnmäch­tig unter dem Diktat der Droge und hoffte, irgendwer, irgendwas möge mich erlösen. Doch nur wer oder was sollte das sein? Und wünschte ich auch wirkliche Erlösung, oder wollte ich nur eine Pause? Eine weitere qualvolle Pause, bevor das Elend seinen Fortgang nähme? Tief in mir spürte ich, dass meine Hoffnung mich trog. Verlängerte sie doch nur mein Leiden. Doch wie anders? Es musste doch einen Ausweg geben. Ist Hoffnung denn nicht an jeder Straßenecke wohlfeil? Hofft nicht ein jeder auf Besserung seiner Lebensumstände? Und würde ich alle Hoffnung fahren lassen, wäre ich dann nicht gewiss gänzlich verloren?

Doch auf was hoffte ich denn wirklich? Um dies zu erkennen, musste ich erst einige Monate sauber sein. Erst dann sollte mir klar werden, wie unberechtigt und trügerisch meine Hoffnungen waren; wie ich mir durch sie den Weg in die Sauberkeit verbaute. So wünschte ich mir, als ich Qualen mit der Droge litt, voll Inbrunst, jemand möge kommen und mich ans Licht führen. Ein guter, weiser Mann sollte es sein. Ein verständnisvoller Vater, der mich be­hüten und mir mit mildem Tadel die Droge aus der Hand nehmen würde, sobald ich rückfäl­lig werden würde. Mit gütigen Augen sollte er über meine Sauberkeit wachen. Aber was wäre gewesen, hätte das Geschick mir eine solche Person an die Seite gestellt?

Ich hätte sie ebenso belogen und betrogen wie all jene, die an mich geglaubt und mit mir gehofft hatten. Und deren gab es viele im Laufe meiner Drogenkarriere. Eltern, Ver­wandte, Vorgesetzte, Psychologen und nicht zuletzt meine Frau. Welch traurige Geschich­ten etwa erzählte ich den um mich bemühten Psychologen der Drogenberatung. Wieviel Verständnis brachte er für mich auf, ja manchmal weinte er sogar mit mir. Und doch war alles nur Mache, windiges Theater meinerseits. Kaum hatte ich ihm den Rücken gekehrt, wähnte ich mich so weit geläutert, eine weitere Runde mit der Droge drehen zu können. Außerdem sah ich in ihm wie in allen anderen, die noch nicht resigniert hatten, eine Rück­versicherung, mit deren Hilfe ich auch den nächsten Rückfall noch überstehen vermochte. Sie alle waren mein Joker, den ich in tiefster Not ziehen konnte. Der Funke Hoffnung in ihren Augen, wurde mir zur Gewissheit, dass ich noch nicht verloren war, dass ich noch eine Chance mit der Droge hatte.

Dabei hatte ich längst alle Chancen verspielt. Mein Hoffen war in Wirklichkeit ohne Zu­versicht. Es war nur ein billiger Zauber, mit dem ich meinen Rausch bemäntelte. Im Grunde meines Herzens aber war ich hoffnungslos und zehrte nur noch von der Hoffnung der ande­ren. Ich war auf der Flucht vor mir selbst, und meine windigen Hoffnungen waren meine Fluchthelfer: Hoffnung auf den weisen Vater; Hoffnung auf ein mich veränderndes Gesche­hen; Hoffnung auf Wandlung durch Eingebung; Hoffnung, doch endlich einmal kontrolliert Drogen konsumieren zu können. All diese wirren Hoffnungen hatten nur den einen Zweck, meinen Blick von mir, von dem was jetzt war, abzulenken und ihn auf ein unbestimmtes Ziel zu richten, zu dem ich mir Mächtigkeit über die Droge zusprach. Und so verschob ich auch meine Verantwortung für mich selbst immer wieder auf einen nächsten Tag oder gab sie an­deren anheim. Letztere Möglichkeit zerstob, als sich auch meine Frau, der einzige Mensch, der noch an mich und meine leeren Versprechungen glaubte, von mir abwendete. Es war in der zweiten oder dritten Woche meines Rückfalles. Ich jobte damals als Nachtwächter. Zu mehr war ich nicht mehr fähig. Ich hatte Wochenenddienst in einer Notrufzentrale. Das be­deutete, ich musste ein paar auflaufende automatische Alarmmeldungen entgegennehmen und weiterleiten. Dazu saß ich 60 öde Stunden allein in einem hässlichen Keller vor einigen Telefonapparaten und einem Karteikasten. Zuvor hatte ich mich reichlich mit Haschisch ein­gedeckt und paffte nun ein Pfeifchen nach dem anderen. Am Samstag Nachmittag besuchte mich meine Frau. Sie musste mich nur ansehen, um zu wissen, was mit mir los war. Und als ich anhob, zu erklären und das abgenudelte Lied von „Morgen höre ich auf“ zu singen, wink­te sie nur mit Tränen in den Augen ab. Nein, ich musste ihr nichts mehr vormachen. Der Fun­ke Hoffnung, den ich bislang in Ihren Augen stets aufs neue anzufachen vermochte, war er­loschen. Mach was du willst, mach weiter so und erzähle mir nichts mehr, meinte sie. Dann ging sie. Sie sagte es ohne Drohung und ohne Vorwurf. Sie sagte es ohne jegliche Hoffnung mehr für mich. – Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Doch es gibt keine hoffnungslo­sen Fälle. Solange ein Süchtiger noch in den Schuhen steht, hat er auch die Chance, sauber zu werden. Auch, oder gerade dann, wenn er die­se Chance offensichtlich nicht mehr hat. Dies ist gewiss paradox. Doch egal, mir widerfuhr dieses Paradoxon, so wie es Abertausenden meiner suchtkranken Schicksalsgefährten widerfuhr; ist doch die Suchtkrankheit in sich widersprüchlich. Ich will, und ich will nicht! Das ewige Gezerre, gleich­gültig auf welcher Seite der Medaille ich mich just befinde. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten, diesen Widerspruch zu tragen: Entweder drogenfrei in seliger Nüchternheit oder mit als auch ohne Drogen in bitterer Verzweiflung. Und es war abgrund­tiefe Verzweiflung, die mich überkam, als ich alleine zurückblieb.

Mechanisch drehte ich mir einen Joint. Doch der Rausch brachte keine Linderung mehr. Er war nur kalt und grau. Ich weinte. Zugleich aber spürte ich, dass jede Träne eine Lüge war. Verlogenes Selbstmitleid, mit dem ich mich selbst beeindrucken wollte. Doch ich war mir ein schlechtes Publikum, schließlich durchschaute ich mein windiges Spiel. Die Ver­zweiflung über mich und mein Schicksal brannte mich aus. Wünschte ich mir Sauberkeit herbei, schmerzte mich der absehbare Verlust der Droge, und sehnte ich mich nach einer Fortsetzung meines Daseins mit der Droge, litt ich unter der Aussichtslosigkeit dieser Per­spektive. Es war pure, nackte Verzweiflung die mich schüttelte. Zwei verworfene Fälle. Ich kannte nur diese beiden Alternativen, Droge oder nicht Droge, und die eine wie die andere erschien mir nicht lebenswert. Es gab keinen Ausweg mehr. Ich saß in der Falle. Als ich den nächsten Joint ansteckte, wurde mir mit einem Male ganz deutlich: Das ist es! Das ist dein Leben. So wird es bleiben. Drogen, Drogen und nochmals Drogen. Vielleicht mal eine kurze, zufällige Strecke der Sauberkeit, mehr nicht. Ansonsten elender Rausch bis zum Ende. Und das Ende, auch das sah ich, war nicht mehr weit. Jedenfalls war ich gesundheitlich schwer angeschlagen. Vielleicht noch zwei, höchstens drei Jahre, schätzte ich. Sofern keine Über­dosis das ganze beschleunigte. Und die Gefahr einer Überdosis war allein von den konsu­mierten Mengen her latent. Ja, das war es. Das ist Sucht. Und du bist süchtig. Es war so schrecklich banal und so mitleidlos gewiss. Ich hatte keine Chance mehr!

Es wurde kalt und still um mich. Ich litt nicht mehr. Meine Verzweiflung war gewichen. Ich hatte mich der dunklen Seite übergeben. Es gab nur noch diesen einen Fall, nur diese eine Möglichkeit, auch wenn sie verworfen war, ebenso verworfen wie mein Leben. Aus­sichts­los, kalt und dunkel.

In meiner Verlassenheit rauchte ich mehr Haschisch, als ich zu Beginn meines Wo­chen­enddienstes abgeschätzt hatte. Sonntag mittag ging mir der Stoff aus. Ich hatte kein Geld mehr. Sollte ich an der nahen Tankstelle auf Pump Alkohol kaufen? Oder wäre es bes­ser ihn zu stehlen? Oder sollte ich die Kasse im Büro des Geschäftsführers aufbrechen? Ich dachte nicht mehr daran, aufzuhören. Ich dachte nur noch an Stoff, tieftraurig und müde. Ich schaute auf den zertretenen Rasen vor dem Haus, der als Hundeklo diente. Starrte auf das schmutzige Herbstlaub auf dem Pflaster und spürte das Fieber des sich ankündigenden Entzuges. Alkohol? Nur keinen Alkohol, dachte ich mir, du bringst dich um damit. Doch wie sollte ich an Haschisch kommen? Ich sah, wie sich der Paternoster in meinem Kopf, die immer wiederkehrende Leier, zu drehen begann. Und ich sah mich zugleich in dem herbst­feuchten Schlamm vor dem Fenster liegen: Niedergeschlagen von der Droge, die wie ein mächtiger Schatten über mir stand. Ich wollte aufstehen, doch alle Glieder schmerzten mir. Und ich wusste, wenn ich aufstünde, würde ich wieder einen Schlag erhalten, der mich zu Boden streckte – und so würde es unablässig weitergehen, bis ich endgültig liegen bliebe. Die Außenwelt trat zurück, und nur noch dieses Bild war in aller Klarheit vor mir. Gnadenlos, Schlag um Schlag würde ich von der Droge auf die Bretter gestreckt werden … bis ich end­gültig ausgezählt werden würde. Ich war zu müde, mich noch zu wehren, und so blieb ich liegen.

Eigentlich wollte ich nur um eine kleine Verschnaufpause bitten, bevor ich den Kampf wieder aufnehmen würde. Doch ich merkte, dass ich verschont wurde, solange ich liegen blieb. Streckte ich aber meinen Kopf wieder in die Höhe und stimmte die alte Leier „Stoff, ja oder nein?“ wieder an, so sah ich, wie sich der tiefschwarze Schatten, die Droge, in Positur stellte, um mir einen weiteren Niederschlag zu verpassen. Also blieb ich liegen.

Der Entzug machte sich mittlerweile deutlich bemerkbar. Ich kannte dieses Spiel zur Genüge. Was soll’s, dachte ich mir, auch das wirst du überstehen. Versuchst du es halt noch einmal, und reihst dich wieder ein ans Ende der Schlange. Doch diesmal hatte ich kei­ne Hoffnung mehr und keine Zuversicht, ich wollte einfach nur keine weitere Prügel mehr beziehen. Am Montag früh schlurfte ich zitternd, fiebernd und krumm vor Entzugsschmerzen nach Hause. Seither habe ich mich, um im Bild zu bleiben, nicht mehr von den Ringbrettern erhoben. Ich habe den Kampf verloren, die Droge ist stärker als ich. Ich habe kapituliert. Zum ersten Mal hatte ich die Verantwortung für mich selbst übernommen, indem ich das Handtuch für mich warf.

Freilich sollte ich erst einige Tage später wirklich erfahren, was an jenem Sonntag mit mir geschehen war. Es war an einem jener unvergleichlich schönen Oktobertage, zu denen die milde Sonne das bunte Laub zum glühen bringt und Blumen in lauschigen Winkeln zu später Blüte anregt. Ich ging durch ein tristes Industriegelände auf die Straßenbahn zu. Auf einer einsamen Plakatwand wuchs ein frisch eingeschenktes Pilsglas in einen gleichfalls strahlenden Oktoberhimmel. Ich sah das Plakat und im selben Moment traf mich mit unge­heurer Wucht ein so noch nie dagewesener Suchtdruck. Mir verschlug es den Atem. Die glitzernden Tauperlen auf dem abgebildeten Glas taten ihr übriges. Versprachen sie doch kühles Labsal und sanfte Linderung des mich heftig schüttelnden Fiebers. Am liebsten wäre ich mit einem Satz in die Plakatwand gesprungen, um dieses Bier in einem Zug zu leeren. Da war er also wieder der gefürchtete Suchtdruck, und schon drehte sich gebetsmühlenartig die immergleiche Frage in meinem Hirn: Holst du dir was, oder nicht? Doch in dem Augen­blick, da ich beginnen wollte über eine Antwort auf diese Frage nachzusinnen, fühlte ich mich absolut hilflos und unfähig, den Gedanken aufzunehmen. Welche Antwort sollte ich finden? Gleichgültig ob Ja oder Nein, jede Antwort wäre falsch gewesen, hätte das altbe­kannte Karussell wieder in Bewegung gesetzt. Was hatte ich hier zu entscheiden? Nichts! Ich war knockout, hatte aufgegeben und lag nach wie vor auf den Brettern. Sollte ich etwa wieder aufstehen? Nein. Aber was sollte ich tun? Nichts – mir fiel nichts ein!

Also tat ich nichts. Ich folgte dem Gedanken nicht. Ich bemühte mich um keine Ant­wort. Ich tat nichts, denn ich sah, ich konnte nichts tun. Ich konnte keine Entscheidung tref­fen, denn ich selbst war das, was mich da umtrieb. Es war die Sucht, und ich bin süchtig.

Ich ging wie betäubt weiter. Erst als ich die Straßenbahninsel erreichte, kam ich all­mählich wieder zu mir. Es fehlte mir nichts, ich fühlte mich wohl. Mit einem Male begriff ich, dass ich noch vor wenigen hundert Metern einem unglaublichen Suchtdruck ausgesetzt war, und jetzt? Jetzt war nichts. Kein Verlangen, keine in sich kreisenden Gedanken, nichts von alledem, was vormals einem Suchtdruck folgte. Es war das erste Mal, dass ich auf einen Suchtdruck hin mir keinen Stoff beschaffen musste. dass ich nicht die Frage „Holst du dir was, oder nicht“ solange stumpfsinnig wälzte – selbst wenn es wie vordem zehn Monate währte – bis ich erschöpft nach der Droge griff und dem quälenden Suchtdruck so sein fol­gerichtiges Ende setzte. Der Suchtdruck, der mir noch vor wenigen Minuten, die Knie schlottern ließ, war vorbei. Aber was hatte ich dafür getan? Nichts?

Ja, in der Tat hatte ich nichts getan. Aber eben dieses Nichtstun war meine große Tat gewesen. Sie forderte viel mehr von mir als jede billige Entscheidung. Sie forderte Aufgabe. Völlige Passivität. Gleichwohl war dieses Passivsein von höchster Aktivität. In ihr war keine Trennung zwischen mir und meinem Erleben. Ich hob mich nicht mehr über mich, eilte mir nicht mehr davon, und öffnete mich so für ein Geschehen, das in mir alle Zweifel einte. Für einen Augenblick war ich heil gewesen. Und in diesem Heilsein hatte ich mich gewandelt. Es war ein Vorgang von höchster Spiritualität. Ich hatte mit meinem Herzen begriffen, was ich zuvor nur mit meinem Verstand zu fassen versuchte: Ich bin süchtig.

Dieses Geschehen, dem ich mich durch meine Aufgabe öffnete und in vollkommener Aufmerksamkeit hingab, lässt sich mit Worten eigentlich nicht beschreiben; denn es war ein Wirken, das sich jenseits meines Verstandes vollzog. Gleichwohl versuche ich an dieser Stelle, diesen Prozeß zu umschreiben. War er doch ein Damaskuserlebnis, in dem ich mich gewissermaßen vom Saulus zum Paulus wandelte, und das fortan meine Sauberkeit be­gründete. Es bewirkte kein bedachtes, willentliches Handeln, sondern Wahrnehmung und Handlung waren eins. Ich sah den Suchtdruck, sah meine Zwiespältigkeit, sah meinen ver­zweifelten Drang mich für eine Seite zu entscheiden und sah meine Hilflosigkeit keinen Aus­weg zu finden. All dies einte sich in meiner Wahrnehmung und wurde zu einer Wahrheit, die zugleich die Handlung bedingte. Diese Handlung aber war nicht meine Handlung, sondern Ausdruck der durch mich wirkenden Wahrheit. – Seitdem erlebe ich mein Süchtigsein nicht mehr als Zwiespältigkeit, sondern als eine Einheit, in der Licht wie Schatten, Sauberkeit und Droge, sich zu einer sich wechselseitig durchwirkenden neuen Dimension weitern. Und seit­dem lebe ich in einem nüchternen Gleichgewicht und bin sauber, ohne dass ich mir diese Sauberkeit als meinen Verdienst zurechnen möchte.

Allerdings hätte dieses Geschehen keinen großen Wert, wenn es nur ein einmaliger Vorgang geblieben wäre. Denn dann würde mir seine spirituelle Intensität zur Erinnerung, um die ich mich bemühte, um aus ihr die geistige Kraft für meine Sauberkeit zu ziehen. Die­ser erinnerten Kraft fehlte jedoch ihre Lebendigkeit, und sie würde von daher mit der Zeit verblassen, so wie in mir auch der Eindruck dieses Geschehens an Stärke verliert. Folglich bemühe ich mich darum, diesen Prozeß in meinem sauberen Alltag zu fördern, indem ich diesen Schritt der Aufgabe und Öffnung ein ums andre Mal wiederhole. Wobei es an Gele­genheiten hierfür in meinem wie auch in keinem anderen Lebensplan mangelt.

Eine erste Maßnahme hierzu ist, mich vor Enttäuschungen zu schützen. Schließlich falle ich gerade durch die verschiedensten Formen der Enttäuschung in jene gefährlich labilen Gemütslagen, in denen ich vor Trauer und Selbstmitleid am Sinn meiner Sauberkeit zu zweifeln beginne. In solch depressiver Zerrissenheit aber gewinnen die unheilvollen Strukturen meiner Suchtkrankheit wieder Oberhand, und die Möglichkeit, Trost in der Droge zu suchen, erschiene mir plötzlich wieder bedenkenswert. Freilich bedingt jede Enttäusch­ung auch, dass ich mich zuvor getäuscht habe beziehungsweise täuschen ließ. Folglich muss ich mich vor jeglicher Täuschung hüten, was von mir besondere Bedachtsamkeit für mein Tun und lassen erfordert. Das bedeutet allerdings nicht, stets nur die schlechteste Möglich­keit als Folge meines Handelns anzunehmen, um womöglich später in angenehmer Weise ent­täuscht zu werden. Eine solche negative Einstellung nämlich wäre für mich ebenso ver­häng­nisvoll wie lähmend. Nein, was mir hilft, Täuschungen zu vermeiden, ist Achtsamkeit. Acht­samkeit für diesen Tag. Denn dieser Tag ist mein ganzes Leben. Nur heute kann ich gültig darüber entscheiden, ob ich mein sauberes Leben fortsetzen möchte. Nur heute kann ich das umgehen, was meiner Sauberkeit hinderlich ist, und nur heute kann ich mich aktiv um meine Sauberkeit bemühen.

Was aber über diesen Tag, diese 24 Stunden, hinausreicht, liegt nicht mehr in meiner Hand. Sicher setze ich auch heute Impulse, die in die Zukunft hineinwirken, aber Zeit zum Handeln habe ich immer nur heute. Und solange ich mir hierbei aufmerksam folge, kann ich auch erkennen, wie ich durch kleine oder große Hoffnungen und Wünsche den Keim der Täuschung setze, dessen Frucht schlussendlich der Schmerz der Enttäuschung sein wird. Und so entdecke ich auch in meinem sauberen Alltag das gleiche Prinzip wieder, das zu Be­ginn meiner Sauberkeit wirkende Voraussetzung war: lasse deine Hoffnungen fahren und trage deine Verzweiflung, so einst du dich mit dem was ist und gelangst zu unzweifelbarer Handlung. Damit allerdings diese Einigung, dieses geistige Heilsein, geschehen kann, muss ich mich ein ums andere Mal von meinen Vorstellungen und meinem Wollen lösen und mich bescheiden. Dieses Bescheiden aber verlangt Demut und Aufgabe von mir, nur dann kann sich fügen, was meine Sauberkeit erhält und was ich mit aller gebotenen Scheu als spirituel­le Führung bezeichnen möchte.

Mithin bemühe ich mich alltäglich um mein inneres wie äußeres Gleichgewicht, was mir freilich nur gelingt, solange ich nicht erneut vor mir und dem Was ist fliehe. Und gerade in diesem Zusammenhang, wird von Nichtbetroffenen oder noch akut erkrankten Süchtigen bemängelt, dass eine solche Lebensführung, die so gut wie alle Hoffnung negiert, wohl kaum eine tröstliche Alternative sei. Nun, ich lebe in dieser „Hoffnungslosigkeit“ und muss sagen, dass ich sie heute nicht mehr gegen eine andere Lebenssicht und Lebensweise tauschen möchte. Denn nur durch ebendiese grundlegende Lebensführung fand ich zu mir und lebe heute in einem von jeder äußeren Bedingung unabhängigen inneren Frieden, von dem ich niemals zu träumen vermochte. Zugleich wäre es ein Irrtum, anzunehmen, jede Art von Hoffnung sei verwerflich, da diesen Frieden gefährdend. Es liegt also an mir, zwischen be­rechtigter und unberechtigter Hoffnung zu unterscheiden. Als unberechtigt empfinde ich all­ein jenes Hoffen, bei dem ich Hilfe und Entscheidungen für mich, die ich mir grundsätzlich nur selbst gewähren kann, von anderen erflehe; so kann mir etwa keine wirksame Hilfe von außen zuteil werden, solange ich mich vornehmlich nicht selbst um meine eigene Sauber­keit sorge. Für berechtigt aber erachte ich all solches Hoffen, bei dem mir notwendigerweise Hilfe von außen zuteil werden muss, damit ich mein Geschick weiter formen kann. Dies mag beim erwünschten Wetter beginnen und muss nicht nur bei der Erwartung freundschaftlichen Zuspruchs in der Not enden. Aus dieser Einsicht resultiert eine meine Sauberkeit bedingen­de Lebensweise, die ich als „Leben mit vollem Risiko“ umschreiben möchte. Damit meine ich, dass ich jederzeit für grundlegende Änderungen in meinem Leben offen bleibe. Was ich bin, was ich habe, empfinde ich nur als geliehen. Ich kann nichts davon festhalten, gleich­wohl bleibe ich bemüßigt, es achtsam zu hüten. Steht es mir doch nicht an, die wertvollen Leihgaben zu meiner Sauberkeit zu verschleudern. Andererseits bewahre ich mir gerade so die Fähigkeit, mich jederzeit auch von scheinbar unverrückbaren Dingen und Werten lösen zu können, sobald ich dies als Forderung an mich und meinen weiteren Weg der Genesung erkenne. Weiß ich doch mittlerweile, das dieser Weg der Genesung, dieser Pfad der Sau­berkeit ohne Ziel und ohne Ende ist. Es obliegt mir nur, auf ihm voranzuschreiten und nicht zu rasten, solange ich Rückschritte vermeiden möchte. Und so kann jeder Tag für mich zur Erfüllung werden, sobald ich mich ihm mit meinem ganzen Geschick hingebe. Gelingt es mir, bin ich dem wahren Leben nahe. Ich werde wach. In diesem wachen Sohiersein aber erwächst die Kraft zur Handlung. In ihrer Stärke liegt zugleich ein Anruf, der mir zum eini­genden Impuls wird, aus dem heraus sich durch mich mein weiterer Weg formt. So handele ich aus einem tiefen übergreifenden und alles verbindenden Verständnis heraus, durch des­sen Wirken sich letztlich auch jede Hoffnung erübrigt.

So geschah, was ich nicht mehr erhoffen konnte. Der Funke Sauberkeit sprang auf mich über und ich gab mich ihm zur Nahrung, auf dass er zur Flamme werden konnte. Und diese Flamme wurde mir zum Licht. Nun liegt es fürderhin an mir, dieses Licht zu hegen und zu nähren. Hierzu bin ich stets aufs neue gefordert, Ballast abzuwerfen und meine Seele sei­nem reinigenden Feuer auszusetzen. Unterließe ich es, würde ich diese heilsame Flamme ganz allmählich mit meiner Last ersticken.

Trüber Lenz – 7 Haiku

Unter blühenden
Bäumen blicken die Leute
Auf ihre Händis.

Sein Apfelbaum blüht
Als Zeichen aller Hoffnung.
Auch er wird gefällt.

Die Frühlingssonne
Belebt Flora und Fauna
Die Welt geht unter.

Die Amsel trällert
Doch keiner lauscht ihrem Lied
Kopfhörer im Ohr.

Lenz, du lauer Hauch,
Wer kennt dich noch beim Namen?
Was erwartet dich?

Bierdosen, Papier,
Junkfood und Kaffeebecher
Farben des Frühlings.

Sonne leckt den Schnee
Vom Kadaver eines Rehs
Eine Krähe singt.

Einsamkeit

Die einen suchen sie auf, die andern fliehen vor ihr

Einsamkeit hat viele Gesichter und viele Ursachen. Mal ist sie heilsam, mal ungesund, und sie kann auch tödlich sein. Wir wissen vom Einsiedler, der mit sich allein die mystische Vereinigung mit Gott anstrebt; wir hören von Gefangenen, die durch strikte Einzelhaft psychisch vernichtet werden; wir belassen die Soziopathen in ihrer verderblichen Isolation. Letztlich haben wir alle selbst irgendwann einmal Einsamkeit durchlitten, die mal Verlassenheit, mal Unverständnis, mal Unwillen, mal Ab- oder Ausgrenzung war. Die Gründe hierfür sind so vielfältig wie das Leben. Alter, Krankheit, Armut, Scheu, Anderssein, Depression, Menschenfeindlichkeit, Ichsucht und Selbstverliebtheit sind nur einige davon.

Zwar wird Einsamkeit überwiegend als ein bedrückender Zustand empfunden, dem man möglichst schnell entfliehen möchte – wir sprechen dann gerne von Vereinsamung. Doch gibt es auch beglückende Momente von Einsamkeit, die freudig gesucht werden. Diese Art der Einsamkeit nennen wir dann Klausur (heute eher »Retreat«) und meinen damit eine Phase der Zurückgezogenheit, an deren Ende wir geistig und seelisch erholt in unseren Alltag zurückkehren.

Disstress und Eustress

Einer Klausur muss allerdings nicht immer eine Weile der Überforderung, der Hektik oder Ablenkung vorausgegangen sein, weswegen wir dem Disstress entfliehen möchten. Eine Klausur, kann ebenso ein freiwilliger Rückzug sein, um dem Eustress, der positiven Herausforderung zu begegnen. Manch einer macht sich zum Beispiel auf, die Erde alleine und ohne Halt zu umsegeln. Allerdings begehen die wenigsten ein solches Abenteuer stillschweigend, also wirklich für sich allein, vielmehr vermarkten sie ihre Einsamkeit, noch ehe sie begonnen hat. Das gilt auch für so manchen, der die Einsamkeit der Exerzitien sucht. Noch ehe er die frugale Besinnung bei Stille und Gebet in einem Kloster pflegt, lässt er sich ob seines Vorhabens bereits im Vorfeld bewundern und weiß danach Sensationelles von den Wandlungen seines Gemütszustandes zu berichten. Indessen ist nicht jede freiwillig auferlegte Einsamkeit eine narzisstische Stärkung; häufig genug ist die gewollte Klausur die notwendige Voraussetzung, um einen forschenden Geist weiden zu lassen – dies gilt für den »Kopfarbeiter« ebenso wie für den Mystiker.

Einsamer Geist

Ihre Einsamkeit ist jedoch nur ein halbes Vergnügen. Gewiss ist die Möglichkeit des Rückzugs angenehm, um ungestört eigene Gedanken entwickeln zu können. Andererseits ist man bei der Entwicklung von Gedanken fast immer auf den Austausch mit anderen angewiesen. Je höher aber die Gedanken fliegen, umso einsamer wird es auf den Gipfeln, die man dabei erreicht. Folglich bedeutet Geistesgröße per se auch Einsamkeit; weswegen sich manch großer Geist auch mal ganz gerne in das Getümmel der Dummheit stürzt. Allerdings erlebt er dann meist nur eine andere Form seiner Einsamkeit, nämlich die, inmitten der Masse nicht wirklich dazuzugehören. Er verharrt unter den Einfältigen in der Besucherrolle und wird als solcher, auch wenn er sich noch so unterirdisch gibt, stets erkannt und isoliert. So gibt es fast in jedem Stehausschank einen »Professor«, der selbst bei eingetretener alkoholischer Verblödung noch der Studierte bleibt und mit seinen Saufkumpanen niemals wirklich gemein wird.

Ebenso unbestreitbar ist die Einsamkeit auf dem Gipfel einer Fähigkeit. Wer zum Beispiel in den höchsten Gefilden der Mathematik zuhause ist, wird auf der ganzen Welt vielleicht noch ein Dutzend weiterer Menschen finden, mit denen er seine mathematischen Probleme besprechen kann. Ähnlich mag es dem hochbegabten Künstler ergehen, der erkennen muss, dass sein Ringen um künstlerischen Ausdruck von seinem Publikum nicht mehr verstanden wird. Gleichermaßen unverstanden wird sich auch der Weise fühlen, der Gottes Rocksaum am Horizont zur Transzendenz erschauen durfte. Jiddu Krishnamurti – sicher ein Begnadeter – deutete seine diesbezügliche Einsamkeit kurz vor seinem Tod an, indem er gegenüber seinen Vertrauten meinte: »Wenn ihr alle doch bloß wüsstet, was euch entgangen ist – diese große Leere.«

Sich nicht mitteilen können

Das Fehlen eines Austauschs ist darum der eigentliche Grund, der jede Einsamkeit ausmacht. Wir müssen uns nicht in eine Einsiedelei begeben, um einsam zu sein. Wir werden inmitten des Trubels im Kölner Karneval einsam sein, sobald wir den Narren dort etwas von unserer Schwermut erzählen möchten – und es nicht ironisch meinen. Sich nicht mitteilen zu können, niemanden zu finden, der seine Gefühle, seine Überlegungen, sein Erleben mit einem teilt, macht uns einsam. Diese Art der Einsamkeit ist schmerzlich, ganz im Gegensatz zu der beschaulichen Einsamkeit in einem Schweigekloster, in dem man Teil der Gemeinschaft der Schweigenden ist, die ihr Schweigen, ihre Andacht und Gebete miteinander teilt, so dass dort niemand wirklich einsam ist. Das gemeinsame Schweigen kann sogar so sehr verbinden, dass man diese Gemeinschaft nicht mehr gegen die Oberflächlichkeit eines profanen Alltages eintauschen mag, in dem man zwar miteinander redet, aber meist nur aneinander vorbei.

Das Unteilbare

Es ist also das Nicht-teilen-können, was einsam macht. Wenn ich ein Geizhals bin, der sein Vermögen mit niemandem teilen will, wird mich das einsam machen, denn dann ist für mich jeder meiner Zeitgenossen ein potentieller Dieb. Ich werde das Geheimnis meines Reichtums also niemandem mitteilen und auch ansonsten jede engere Bindung tunlichst meiden, um mein Vermögen – gerade weil es teilbar ist – nicht zu gefährden.

Nun gibt es allerdings auch etwas Unteilbares in der Welt, zumindest vermuten wir dies. Das ist das Numinose oder die göttliche Unermesslichkeit oder, profaner gesagt, das metaphysische Sein. Dieses Unteilbare lässt sich, wie sein Name schon sagt, nicht teilen, auch wenn unsere Religionen hierzu ganz andere Behauptungen aufstellen. Würde es sich so fügen, wie wir es religiös gerne haben wollen, wäre es teilbar und somit auch nichts Göttliches; der religiöse Gedanke würde sich so also von selbst aufheben. Weil der Gedanke dieser Notwendigkeit jedoch nicht folgen will, haben wir es mit Religion zu tun. Diese kleine Verdrehtheit soll aber an dieser Stelle nicht weiter unser Thema sein, weil derlei Widersprüchlichkeiten seltsamerweise nicht einsam machen, sondern Kollektive stiften.

Mystik: das Duale verwischen

Gehen wir dagegen das Unteilbare mystisch an, indem wir es zum Gegenstand unserer Kontemplation machen, begeben wir uns in die große Gefahr, einer unwiderruflichen Einsamkeit anheimzufallen. Denn das Ziel jeder Kontemplation ist, eins mit dem Geschauten zu werden; was die Dualität zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten verwischt. Das eine wird zum anderen, und das andere zum einen. Gleichwohl gibt es auch hierfür einen religiösen Begriff. Der kirchentreue Mystiker spricht dann von der »unio mystica«, der mystischen Vereinigung der Seele mit Gott; gerne wird dabei auch die Metapher von der dunklen Nacht gebraucht, die Johannes vom Kreuz (1542-1591) prägte. Damit ist eine vollkommen gottverlassene Einsamkeit gemeint, die den Kontemplierenden erfasst, und in die er ganz hineingehen muss, ehe er durch die ihn verklärende Einheit mit Gott erlöst wird.

Doch wie soll sich das Unteilbare mit dem Teilbaren, dem Menschen, vereinigen? Nun könnten wir das altbekannte magische Konstrukt aus unserer Zauberkiste ziehen, das da heißt: Alles ist mit allem verbunden. Doch wäre dies nur eine weitere Theorie, um sich einer wirklichen Beschauung zu entziehen. Wir würden damit das Unverstandene in ein Schublädchen mit der Aufschrift »Kapiert« verstauen und es so aus dem Sinn fegen. Nehmen wir hingegen die spirituelle Annahme ernst, dass es tatsächlich etwas Unteilbares und zugleich Allumfassendes gibt – denn nur solange auch Letzteres gilt, können wir uns mit ihm vereinigen –, müssen wir versuchen, die Trennung zwischen uns, den Schauenden, und dem zu Beschauenden aufzulösen. Dies ist allerdings nur möglich, wenn wir das Trennende betrachten, anstatt uns auf das angenommene Heile zu beziehen.

Kontemplation

Üblicherweise ist eine Kontemplation – zumindest an ihrem Beginn – ein selbstbesonnener Diskurs, bei dem die Gedanken um das Ziel der Wahrnehmung kreisen, es dabei entblättern und soweit erschließen, dass es ganz für sich geschaut werden kann. Gelingt dies, wird die Achtsamkeit vollkommen, weil durch nichts mehr abgelenkt, und das Gesehene ist vom Sehenden nicht mehr unterschieden. Es wirkt in ihm, weil er selbst durch seine Schau still geworden ist. Jeder kennt solche erfüllenden, weil das ganze Wesen erfassende Augenblicke. Einsamkeit stellt sich hier meist erst im Nachhinein ein, wenn der solchermaßen Ergriffene von dieser Schau berichten möchte, die ihn durchdrungen hat. Dann erfährt er, dass zum einen seine Worte nicht genügen, um das Geschehen zu umschreiben, zum anderen seine Zuhörer dieses Erleben nicht wirklich nachvollziehen können, sondern sich allenfalls an etwas Ähnliches erinnern und dadurch sein Erleben durch ihr Vergleichen banalisieren. Das nicht Mitteilbare – nicht das Geschehen selbst – wird damit zum Grund von Einsamkeit.

Wollen wir uns hingegen wirklich auf die gottverlassene Einsamkeit des Mystikers einlassen, ehe er womöglich durch himmlischen Glanz begnadet und somit für seine Duldsamkeit im Leid belohnt wird, müssen wir ganz auf uns selbst gestellt bleiben. Damit meine ich, auf jeglichen Beistand zu verzichten und in die Einsamkeit des Ichs einzutauchen. Deswegen spreche ich von nun ab auch von ich und lasse es offen, ob Sie, lieber Leser, diese Perspektive für sich einnehmen wollen.

Ich ist allein in mir

Habe ich mich also entschlossen, das Unteilbare ganz in seinem Sein zu erschauen und mich deswegen in die vollkommene Einsamkeit zu begeben, beginne ich, mich in mir selbst als gefangen zu erleben. Meine Welt, meine Mit- wie Umwelt, besteht aus Bildern, Erinnerungen und Affekten in meinem Gedächtnis, die durch meine Prägungen bewegt, bedacht, erhalten und verwandelt werden. Damit meine ich keinen Solipsismus, der die Existenz der Welt nur in mir behauptet. Bei einem solchen Modell gäbe es das Unteilbare nicht als etwas zu Erlangendes, denn dann wäre ich es bereits und somit auch am Ende meiner Kontemplation. Nein, ich meine damit die Bewusstwerdung dessen, dass es eine unüberwindbare Schranke zwischen mir und meiner Welt gibt. Mein Fühlen und Denken bleibt bei mir. Mein Nächster mag es zwar nachvollziehen und mitempfinden, aber dieses Fühlen und Denken ist das seine und nicht das meine. Ich ist allein in mir. Im anderen bin ich stets du. Diese wechselseitige Empathie ist im übrigen das einzige wirkliche Mittel gegen die Einsamkeit.

Doch jetzt suche ich freiwillig die Einsamkeit, denn ich möchte sie gegen etwas Großartiges, Allverbindendes eintauschen. Deshalb erforsche ich mein Inneres. Ich sehe, wie ich mir das Äußere erdenke, wie ich es aus mir heraus in mich hineinhole und dasselbe auch durch meine Hinwendung zum Unteilbaren versuche. Ich erlebe dabei, wie ich mit meinen Gedanken absolut alleine mit mir selbst bin. Sie sind nur in meinem Kopf, in keinem anderen.

Gedanken trennen

Ja, ich sehe, dass nur sie es sind, die Gedanken, was mich von der Welt trennt und mich in mir noch mehr isoliert, indem sie mich so denken lassen, wie ich konditioniert bin: als Christen, Juden, Muslim oder Atheisten und dergleichen Weltanschauungen mehr. Ich erkenne zugleich, dass, wenn ich meine Gedanken ändere, ich nur die Farbe meiner Einsamkeit verändere. Meine Gedanken schwatzen mir vor, was ich aus zweiter Hand erlebe. Schließlich bin ich das Ergebnis meiner Prägung und außerdem stets nur der eigene wie erste Berichterstatter meines Erlebens. Das Unteilbare aber ist dem allen fern. Meine Gedanken darüber beschreiben es nicht einmal, sondern beschreiben einzig mich. Sie dienen somit nicht einmal mehr meiner eigenen Unterhaltung, meiner kurzweiligen Ablenkung von mir selbst und meiner Einsamkeit. So verharre ich, abgeschieden hinter Haut und Knochen meines Schädels, gefangen in der weißen Dunkelheit meines Gehirns und dem grauen Strömen meiner Gedanken.

Dennoch habe ich so vereinzelt nicht das Geringste mit dem Unteilbaren gemein. Vielmehr bin ich tausendfach zersplittert und daneben noch ein implantiertes »Man«, das mir von anderen genauso einsamen Seelen hineingereicht, hineingedrückt, hineinverkauft oder hineingeschlagen wurde und wird. »Man sollte« und »du solltest«, so die Litanei der Anmaßung, um durch die Gestaltung anderer Ichs den Ausbruch aus der eigenen Verlassenheit zu erzwingen. Teilen, sich in anderen zu teilen, um Teilhabe zu erlangen und die Einsamkeit zu besiegen – zum Ausbruch taugt das nicht.

Ausweglos

Erkenne ich dies, erkenne ich die Ausweglosigkeit. Nichts von dem Geschauten kann ich mehr mitteilen, denn da ist keiner mehr, der es mit mir teilt. Die anderen sind nur noch die Beobachter an meinem Sterbebett, die mich ihrerseits beschauen, um ihre eigene Furcht und Einsamkeit zu überwinden. Die sich mittels meines Leidens ablenken, um ihr eigenes Leid nicht zu empfinden.

Erkenne ich dies, gebe ich auch die Suche nach dem Unteilbaren auf, denn ich rieche in mir den Verwesungsgeruch meines faulenden, in sich verrottenden Ichs. Nun dringt nichts mehr in mich hinein, was nicht gleichermaßen Aas und Fäule wäre. Darüber werde ich müde. Ich wehre mich gegen nichts mehr und nehme, weil alles Tod ist, nichts mehr auf. In mir ist nichts mehr, das Hineingetragenes würde ergreifen wollen.

Erkenne ich dies, fließt es aus mir heraus. Der aasige Moder einer sich auflösenden Psyche, die aus sich heraus all das in sie Hineingetragene abstößt und ausscheidet. Das ist die Klärung, die jeder Tod mit sich bringt, indem der tote Leib verwest und aus seinem Balg tritt und in die Erde fließt, bis schließlich auch die gebleichten Knochen zu Staub verfallen und verwehen.

Einsamkeit ohne Schrecken

Erkenne ich dies, ist in mir die absolute Einsamkeit. Sie ist ohne Schrecken, weil ich sie längst bejaht habe. Weil ich längst erkannt habe, sie – und nur sie – ist mein einziger Grund. In ihr gründe ich. Leere, ausgefegtes Sein. Unaussprechbar, unteilbar.

Erkenne ich dies, bleibe ich leer. Ich beschaue diese Leere und sehe, wie sie sich ausdehnt, wie sie alles erfasst und in sich aufnimmt, meine ganze Welt geht in sie über, ohne auch nur ein Quäntchen von ihr zu füllen. Sie ist rein und unfassbar. Dies ist der Beginn des Alleinseins, das keine Einsamkeit mehr kennt.

Erkenne ich dies, bleibe ich still und sehe, was in mir und im anderen unteilbar ist. Nur dies ist …

Mein Wunsch zum neuen Jahr

Jahresbild 2023 © M. Mala

Es ist wieder Zeit für ein prognostisches Jahresbild zum neuen Jahr. Gingen wir letztes Jahr noch baden, so machen wir uns nunmehr auf die Reise nach Privatissima, einem Wolkenkuckucksheim nicht mehr verortet im hiesigen Raum und hiesiger Zeit, sondern ein Ort in unserem Herzen und unserer Seele, an dem wir uns wohlfühlen. – Mit wir meine ich meine Frau und mich. Beide leben wir seit 1970 in einer Nußschale, mit der wir schon so mancher stürmischen See getrotzt haben. Ja, wir können längst vor dem Wind kreuzen.

Privatissima ist kein Rückzug ins private, sondern wie gesagt ein weiterer Abschnitt unserer Studienreise zum rechten Leben. Wobei das rechte Leben, so wie wir es verstehen, sicher nicht jenes ist, was derzeit von den „Woken“, den Erwachten, dafür gehalten wird; also weder Lebenshaltung noch Wahrheit, sondern ein realistischer Blick, soweit das in einer an sich vagen, verhandelten, ja verrückten Welt überhaupt möglich ist. Jedenfalls bemühen wir uns allein ob unserer psychischen Gesundheit um eine solche Lebensweise, schließlich ist die Welt um uns nicht minder irre als vor 50 Jahren, nur im Gegensatz zu damals, hält man heute den Wahnsinn für Wahrheit … Weisheit … Wesentlichkeit … Nein, zurück, für das hielt man die Welt auch vor 50, 80, 100 oder 1000 Jahren. Somit mag meine prognostische Zeichnung nur ein Abbild unseres Status quo und in diesem Sinne nur eine Anregung für Euch sein, liebe Freunde, sich das Ruder nicht aus der Hand nehmen zu lassen, sondern Euren eigenen Weg in dieser Welt zu finden und sich dabei vom Wahnsinn nicht anstecken zu lassen und gut zu finden, was verdorben ist.

In diesem Sinne verfasste ich das Haiga, dessen bildhafte Mitteilung Ihr nach Eurem Belieben deuten dürft, sowie das Haiku im Bild – was ein Haiga ausmacht -, das eigentlich ein Senryū ist:


Künftig verarsche
Ich mich lieber selbst! – Und ihr?
Macht es ebenso!

Ein gutes neues Jahr, Gesundheit und Glück, wünschen Euch
Dagmar & Matthias Mala

Fährnisse

Übermüdet © M. Mala

Ich schwimme regelmäßig dreimal die Woche. Anfang November schwamm ich wie gewohnt und wie gewohnt bekam ich Wasser in die Ohren. Doch diesmal wollte es offensichtlich nicht mit ein wenig Kopfneigung und Handtuchtupferei verschwinden. In der Nacht auf Sonntag begann das linke Ohr so zu schmerzen, dass meine Frau nach dem Bereitschaftsarzt telefonierte. Er kam schließlich gegen zwei Uhr. Er dauerte mir, denn er war völlig übermüdet. Ich teilte ihm mein Mitgefühl mit. Er fragte nach der Befindlichkeit des Ohrs und ließ ein Rezept für antibiotische Tropfen zurück. Der Bereitschaftsarzt hatte seine Praxis 240 Kilometer entfernt in Schweinfurt, wie ich vom Rezept ablas. Das erklärte zum einen seine Übermüdung und verwies zum anderen auf den miserablen Zustand unseres Gesundheitssystems.

Mitte der kommenden Woche war die Befindlichkeit immer noch im Ohr, weshalb ich dann donnerstags beim HNO-Arzt anrief. Am Dienstag drauf hatte ich einen Termin. Der Ohrenarzt schaute mir ins Ohr und zog ein Schirmchen vom Hörgerät heraus. So ein Schirmchen ist aus weichem Kunststoff und hat etwa einen Zentimeter Durchmesser. Es dient dazu, den Lautsprecher des Hörgerätes im Ohr zu fixieren und so auch das Hörgerät in seiner Position hinter dem Ohr zu stabilisieren. Es sah zerquetscht und orangefarben verbacken aus. Es war eine cremige Mischung aus Blut und Cerumen – Ohrenschmalz –, die das milchige Weichplastik umhüllte. Das Schirmchen wurde, nachdem es beim Ablegen des Hörgerätes im Gehörgang steckenblieb, vom nächsten Schirmchen noch tiefer ins Ohr gedrückt, so dass es hinter dem Knick des Gehörganges verschwand und von außen nicht mehr zu sehen war. Deswegen konnte meine Frau es auch nicht sehen, wenn sie mir die Ohrtropfen ins Ohr träufelte. Sie sah nur, dass der Ohreingang wegen der Schwellung durch die entstandene Entzündung verengt war.

Das eigentliche Malheur lag indes etwa sechs Wochen zurück, als mir beim Herausnehmen der Hörgeräte ein Schirmchen am Hörer fehlte. Da ich es nicht fand, dachte ich, es wäre vom Hörer abgefallen, auf den Teppich gepurzelt und dort im Flor versunken. Das zweite Malheur war, dass mir der Schweinfurter Arzt nicht ins Ohr gesehen hatte, denn dann wäre die Ursache meiner Ohrentzündung bereits eine Woche früher entfernt worden.

So sind sie eben die Fährnisse des Alters. Man braucht Hilfen: Hörhilfen, Sehhilfen, Gehhilfen und so weiter und alle bergen in sich Gefahren, so stellte ich schon mal beim Spazieren mit meinen Gehstock anderen ein Bein oder sah, wie andere über ihren Rollator stürzten. Ja, Hilfe kann überhaupt gefährlich sein, denn was da oft mit guter Absicht vorgetragen wird, entpuppt sich am Ende als der Beginn eines Raubzuges. Man denke nur an die „Staatshilfen“, die wir alle über unsere Steuern bezahlen müssen. Keiner ist davon ausgenommen, denn sieben oder 19% Mehrwertsteuer sind bereits eine hübsche Steuerquote, die ein jeder für seinen Konsum berappen muss, damit ihm am Ende Vater Staat mit ein paar Euro helfen kann.

Macht ist sexy

Macht © M. Mala

Der „liebe“ Gott ist allmächtig. Er kann Wunder vollbringen. Obgleich seine Wunder hienieden ausschließlich Menschen vollbrachten, sofern man Jesus als Mensch und nicht als Gott versteht. Allmächtig ist ansonsten niemand, nicht mal ein brutaler Tyrann, denn auch er bleibt sterblich und wird gelegentlich an einer Laterne aufgehängt. Die meisten Menschen fliegen auf die Mächtigen, sie bewundern und verehren sie, ja sie himmeln sie an; denn der Abglanz der Macht erhebt auch Ohnmächtige. So scharen mächtige Personen leichthin Anhänger um sich, auch wenn ihre Macht vordergründig nur auf Bekanntheit fußt; schließlich ist Ruhm durchaus ein Machtfaktor.

Macht korrumpiert. Diesem Fakt können sich nur integre Menschen entziehen. Es sind Menschen, die sich nicht von den Vorzügen der Macht bestechen lassen und hierdurch beginnen, ihre Moral zu relativieren, um sich Vorteile zu verschaffen und zu sichern. Gleichwohl bleiben sie wie alle anderen Mächtigen umschmeichelt und erfahren allein dadurch einen freundlicheren Umgang als andere, was wiederum ihr Weltbild positiv färbt. Hierdurch entwickeln sie leicht eine gewisse Selbstherrlichkeit, treten selbstbewusster auf und vermitteln so ihrerseits einen beachtlicheren Status. Ihre Macht strahlt aus, ob sie das wollen oder nicht, wodurch sie attraktiv werden; so wirken selbst unansehnliche Menschen durchaus anziehend. Ja, Macht kann Zwerge in Riesen verwandeln.

Macht ummantelt und schützt den mächtigen, was seinerseits Missbrauch erleichtert. Doch der wird dann meist nicht so benannt, sondern gilt gar als Ausweis rechter Machtausübung. Was kann auch daran verkehrt sein, wenn ausgeübte Macht schmerzt? Nicht umsonst sind Tyrannen von Schmeichlern umgeben, die ihr Lied singen und ihnen nach dem Maul reden. In solchen Momenten wird deutlich, das Macht und ihre Korrumpierung ein Selbstzweck ist. Ich töte die Fliege, weil ich es kann. Ich missbrauche das Kind, weil ich es kann. Ich schlage meinen Nächsten, weil ich es kann.

Kleine wie große Gemeinheiten und Verbrechen nur deswegen zu tun, weil man es kann, ist für viele Mächtige für sich allein schon sexy, was heißt sexuell stimulierend und ihr Ego erregend. Sie genießen das berauschende Gefühl von Macht. Ich bin, und ihr alle seid erst nach mir, sehr weit nach mir. Ein Mensch plustert sich auf, trommelt sich wie vor Freude auf die Brust, wobei das keine männliche, sondern eine rein menschliche Eigenschaft ist. Schon kleine Kinder üben sich darin und Frauen stehen den Männern darin in nichts nach. Ja, oft ist die Machtausübung durch Frauen noch einen Dreh sadistischer, als durch Männer und das nur, weil sie es können.

Macht birgt somit auch etwas autoerotisches, es ist Onanie durch Knechtschaft. Eine durch und durch perverse, jedoch keineswegs außergewöhnliche Dominanz. Wir können sie in Palästen wie in Reihenhaussiedlungen oder Slums beobachten. Ein jeder von uns trägt einen Nukleus davon in sich, niemand ist vor ihrer Versuchung gefeit. Doch ein jeder vermag ihr zu widerstehen, denn sobald sie aufkeimt, spüren wir sie auch körperlich und können ihr Hautgout atmen; es ist dieser süßfaule Duft der Verderbnis, der die Bosheit begleitet. Dieser Verlockung nachzugeben ist eine gewollte und überlegte Entscheidung. Man spürt die Schwelle, die man übertreten, die Schranke, die man einreißen wird. Wir können es tun, doch wir können es auch unterlassen. Wir haben die Macht.

Falsch ausgeübte Macht ist allerdings nicht mehr sexy, sondern abartig und verdorben. Sie ist und bleibt abnorm und hässlich; auch wenn das die Claqueure der Macht nicht wahrhaben wollen.

Reden bringt Frieden

Besser reden © M. Mala

Was das Zeitgeschehen angeht, stehe ich meist abseits. Ich lese seit über 20 Jahren so gut wie keine Zeitungen und konsumiere keine Fernsehnachrichten. Mir genügen die Nachrichten im Radio, und die schalte ich ab, sobald Verlaufsformen wie Studierende oder Doppelnennungen wie Bürger und Bürgerinnen gesprochen werden. Allein dass diese Sprachpanschereien über den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR) verbreitet werden, zeigt mir, dass der ÖRR insgesamt zensiert wird; wobei es letztlich egal ist ob durch freiwillige Selbstzensur oder Zensor. Artikel 5 Absatz 1 des Grundgesetzes war schon immer eine Leerformel.

Diese Einleitung erhellt, dass ich weder unpolitisch bin, noch die politische Weisheit gelöffelt habe. Ich habe wie jeder andere meine Ansichten zum Zeitgeschehen und bin imstande, es von verschiedenen Seiten zu betrachten. Derzeit befinden wir uns in einem Vorkriegszustand mit Russland, das die Ukraine angegriffen hat. Gleichwohl hat dieser Krieg seine Vorgeschichte, an der die Nato beteiligt war. Die Erweiterung der Nato, ihre Unterstützung der verschiedenen Regime in der Ukraine zeigte Russland deutlich, dass man die westliche Einflußsphäre weiter ausdehnen möchte.

Derzeit gibt es 25 heiße Kriege und über 300 bewaffnete Konflikte auf der Welt. Es sind die Kriege der Kinder jener alten Hippies, die sich einst mit „Peace“ begrüßten, was häufig auch das Synonym für einen Joint war. Soldaten im Rausch sind seit der Steinzeit gewöhnlich. Doch alle Kriege enden, selbst der dreißigjährige Krieg endete mit dem Westfälischen Frieden. Ein Frieden muss nicht das Ende eines Konfliktes sein, aber er unterbricht zumindest das Morden. Die meisten Frieden kamen durch Verhandlungen zustande, die wenigsten, weil sich ein Krieg ausläpperte.

Einem Frieden gehen in jedem Fall Verhandlungen voraus, das heißt man muss ins Gespräch kommen. Das ist Angelegenheit der Diplomatie. Allem Wortgetöse und allen verbalen Injurien zum Trotz, die während eines Krieges geäußert werden, wird man sich wieder zusammensetzen, um eine Nachkriegsordnung zu bestimmen. Diese kann durchaus den Keim für einen weiteren Krieg in sich bergen, so wie es 1871 und 1918 der Fall war; ebenso kann aber auch der Mehltau der Zeit manchen schwelenden Konflikt ersticken. Man vergisst, sich zu hassen und zu bekriegen; so wie Preußen und Bayern nach 1866, was aber zugleich die gelungene Vorbereitung zum Krieg gegen Frankreich 1871 war.

Frieden ist nur selten die Festschreibung erreichter Kriegsziele, sondern, insoweit er solide sein soll, der solide Interessenausgleich zwischen den Kontrahenten. Die Voraussetzungen für einen Frieden sind vom Kriegsfortgang abhängig. Solange für eine Seite der Kontrahenten noch ein mögliches Kriegsziel aussichtsreich erscheint, wird man allenfalls ins Gespräch kommen, aber gewiss nicht zu einem Friedensschluss. Je eher aber die Einsicht greift, dass eine Fortsetzung des Krieges nur den Blutzoll erhöht, umso höher wird die Bereitschaft, ernsthafte Friedensverhandlungen zu führen. Kriegsführung ist demnach auch ein Geschäft der Illusionisten, die den Herrschenden die Wirklichkeit verblenden. Häufig ist allerdings der Feldherr sein eigener Illusionist, wie wir es mit unserem GröFaZ erlebten.

Je eher also die Vernunft obsiegt und man einsieht, dass man zwingend ins Gespräch kommen muss, umso weniger ermordete Soldaten und Bürger wird es geben. Doch leider zählt ein Leben nur wenig im Krieg, und je länger er währt umso verrohter und abgestumpfter werden die Beteiligten. Dementsprechend schlimm sind die Kriegsfolgen, aber auch sie können nur gemildert werden, wenn man im Gespräch bleibt. Darum ist es besser überhaupt im Gespräch zu bleiben, doch hierfür braucht auch es eine Gesprächskultur, die allerdings zu allen Zeiten immer wieder verloren ging, weil sie um der eigenen Selbsterhöhung wegen den Demagogen geopfert wurde und wird.

Frieden, mal eben so …

Gedanken zum Frieden in einer wüsten Zeit in den Wind gesprochen. Erst lesen, wenn der Krieg vorbei ist, dann affirmieren!
verschmutzte Friedensfahne © M. Mala

Am 24. Februar überfiel Russland die Ukraine. Der Krieg kündigte sich bereits Monate zuvor an. Doch trotz der offensichtlichen russischen Kriegsvorbereitungen kam kein konstruktives Gespräch zwischen den Konfliktparteien zustande. Vielmehr hatte ich den Eindruck, man wollte auf beiden Seiten den Krieg.

Mit dem Kriegsausbruch wurden sämtliche Corona-Experten, die zuvor Fußballexperten waren, zu Generälen, die die richtige Strategie aus dem Handgelenk schüttelten. Mich erschreckte daran vor allem, mit welchem Eifer der Krieg allgemein begrüßt wurde, am liebsten wollte man gleich selbst an die Front eilen. Insbesondere verstörte mich, wie über Nacht aus besonnenen Leuten ergrimmte Sofakrieger geworden waren, die in abstoßender Weise verbal aufgerüstet hatten. Ich empfand es als eine Massenhysterie, die mich gleich der Mobilmachung Anfang August 1914 anmutete. Politik und Medien tönten unisono bellizistisch und Talkshow-Strategen wussten längst, wann die Russen aus strategischen Gründen zur ultimativen Warnung Atombomben über der Nordsee zünden würden.

Ende April initiierte Alice Schwarzer mit 28 Intellektuellen und Künstlern einen Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz, in dem sie sich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine als weitere Eskalationsstufe aussprachen. Obgleich der Offene Brief im Internet nachzulesen ist, interpretierten Medien und Politiker ihn quasi als eine Kapitulationserklärung einfältiger Pazifisten und Putinfreunde und diffamierten die Erstunterzeichner. Den Sofakriegern in den geschwätzigen dissozialen Medien war das Wasser auf die Mühlen ihrer Selbstgerechtigkeit, dementsprechend geiferten sie hinter der Sau her, die hier durchs mediale Dorf getrieben wurde. – Meute hier, Meute dort! – Weiter möchte ich nichts ausführen. Irgendwann werden einige wenige, die noch ein wenig Anstand besitzen sich für ihre Hatz schämen.

Inzwischen ist die helle Aufregung um den Krieg eh abgekühlt und stumpf geworden. Bis 18. Juli hatten 320.000 Menschen den Offenen Brief unterzeichnet. Vier Wochen später kamen gerade mal noch 20.000 Unterzeichner hinzu. Dafür lamentiert man allgemein über die katastrophalen Umstände, die der Krieg verursachte: Inflation, Hungersnot, Energiekrise, Rechtsradikalität, Hitzesommer und so weiter. Alle Unbill hat inzwischen ihren Ursprung in diesem Krieg und nicht im Tun und Handeln unfähiger Politiker, wobei die Ära Merkel als mitursächlich derart ausgeblendet wird, als wären wir die letzten sechzehn Jahre von Aliens regiert worden.

Jedenfalls begann ich, weil ich der ganzen Idiotie ein bisschen Nachdenklichkeit entgegensetzen wollte, ab 21. Mai Friedensongs in meinem Twitteraccount @Lotoskraft zu verlinken und jeweils einen kurzen Gedanken dazu zu formulieren. Jeden Tag ein Song und ein paar Sätze dazu. Das werde ich fortführen, bis der Krieg sein Ende findet. Ob es ein Frieden sein wird, weiß ich nicht. Zuviele Interessen kollidieren hier. Aber ein Ende des Mordens wäre zumindest ein Fortschritt.

Link zum Offenen Brief an Bundeskanzler Scholz

Link zur Chronik der Reaktionen auf den Brief

Nachstehend die Listung meiner alltäglichen Texte zu den von mir verlinkten Friedensliedern

Seitdem ich 1969 den Wehrdienst verweigerte, fragte ich mich: Wann „will“ man je verstehen …?

War ja nur ein hübscher Bursche, der andere Burschen nicht massakrieren wollte. Drückeberger nannte man sie zu meiner Zeit, als ich gezogen wurde…

Oh ja, von diesem Lied gibt es viele Cover-Versionen; gar so viele, dass wohl meine Absicht, bis zum Ende des tobenden Irrsinns rund um den Ukrainekrieg jeden Tag eine Version zu posten, aufgehen wird.

Was für eine Zeit wo man den Frieden und nicht den Endsieg herbeisehnte …

Ja, damals konnte man nicht genug von dem Friedensliedchen bekommen… Da ging gerade die Kubakrise glimpflich aus …

Wieder soll es Frieden werden. Und weil’s nicht so kommen will, verändert man den Text. Gut, mal sehen ob’s wirkt …

Ja, hier singt die Georgierin Katie Melua weiter vergeblich Frieden gegen den Kriegssturm …

Da rocken die Blümchen im Friedensturm mal so richtig bombig für die Sofakrieger …

Eine bombige aber ebenso traurige Version, den Frieden zu besingen. Zumindest meine ich, den Schmerz zu hören, wie er vom Wind verweht wird.

Pete Seeger schrieb dieses Lied 1955. Ein Jahr später wurde er vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe zitiert. Ähnliche Ausschüsse wird es wohl auch hierzulande bald geben. Egal, ich spreche nicht für den Krieg, sondern singe mit Pete für Frieden!

Wenn Iren vom Frieden singen, wissen sie was sie damit meinen. Jeder Tag Krieg ist ein Tag zuviel.

Munter, wie diese Burschen den Frieden herbeisingen, so könnte es fast klappen!

Wann werden wir wieder zur friedlichen Vernunft kommen?

Was ein Glück, dass Deutschland seit 1945 vom Krieg verschont blieb, mit Ausnahme von 1953 Aufstand in der DDR, 1968 Prager Frühling, 1999 Kosovo Krieg und danach diverse Auslandseinsätze …

Gerade noch dem heißen Krieg durch die Gnade der späten Geburt entwischt, wissen Elvis und Freunde ziemlich genau, warum sie um des Friedens willen singen.

Stell dir vor, es ist Frieden, und niemand macht mit.

Seltsam um wieviel tiefer unsere heutige Kulturverlorenheit reicht, als wir einst erneut begannen, uns Kultur anzueignen. Ja, das Unheil erlangte bereits wieder Urständ, ehe es uns mit Krieg ansprang. Wolfgang Borchert – Dann gibt’s nur eins – Sag NEIN!

50 Jahre, nachdem Bob Dylan dieses Lied zum ersten Mal sang, stand die Frage immer noch im Raum, wieviel Zeit noch vergehen muss, bis wir dem Wind lauschen, auf dass wir erkennen.

Ja, so forsch kann Frieden sein. Man kann es nicht laut genug in die Betonköpfe der Bellizisten singen. Ich dachte nicht, dass ich in dieser Serie noch bis zum Punk komme.

Frieden dröhnt …

Ein Schrei nach Frieden für alle „kriegsmüden“ Sofakrieger. Ich kann nicht glauben, dass es so ist, wie’s ist. Aber das konnte ich meiner Lebtag schon nicht …

Die Zeit zeigt es einmal mehr: Um für Frieden zu sein, braucht es mehr Mut, als mit den Wölfen zu heulen.

Nein, es ist keine rotzige Satire auf Marlene Dietrich, sondern nur der zaghafte Wunsch nach Frieden …

… und plötzlich ist Frieden!

Friede ist das Ende von Krieg … Je weiter weg das Ende ist, umso mehr Menschen werden massakriert. Letztlich aber endet jeder Krieg.

Frieden hat zurzeit nur eine dünne Stimme ­– doch für sie muss sich später niemand schämen. Aber auch die, die Krieg geschrien haben, werden sich nicht schämen.

Weinen wir um den Frieden …

Waffen schaffen keinen Frieden … eigentlich simpel – oder?

Auch dazu braucht es Frieden … glaubt mir!

Keine Panik im Orchester … Frieden gibt es erst, wenn kein Hahn mehr kräht!

Wie viele Menschen müssen verrecken, wie viele Städte verheert sein, damit Frieden einkehren kann?

1994 retteten Die Ärzte mit dem „Friedenspanzer“ noch die Welt (ironisch). Jetzt häufen sie nur noch mehr Leichen- und Schuttberge … Allein Verhandlungen bringen am Ende Frieden!

Sind WIR im Krieg? Ich höre immer mehr politische Knallchargen, die das sagen. Egal, wo wir sind, offensichtlich haben wir unseren Frieden verloren. Wer ihn finden will, suche ihn bei sich. Der Weg zum Frieden ist geradlinig.

Kriege werden angezettelt, lange bevor sie scharf sind. Frieden wird dafür lange zuvor leichtfertig aufgegeben. Denkt man, wie Merkel es empfahl, alles vom Ende her, müsste man beim Frieden anfangen.

Was verstehen wir nicht? Wir, die meinen …? Es sind massakrierte Menschen, zu denen wir meinen …! Frieden bewahrt all jenen, die noch nicht massakriert wurden, das Leben.

Ja, Frieden hat oft eine fürchterliche Performance – man beachte das vagabundierte Peacesymbol -, dennoch auch ein schlechter Frieden ist ein Kriegsende.

… auch ein chaotischer Frieden ist mir recht, Hauptsache das Morden ist vorbei.

Vom seit Jahrhundert friedlichen Gstaad aus wirken die pathetischen Fragen geradezu frivol. Doch Frieden ist so eigen, dass er erst kommt, wenn Menschen und Länder ausgeblutet sind.

Solange vermochte noch niemand zu kriegen, bis dass der Wunsch nach Frieden weggebombt hätte werden können.

’s Liadl dat a auf’n Friedn passn, wei den homa voa lauta Gia un Seibstsucht emso längst valoan …

Ja, wir können auch den Wunsch nach Frieden travestieren …

Nein, Frieden kann auch nur eine Weise, eine friedliche Weise sein.

… und ist endlich Frieden, wird immer noch kein Frieden einkehren. In Deutschland währte es keine 10 Jahre, bis es wieder zur allgemeinen Wehrpflicht für Männer kam.

Wieviel ermordete Menschen braucht es, bis man über Frieden sprechen kann – oder darf?

Klingt so zaghaft, als dürfte man nicht über den Frieden sprechen … Frieden braucht starke Stimmen, stärkere Stimmen als der Krieg!

Letztlich hat der Frieden jeden Krieg abgelöst – und das meist dauerhaft … auch ohne große Worte – so wie hier mit dieser Weise.

Frieden ist überhaupt großartig – hier klingt er auch so … als wäre es ein Notruf … Der Ruf nach Frieden ist stets wahrhaftige Not!

Ein verspielter Frieden ist mir allemal lieber als ein verspielter Frieden!

Wer für den Krieg redet, will keinen Frieden; ja er fürchtet den Frieden. Nur wirklich begründen kann er seine Friedenphobie nicht.

Krieg führt niemals zum Frieden, sondern endet allenfalls durch ihn.

Warum ist uns Krieg soviel wert, dass wir nicht über Frieden sprechen wollen? Warum ist uns Frieden so wenig wert, dass wir lieber über Krieg sprechen?

Hat Frieden einen Preis? Ja! Mord, Mord und nochmals Mord. Und erst wenn die Mordlust bitter gestillt wurde, ist der Preis entrichtet!

Am Ende eines jeden Krieges gibt es Sieger und Besiegte. Beide Kriegsparteien willigen in einen Frieden ein. Die ermordeten Menschen waren ihre Bauernopfer …

Krieg ist im Gegensatz zum Frieden Mord und Totschlag. Was spricht da gegen Frieden?

Frieden ist so bösartig! Er wartet einfach ab, bis auch der letzte ermordet wurde, der für ihn nötig war – verrückt? Oder nicht?

Frieden ist doch nur was für Warmduscher … oder? Verrecken, sich zum Krüppel schießen lassen, ist einfach cool … Komm, sei kein Weichei, schmeiß Deine Flinte ins Korn, geh nach Hause!

Frieden ist nie lächerlich …

Frieden ist offensichtlich nicht so lukrativ wie Krieg …

Auch wenn die Stimme brüchig wird, der Ruf nach Frieden ist stark. Der Weg zum Frieden ist das Gespräch, alles andere ist Krieg.

Frieden ist nichts für Feiglinge …

Wer den Frieden auf morgen verschiebt, bejaht den Mord vieler Menschen.

Frieden braucht Seele … Soul eben. So klingt Vorfreude auf Frieden … derweil noch gemordet wird … leider … Wir sind so schrecklich dämlich …

Und weil’s so schön war, gleich nochmal. So wird das was mit dem Frieden …

Heute starben wieder viele Menschen in Kriegen rund um den Globus. Krieg kennt nur eine Sprache: morden! Frieden hat auch ohne Hashtag einzigartige Stimmen. Hören wir ihnen zu …

Es geht einzig um Frieden, und nicht um Krieg … Frieden ist ein Gespräch!

Himmiheagottsakramentnomoi, ez giabts endli an Friedn, es Deppn es greißliche …

Abertausend Menschen werden durch Krieg traumatisiert. Das Trauma verändert ihr Leben zum schlimmeren. Frieden heilt das Trauma nicht, doch er fügt keine neuen Traumata hinzu …

Wer für Frieden ist, holt sich derzeit schnell kalte Füße … Ja, Frieden ist kein Spaß!

Es geht um Frieden. Nicht um Krieg. Nur Frieden beendet die mörderische Raserei …

Wer kann noch tanzen, wer noch lachen, wer noch lieben? Frieden ist all das! Wer’s nicht kann, ist im Krieg geblieben …

Frieden beginnt, sobald die Unvernunft endet …

Krieg bringt nichts gutes. Frieden ist dagegen die Basis, auf der gutes gedeihen kann.

Zurück zu den Anfängen. Es geht um Frieden. Nur ein Frieden beendet das Morden.

Wer mit seiner Frau für den Krieg bei Vogue vor Ruinen posiert, der hat gewiss andere Sorgen als Frieden. Frieden wollen nur jene, die wissen, dass sie jederzeit ermordet werden können.

Weltweit gab es 2021: 355 Kriege. Frieden ist uns inzwischen so fern geworden, dass wir ihn in unserem eigenen Land leugnen. Das ist kein guter Weg.

Frieden braucht Disziplin. Wohl deswegen ist Frieden komplizierter als Krieg

Frieden ist eine eigene Dimension, die weder das Gegenteil noch die Abwesenheit von Krieg ist.

Frieden …? Was hat er für einen Wert, solange man glaubt, man kann ihn vorübergehend, um seiner selbst willen aussetzen?

Allein Frieden bewahrt Leben …

Frieden schließt manch „gutes“ Geschäft aus, das Krieg ermöglichen würde. Bezahlt wird mit Menschenleben …

Während des Krieges werden Felder in der Hoffnung bestellt, sein Brot in Frieden essen zu können. Manchmal erfüllte sich diese Hoffnung erst nach Jahrzehnten voll Elend.

Heute vor 77 Jahren fiel die 2. Atombombe auf Nagasaki. Sie beendete den II. Weltkrieg. Millionen Tote waren „nötig“, damit Frieden einkehrte. Wie viele werden den nächsten großen Krieg überleben …

Es geht nicht um Krieg, es geht um Frieden. Ja, für Frieden muss man streiten, er kommt nicht von selbst und bleibt ebensowenig von selbst

Allüberall galoppieren die apokalyptischen Reiter. Traumatisierte Missbrauchsüberlebende werden durch geschürte Panik schwer getriggert, ihr Leben ist gefährdet. Etliche töteten sich bereits selbst. Nur Frieden jetzt vermag uns wieder zu befrieden.

Frieden ist eine so große Sache, dass man sie, will man nicht scheitern, nur klein anfangen sollte …

Krieg ist grausam. Krieg ist Mord & Totschlag. Frieden ist nicht das Gegenteil von Krieg, sondern eine eigene, andere Dimension.

Es wird wieder Frieden … Doch dann wird es zigtausend traumatisierte Menschen geben, von denen etliche eine PTBS entwickeln werden. Frieden heilt keinen Krieg!

Frieden ist, wenn … 1965 saß ich 14jährig in Kneipen und hörte mir von traumatisierten einstigen Soldaten deren Kriegserlebnisse an. Im Gegenzug spendierten sie mir Bier.

Mit der Zeit steigt die Zahl der im Krieg ermordeten Menschen. Zeit kostet Leben. Nehmen wir uns die Zeit und sprechen über Frieden …

Machen sich die Mächtigen Gedanken, wie sie die Ohnmächtigen dienstverpflichten können, werden sie die Wehrpflicht wieder einführen und sagen, es geht nur um Frieden.

Stell dir vor es ist Frieden … und abertausende vom Krieg traumatisierte Menschen müssen lernen, weiterzuleben. Was für eine grauenvolle Vorstellung. Was für eine Wirklichkeit!

Friedenslieder sind Seufzer der Hilflosigkeit … dennoch zwischen zwei Kriegen herrscht Frieden und wartet darauf, erneut mit Füßen getreten zu werden. Wer tritt mit?

Sollten wir in der Tat die Krone der Schöpfung sein, so ist Krieg die Krone unserer Dummheit. Ein Friedenslied mit viel Pathos von Udo Jürgens selig. Aber ja, auch der Frieden kann Pathos ertragen …

Auch der 30jährige Krieg endete 1648 mit einem Friedensschluss. Nur selten wartete man so lange auf Frieden. Doch solange sich das Morden „rentiert“ hat Frieden keine Chance.

Frieden? Ach ja, bald, demnächst, ist nicht so wichtig, wir haben da noch was in der Pipeline … Ach, kostet nur ein paar Menschenleben. Ja, die Katze geht auch noch mit drauf …

Noch immer versprechen sich Mächtige was vom laufenden Krieg. Also gießen sie eifrig weiter Öl ins Feuer, damit der Krieg heiß und der Frieden fern bleibt.

Durch Kriege wurden – abgesehen von den Toten und Verkrüppelten – viele Menschen arm und ein paar wenige reich. Gleichwohl beugen sich die Verarmten, wie sie es durch alle Zeiten hindurch taten.

Der idiotische Glaube an einen Endsieg führt nie zum Sieg, sondern in den Untergang. Die Ultima Ratio ist einzig Frieden …

Lose Gedanken zur Gedankenlosigkeit

Gedankenleere © M. Mala

Ein Kapitel aus meinem Buch „Irrwege zur Spiritualität“

Wer Erleuchtung sucht, die Magie beherrschen will, sein Ego verlieren und im göttlichen Bewusstsein baden möchte, der sollte seine Gedankenmühle anhalten und sich in gedankenlose Seligkeit stürzen. Jedenfalls soll, glaubt man der Behauptung der Meister, Gurus und Weisen, Gedankenstille der Schlüssel zur wahren Spiritualität und damit der Weg zur Glückseligkeit, zur Erleuchtung und magischen Allmacht sein. Mit ihr sollen himmlische Harmonie und Schalmeienklang das Dasein versüßen und uns an dessen Ende ein „kerngesunder“ Tod samt endgültiger Himmelfahrt erwarten. Ein Tor also, wer weiterhin gedankenvoll seiner hartnäckigen Ichzentrierung frönt.

Die rechte Art zu fragen

Für gewöhnlich provoziert eine solche Behauptung meist Fragen wie: „Bewirkt Gedankenstille tatsächlich solche Sensationen? Wie erreiche ich Gedankenstille? Wie bewahre ich Gedankenstille? Werde ich meine Frau oder meinen Mann noch lieben, wenn ich ohne Ego und erleuchtet bin?“ Seltener wird die Frage gestellt: „Warum soll ich überhaupt Gedankenstille erreichen? Ist das Ego der Gedanke? Weshalb sollen fehlende Gedanken göttliches Bewusstsein provozieren? Wieso hindern Gedanken spirituelle Wahrnehmung? Wer verfügt über die magische Macht, wenn das Ego nicht mehr ist?“ Diese zweifelnden Fragen ließen sich beliebig erweitern. Tut man dies, demontiert man womöglich am Ende sein Ego sogar noch etwas mehr als mit jedem weiteren Versuch, seinen Gedanken Einhalt zu gebieten.

Erheblich ist zweifellos die Frage: “Warum soll ich Gedankenstille erreichen?“ Spannender ist jedoch die Frage davor: “Warum soll Gedankenstille überhaupt erstrebenswert sein?“ Wie konnte in der Religionsgeschichte überhaupt die Ansicht entstehen, dass das Denken göttlicher Inspiration hinderlich sei?

Drei Momente für die Annahme, dass uns Gedanken von der Wahrheit abhalten.

Opium für das Ego.

Ein Moment rührt sicher aus der Beobachtung, dass wer nicht mehr denkt, entweder tot oder bewusstlos ist. Wer aber ohne Gedanken wach, aktiv und bewusst ist, müsste folglich Tod und Bewusstlosigkeit überwunden haben. Es ist eine archetypische Vorstellung von Seligkeit, die sich in dieser Vorstellung verbirgt. Denn durch alle Zeiten hindurch waren und sind Gedanken die abbildende Rekapitulation alltäglicher Nöte, Sorgen und Hoffnungen. Stehen sie still, stehen auch die Sorgen still, und die Welt ist heil. Zeitlosigkeit stellt sich ein; sie aber ist ein Merkmal der Ewigkeit, die wiederum eine Eigenschaft des Göttlichen ist. Sprich, ein Ende der Gedanken bedingt ein Ende irdischer Not auf Erden. Wer seine Not nicht denkt, hat sich aus ihr befreit. Aus diesem Grunde meinte Karl Marx: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ In diesem Sinne könnte man mich, als jemanden, der die Mystik und damit mittelbar religiöses Streben bedient, einen Opiumbauern schimpfen. Sei’s drum, der Religiöse schlägt sich den Strick stets selbst, mit dem er sich rückbindet.

Vom paradiesischen Bewusstsein.

Ein zweites Moment ist womöglich das auf Selbstwahrnehmung basierende Empfinden, dass neben den Gedanken eine Bewusstheit existiert, die uns in ganz anderer Weise an der Welt teilhaben lässt. Rausch und Schlaf sind hiermit nicht gemeint, obwohl beide als verwandte Stufen dieser „stillen Bewusstheit“ aufgefasst werden können. Sie ist vielmehr eine ungedachte Wahrnehmung, die parallel sowie unabhängig vom Denken geschieht. Das Erkennen und Behaupten einer stillen Bewusstheit dürfte eine archetypische Prägung sein. In ihr schwingt etwas von jener frühkindlichen Glückseligkeit mit, deren Verlust mythisch mit der Vertreibung aus dem Paradies gleichgesetzt wird.

Ich und Du, der Beginn gottgleicher Spiegelung.

Dieser Archetyp verstetigte sich im Mythos vom Baum der Erkenntnis, respektive in der Sage von Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte.[1] Ein Mythos, der sich in vielen Religionen wiederholt. Er ist das dritte Moment, das uns Gedankenstille als Gottesnähe behaupten lässt. Denn der menschliche Erkenntnisprozess fußt auf der Manifestation der Dualität: hier Mensch dort Gott, oder das Ich als das der Welt Gegenübertretende. So ist das Ich vom Du und damit das denkende Bewusstsein von der Welt abgesondert. Die Welt ist das wahre Ganze, das Ich ihr beschränkter Rezeptor. Ich ist somit das Fragmentierte, Nicht-Ich hingegen das Heile.

Das Ergebnis der Betrachtung dieser drei archetypischen Momente stiller Bewusstheitswahrnehmung: Das Denken ist das Weltbeschreibende, aber nicht das Weltwahrnehmende. Bliebe das Denken still, wäre Wahrnehmung und Welt ein und dasselbe, die Dualität wäre aufgehoben und wir wären nicht mehr gottesebenbildlich, sondern gottgleich. Diese Annahme ließe sich noch sehr viel tiefer differenzieren. Der Hinduismus hat es für sich bereits getan, und mit dem Yoga kamen seine Denkgebäude auch gen Westen. Mouna, das Schweigen, ist die Disziplin der Munis, die ihr Denken nach Belieben anhalten und wieder in Gang bringen können. „Antar Mouna“ nennen sie die Stille, in der sie gedankenlos weilen, „Chidakasha“ ihren Bewusstseinszustand, der dem allesdurchdringenden absoluten Bewusstsein entspricht und sie mit Brahman, dem höchsten Prinzip, vereint.

Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Am Prinzip aber ändern alle religiösen Spitzfindigkeiten nichts: Das Axiom Gedankenstille gleich Erleuchtung bleibt im Kern erhalten. Aber dennoch, einmal abgesehen davon, dass sich das Denken selbst verneint, bleibt außer dem Erahnen der drei archetypischen Momente nichts Fassbares, das dieses Axiom bestätigt; außer der wiederholten Behauptungen der Gurus, Meister, Munis und Mystiker. Warum aber sind so viele Menschen bereit, ihnen zu glauben? Noch dazu, wenn der Unerleuchtete nie wissen kann, was Erleuchtung ist. Darum sparen wir dieses Phänomen auch hier aus und widmen uns weiter den rauschenden Gedanken. Bedenken wir, ehe wir als brave Schüler zu Füßen der Meister unser Denken verneinen, welch großartiges Instrument das Denken ist! Denken wir dabei nicht an die Wissenschaften, die Kunst, die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, vernachlässigen wir auch das Gute wie das Böse, das die Menschheit in die Welt hineindachte, denken wir dagegen nur an die wunderbaren Götter und himmlischen Gefilde, die wir durch unser Denken kreierten, ja für die wir bereit sind, unser Leben zu opfern. Welch kosmische Kraft muss also das Denken sein, das uns sogar dazu bringt, uns selbstverneinend aufzugeben. Ja, eigentlich müsste das Denken gar eine göttliche Eigenschaft sein, wäre es nicht so ersichtlich an Zeit und Leib gebunden.

Das sind zwar beachtliche, gleichwohl sinnwidrige Gründe, warum Suchende Gedankenstille für sich erstreben. Sinnwidrig deshalb, weil es das Denken selbst ist, das zur Ruhe kommen möchte. Das Denken aber ist der Denkende, der den Zustand bedachte, an dem er nicht mehr ist. Eine Sache, die zwar wie jeder andere Unsinn auch bedacht werden kann. Das Ergebnis solcher Nachdenklichkeit kann jedoch niemals das Bedachte, nämlich die Gedankenstille, sein. Was also mag es sein, das Menschen dazu drängt, sich dennoch einem solch vergeblichen Unterfangen auszusetzen?

Drei Gründe dafür, sein Denken ersticken zu wollen

An erster Stelle mag tatsächlich der harmlose Wunsch nach Erleuchtung stehen. Ein zunächst undefinierter Wunsch, der aus einer religiösen Grundstimmung heraus entsteht. Man möchte dem Heiligen nahe sein, womöglich mit ihm eins werden. Durch die eigene Vervollkommnung soll auch die Welt insgesamt vollkommener werden.

Bei der Beschäftigung mit dem Weg dorthin wird schnell das eigene Ich als die zu überwindende Barriere erkannt, wobei Ego und Denken als deckungsgleich angenommen werden. – Was sie jedoch nicht sind, wenn man auch andere nicht von der Sprache belegte Hirnareale als egoprägend hinzuzieht. – Gründet doch die Ablehnung des Denkens meist auf der Vorstellung, dass es mit dem Verworten der Welt, der ständig selbstreflektierenden Erlebnisbeschreibung identisch sei. Dabei ist das wörtliche Denken nur ein Aspekt der Denkleistung. Bildhafte, sensorische, emotionale und vor allem unbewusste Reflexionen bilden quasi das Hintergrundrauschen, vor dem das wörtliche Denken geschieht. Ja streckenweise stellt das Gesumme auch eigenständige Denkprozesse dar.

Sein Seelenleid im Nichts verlieren.

Wenden wir eine solche abgestufte Betrachtung auf Denken und Ego an, wird rasch deutlich, dass mit Gedankenstille nur Wortlosigkeit im Oberstübchen gemeint sein kann und dass Egolosigkeit demnach lediglich den Stillstand der Selbstreflexion bedeutet. Das das Du kontrollierende Ich scheint still zu sein. Der Beobachter scheint mit dem Beobachtenden eins zu sein. Womöglich aber trügt nur der Schein, weil sich das Ego für wenige Augenblicke einmal nicht in selbstreferenzieller Betrachtung ergeht und sich – weil selbstvergessen – gerade einmal nicht selbst kontrolliert. Dies wäre in der Tat ein ungewohntes Selbsterleben, das als außerordentlicher Bewusstseinszustand begriffen werden könnte, selbst wenn es nur einen banalen Perspektivwechsel provozierte.

Süße Qual des Vergessens.

Ein zweiter Grund, sich von sich selbst in die Erleuchtung verabschieden zu wollen, zeitigt durchaus neurotische Züge. Jedenfalls ist es schon ein merkwürdiger Wunsch, sein Selbst überwinden und sein Ego verlieren zu wollen. Selbstlosigkeit durch Selbstverneinung ist ein üblicher Terminus; deutlicher bereits der buddhistische Begriff vom Selbstauslöschungsbegehren[2]; seltener, dafür treffender formuliert, spricht man von religiös verbrämter Autoaggression. Es ist ein umgeleiteter suizidaler Wunsch, anstatt vom Hochhaus springt man ins Nirvana. Die Motive, warum ein Mensch sich selbst entsagen möchte, sind vielfältig; fehlende Liebe, mangelnde Anerkennung und verweigerter Respekt bedingen fehlende Selbstachtung, die in Selbstverachtung mündet. Es ist der Schatten einer elenden Kindheit, der das Gemüt verdunkelt. Die Überwindung des eigenen Ichs zu glorioser Selbstherrlichkeit, sprich Erleuchtung, erscheint da als ein hübscher Ausweg aus der Misere. Ein heldenhafter Hieb mit dem Schwert der Meditation, und dem Ego purzelt sein Haupt vor die Füße. Doch schon mit dem Ausholen schlägt die zweite Schneide des Schwertes eine klaffende Wunde in das Haupt des Henkers, sprich in die Psyche des sich selbst Entsagenden. Denn da das Vorhaben für gewöhnlich misslingt, nährt es den vorhandenen Selbsthass. Schließlich ist aus dieser Sicht ein sich nicht selbstentsagendes Ego ein versagendes Ego. Die Folge ist ein obsessives Verhalten, bei dem der Zwang zur Selbstverleugnung letztlich soweit siegt, dass man sein Selbst dauerhaft ignoriert und sich daraufhin ebenso beständig in Gedankenstille wähnt.

Allerdings bedarf es nicht zwingend einer traurigen Kindheit und Jugend, um den Wunsch der Egolosigkeit bis zur wirksamen Selbstvergessenheit zu pflegen. Eine fehlgeleitete masochistische Neigung genügt, um sich in gleicher Weise zu verneinen und zu kasteien. Betrachten wir hierzu nur die monastischen Übungen der Selbstkasteiung zwecks seelischer Läuterung und Verklärung im Westen wie im Osten. Dabei werden Körper und Seele malträtiert und der Schmerz als das wesentliche Moment verherrlicht, das das Ich verlöschen und die Gedanken versiegen lässt. Das Motiv mag sich von Mal zu Mal unterscheiden, das Gebaren bleibt indessen gleich: Selbstverachtung und Selbstmissbrauch als Mittel zum Zweck der Gedankenstille. Wobei auch hier gilt, dass die Mittel den Zweck bestimmen.

Die erwähnten psychischen Konditionierungen weisen auf eine dritte Ursache, warum sich so mancher den Zustand der Gedankenstille ersehnt. Es ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Verdecktes Grundmerkmal dieser Störung ist eine Selbstentfremdung und hierdurch bedingte mangelnde Eigenliebe. Hieraus resultieren unter anderem Größen- und Kleinheitswahn. Diese manischen Erscheinungsformen begünstigen das Verlangen nach Erleuchtung. Zum einen verspricht der Status eines Erleuchteten Ruhm und Ehre, zum anderen darf die eigene Nichtigkeit als Ausweis wahrer Demut weiter gepflegt werden. Das heißt: Durch das Bemühen um Gedankenstille kann man seine Störung kultivieren und leidlos konservieren.

Aber auch andere psychische Störungen begünstigen dies seltsame Streben nach egofreier Herrlichkeit, beispielhaft seien Burnout-Syndrom, posttraumatische Störungen oder phobische Ausformungen wie die Furcht vor Sterben und Tod erwähnt. Die Flucht in die Erleuchtung erscheint hier als Weg der Erlösung, dem Leid wird sein Bezugspunkt, das Ego, entzogen.

Vergebliche Versuche, sich zu enteilen

Das alles sind zweimal drei gute Gründe dafür, warum man „sich enteilen“ möchte. Nur wohin enteilt man sich wirklich? Wer findet sich in der Gedankenstille wieder?

Es wird stets der Enteilende sein, der sich am Ziel einholt. Gedankenstille ist eine Vorstellung des Denkenden. Nur wer denkt, kann Gedankenstille wollen, bewirken und bemerken. Es ist allein der Denkende, der seine Gedanken kontrolliert, sie sich verbietet, sich ihnen entsagt. Es ist der Denkende, der bedenkt, dass sein Denken Leid bedeutet. Doch es ist einzig sein Leid, nicht das eines anderen, auch nicht das eines Denkenden hinter dem Denken und erst recht nicht das jener Egoanteile, die, weil ungedacht, auch unbedacht bleiben. Der Denkende wird sich also niemals selbst entkommen. Würde wirklich Gedankenstille herrschen, gäbe es keinen Denkenden mehr und somit niemanden, der diesen Zustand reflektieren könnte. Gleiches gilt für das Ego; wobei, wie bereits angedeutet, das Ego nicht allein mit dem wörtlichen, bildlichen und emotionalen Denken verknüpft ist, sondern auch mit einer unspezifischen psychosomatischen Identität, vergleichbar mit dem Freudschen „Es“. Da aber der Denkende den Moment seiner Selbstauflösung zwingend beobachten muss, um sich sicher zu sein, dass sein Denken ruht, wird er selbst auch dann noch lauernd präsent sein, wenn er glaubt, seine Tätigkeit eingestellt zu haben.

Und fürwahr führt solches Sich-Enteilen in den Wahn. Der Denkende kontrolliert sich so sehr, dass er in der Tat seine Gedanken vor sich selbst unterdrücken kann. Der Zustand solcher Selbstbetäubung ist gewiss eine psychische Sensation und lässt einen, da mit ihm die Dualität scheinbar verwischt, in die Vorhöfe transzendenter Sphären blicken. Vor allem aber vermittelt er die Illusion von All-Einheit, die das Ich sehr durchsichtig und leise, sich vor sich selbst verbergend, höchst aufmerksam registriert. Jedoch wieder zurück im alltäglichen Hamsterrad der Denkmühle wähnt es sich nunmehr über dem Geschehen und bewahrt die Distanz zu sich. Diese schizoide  Spaltung aber deutet es für sich, da es zweifelsohne ein außergewöhnlicher, wenn auch nur verdrehter Zustand ist, als die Manifestation dauerhafter Erleuchtung, sprich Egolosigkeit. Ich nenne diesen Zu-stand „Erleuchtungsneurose“.

Doch wäre ich nicht der, der ich bin, gäbe es nicht zum Ende meines Spottgesangs auf die Gedankenstille die Umkehrung des Gesagten, indem ich Gedanken dazu künde, wie doch gehen könnte, was nicht geht, denn im Paradoxen liegt nun einmal der wahre Zugang zur Magie, und mit ein bisschen Zauber stellt sich bekanntermaßen gelegentlich auch ein, was sich gemeinhin nicht einstellen kann.

Empfehlungen für nichts und niemand

Aus Kavernen blitzt der Geist.

Halten wir fest: Gewollte Gedankenstille gibt es nicht. Was es gibt, ist die Möglichkeit, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ist er zu Ende gedacht, entsteht entweder sofort ein neuer Gedanke oder das Denken ‑ speziell das Arbeitsgedächtnis ‑ ruht für eine Weile. Ruht das Denken, ist es nicht still. Es denkt nur nicht. Das assoziative Feuerwerk präkognitiver Präsenz sprüht derweil im Hintergrund prächtig weiter. Nennen wir diese Ebene „ruhendes Denken“. Jeder sensible Mensch kann dies bei der Beobachtung seines eigenen Denkens bemerken. Ehe ein Gedanke entsteht, gibt es einen nonverbalen Impetus, der zum Keim des Gedanken wird. Er bewirkt eine geistige Präsenz, die dem Gedanken Raum gibt, noch ehe er gedacht wird. Das Denken selbst ist dann häufig nur die strukturierte Abbildung dessen, was zuvor durch einen Impuls ins Bewusstsein blitzte. Neurobiologen konnten diese Präsenz vor dem bewussten Gedanken jüngst nachweisen. 500 Millisekunden sei die Differenz zwischen dem Handlungsimpuls und seiner bewussten Wahrnehmung. Ihre Schlussfolgerung war allerdings seltsam: Sie behaupteten nämlich, das Ergebnis ihrer Forschung belege, dass der Mensch keinen eigenen Willen besäße. Nun ja, das mit dem freien Willen wäre diskutabel, doch darüber sinniere ich wohl besser an anderer Stelle.

Wo Gedankenstille zu Hause ist.

Bleiben wir also bei der Gedankenstille. Gibt es so etwas wie eine präkognitive Wahrnehmung oder Präsenz, also eine Bewusstwerdung vor dem Denken, welche das Denken erst nachträglich erfasst und nachbilden kann, dann entspräche dies einem Bewusstsein vor dem Denken; dann schöpfte dieses Bewusstsein aber aus der Gedankenstille, einer Ebene vor dem ruhenden Denken. Das würde bedeuten, Gedankenstille ist ‑ da dem Gehirn immanent ‑ eine ursprüngliche Selbstverständlichkeit. Das Hecheln nach ihr wäre deshalb die Hatz nach einer Schimäre.

Ich nehme dies an. Denn aus meiner Selbstbeobachtung erfahre ich, dass die präkognitive Präsenz der Quellteich meiner Intuition ist. In ihn ergießt sich aus dem Quellmund der Quellstrahl. Er ist mein „Fühler“, über den ich „Führung“ erfahre. Dieser Born ist mein Lebensquell, er ist mein stiller Begleiter oder meine wahre Identität, die nicht mein Ego ist, sondern meinem Ego ein unbekanntes und unfassbares Gegenüber. Aus diesem Grunde ist mein Sagen darüber im Grunde Schweigen, und so viel wie an dieser Stelle habe ich bislang selten darüber mitgeteilt.

Sehen, was ist.

Eine Möglichkeit, seinen Blick auf das Unmögliche zu lenken, besteht vermutlich darin, dass man das Ziel Gedankenstille aufgibt und sich mit dem beschäftigt, was ist, nämlich ein rastloser Geist zu sein, der seine Gedankenmühle dreht und sich nach Einhalt sehnt. Lenken wir also unseren Blick darauf, dass unser Geist beständig schwatzt. Die Frage ist dann nicht: „Wie hört er zum Schwatzen auf?“, allenfalls kann zur Debatte stehen, warum das Schwatzen unablässig genährt wird. Doch selbst diese Frage führt nur zu weiterer geschwätziger Gedankenspielerei, jedoch zu keiner Einsicht. Einsicht wäre, wenn wir nichts weiter feststellten, als dass unser Geist schwatzt und die Gedanken uns und wir mit ihnen davonlaufen. Mehr ist nicht zu tun. Kein Ausweichen vor dieser Tatsache; kein Plan des Endens; nichts. Der Geist schwatzt. Mehr ist nicht, mehr gibt es nicht zu sehen. Es gibt keinen Ausweg. Auch präkognitive Präsenz ist kein Ausweg, denn sie hat nichts mit dem schwatzenden Geist zu tun. Was bleibt, ist nur das, was ist: ein schwatzender Geist. Das ist es.

Gehen wir so konsequent auf die Tatsache ein, kann sich etwas lösen, kann etwas geschehen. Doch was dann geschieht, ist und bleibt eine andere Dimension. Eine Dimension jenseits des Gedankens. Sie kann nicht geplant, nicht bedacht und nicht gewollt sein. Sie entsteht allein aus dem unbestechlichen Blick auf das, was ist. Dieser Blick muss Blick bleiben. Er ist kein Gedanke über das, was beobachtet wird. Er ist eins mit dem Beobachteten. Das Beobachtete ist der Beobachter. Dies ist Einsicht. Solche Einsicht gebiert unmittelbare Handlung. Sehen und Impetus sind eins. ‑ Lassen wir die sich anschickende Handlung geschehen. Sie wird konsequent anders sein als jedes vorbedachte Tun.

Aufmerksamkeit ist Achtsamkeit.

Eine weitere Möglichkeit, den Rhythmus der Gedankenmühle zu unterbrechen, ist Aufmerksamkeit. Auch sie ist ziellos. Sie richtet sich nicht darauf, dass wir aufmerksam sein wollen oder sollen. Solche Aufmerksamkeit wäre nur verrückte Disziplinierung. Denn die Aufmerksamkeit dafür, aufmerksam zu sein, würde alle Aufmerksamkeit verzehren. Wir stünden nicht nur zur Welt in Dualität, sondern würden uns in uns selbst in vielfältiger Dualität Aufmerksamkeit einfordernd bis zum Irrsinn zersplittern.

Wir können uns auch hier nur auf das beschränken, was ist. Entweder sind wir aufmerksam oder wir sind es nicht. Sind wir aufmerksam, geschieht nichts. Wir sehen, nehmen wahr und sind folglich in der Wahrheit. Hier müssen wir das Gesehene nicht bedenken, denn wir sind mit ihm eins. Sehen und das Gesehene sind voneinander nicht unterschieden. Tritt der Gedanke dazwischen, und denken wir, beschreibend oder aufzählend, was wir sehen, verliert sich die Aufmerksamkeit. Bemerken wir dies, kehrt Aufmerksamkeit zurück, ohne dass wir sie erzwingen. Wir wollen nicht aufmerksam sein. Wir bemerken nur unsere Unaufmerksamkeit. Mehr ist nicht zu tun. ‑ Gewollte Aufmerksamkeit ist unbemerkte Unaufmerksamkeit. Erkennen wir dies, werden wir bescheiden und verzichten darauf, uns zur Aufmerksamkeit zu drängen. Wir geben den Beobachter auf und lassen das Sein das Nichts beobachten. Gibt es hierbei eine Unterbrechung, sind wir bei uns und wissen um unsere Unaufmerksamkeit. Mehr ist nicht zu tun. Dann könnte es geschehen, dass Bewusstwerdung mehr ist, als den Inhalt seines Bewusstseins zu inventarisieren.

Der göttliche Trojaner in uns erwacht.

Erkennen wir, dass unser Bewusstsein stets begrenzt bleibt, müssen wir es nicht mehr durch erzwungene Stille entleeren, um es ins vermeintlich Grenzenlose zu heben. Denn dann, und dies wäre eine dritte Möglichkeit, das Unmögliche möglich zu machen, beschränken wir uns auf unsere Beschränktheit und lassen den Prozess einer Bewusstwerdung für sich zu, indem wir ihn nicht mehr verfolgen. Ich meine damit, die Wahrnehmung als eine das Ego unerreichbare Schwingung zuzulassen. Als ein Geschehen, das nicht einmal in uns, sondern in der Welt geschieht. Es ist die Selbstwahrnehmung des Geistes. Es geschieht durch sich selbst und ist sich selbst genug. In dieser Obsoleszenz erkennen wir womöglich augenblicklich die Illusion all unserer eitlen Konstruktionen. Dies wäre der Augenblick, in dem die Gedanken sich selbst loslassen und alle Kausalität endet. In diesem Augenblick leert sich das Bewusstsein und wird zum Gefäß für das, was sich in es hinein ergießt. Hierbei ist niemand mehr, der empfängt. Dies ist reine Bewusstwerdung. Sie ist ein Prozess der Schöpfung. Die Schöpfung bedient sich unserer Sinne. Die Welt betrachtet sich. Erkennt sich in uns. Heilsein ist.

Im Grunde habe ich damit schon viel zu viel gesagt. Denn jede Andeutung des Transzendenten ist ein Keim der Illusion. Schließlich sind diese Momente der Schöpfung keine Erlebnisse, denen wir beobachtend gegenüberstehen, sondern ein Geschehen, in dem wir aufgehen, in dem kein Beobachter mehr ist. Sobald wir uns wiederfinden, ist jedoch unser ganzes Wesen von diesem Geschehen durchdrungen. Es bleibt zurück und wird in Worte gefasst. Diese Worte aber sind nur ein Abbild vom Abbild. Es sind die gleichen Worte, mit denen wir den Weg zum Bahnhof beschreiben. Den Bahnhof werden wir nach diesen Worten finden, das Heilsein jedoch nicht. – Folgerichtig leitet uns jeder, der uns verspricht, uns auf den Erleuchtungsweg zu führen, in die Irre; und falls Sie meine Worte in diesem Sinne verstehen wollen, wäre ich auch für Sie ein solcher Scharlatan.

Nun habe ich Ihnen, zumindest nach meiner Absicht und meinem Verständnis, mit vielen Worten beschrieben, wie Sie den Weg zum Bahnhof nicht finden können. Falls Sie aber den Worten aufmerksam gefolgt sind, konnten Sie vielleicht die Schwingung erahnen, die diese Worte formten. Sie kann der Hauch sein, der sie so schauen lässt, dass Sie sich dort verlieren, wo Sie ankommen möchten. Seien Sie dabei sehr achtsam, denn die Täuschung wohnt in Ihnen. Sie ist das Ego, das sich staubkörnchenklein machen und mucksmäuschenstill verhalten kann. Es ist der nulldimensionale Punkt in Ihnen, mal zentral, mal als ein zig-fach verlinkter Zustand der Reflexion. Der Punkt, in dem sich die Schnittlinien Ihres Daseins kreuzen. Verteufeln Sie ihn nicht, seien Sie großmütig mit ihm, er ist ein nützlicher Idiot, einerseits Schwätzer, andererseits hervorragender Koordinator, aber er wird niemals derjenige sein, der durch das Tor geht. Darum bleiben Sie ziellos und achtsam, dann rückt Ihnen das Geschehen näher, als Sie ahnen. Haben Sie dazu noch eine Ahnung, was Schönheit und Liebe ist, und ist Ihnen die Tugend der Demut nicht fremd, sind Sie gut gerüstet für eine Wanderung durch ein pfadloses Land.


[1] Das Merkmal dieses Archetyps ist, dass mit der Erkenntnisfähigkeit der Mensch aus einem paradiesischen Zustand gerissen wird. Er erringt hierdurch zwar gottähnliche Züge, wird aber im Gegenzug mit Leid und Plage bestraft.

[2] Es wird Vibhava-Trishna (Skrt.) genannt und umschreibt das Verlangen, sein Selbst auszulöschen. Dies kann vereinzelt durchaus suizidal sein, da es aber meist ein nicht bewusstes Sehnen ist, sich restlos zu verlieren respektive seiner Welt zu entkommen, kann es sich auch hinter dem selbstsüchtigen Wunsch verbergen, sein Menschsein zu transzendieren.

8 Irritationen

Haiku © M. Mala

Nachstehende acht kontemplative Senryū wurden von mir jeweils zum Jahresende verschiedener Jahre verfasst. Jetzt wieder gelesen, konnten sie mich erneut bezaubern. Ein Senryū schildert im Gegensatz zum Haiku, dessen Augenmerk der Natur gilt, eine alltägliche Wahrnehmung oder Erlebnis.

1
Neues kehrt altes
Schicksal zur Beliebigkeit
Erschau dir was heut.

2
Wir sind weder Leib
Noch Seele, noch Geist, noch Gott
Es ist unsagbar.

3
Meine Träne fällt
In ein Meer reiner Weisheit
Ein Gedanke erblüht

4
Das Normale ist
Nur der Durchschnitt des Wahnsinns
Wer nimmt euch noch ernst.

5
Sich selbst verwechseln
Im glitzernden Lebenslicht
Frisch wie Morgentau.

6
Weiß alles besser
Weil ein gutes Mensch ich bin
Geht mir auf den Leim.

7
Sog ned, wos wean ko,
Wei dös wos is, dös langt scho
Füan ganzn Rest vom Lebm.

8
Der Hahn legt ein Ei.
Die Henne brütet es aus.
Ein Schicksal schlüpft aus.

Entwicklungslinien

Labyrinth Triangel © M. Mala

1977 beschloss ich Künstler zu werden. Ich begann, Landschaftsbilder mit Sepiatusche zu zeichnen, und verkaufte sie in Schwabing auf der Leopoldstraße. Sie verkauften sich recht gut. Ein Jahr später wollte ich mein Einkommen durch BAföG zusätzlich stabilisieren und bewarb mich dazu bei der Akademie der Bildenden Künste. Es war neben Günter Fruhtrunk vor allem Professor Rudi Tröger, der sich für meine Arbeit interessierte. Er meinte, ich solle den Bilderverkauf auf der Leopoldstraße aufgeben, die Straßenmalerei blockiere meine künstlerische Entwicklung. Dazu empfahl er mir das Aktzeichnen und die Übung an Stilleben. Ich tat, wie mir geheißen und fand mich kurz darauf beim Aktzeichnen wieder.

Die Modelle in diesen Kursen waren bereits vom Leben gezeichnet und folglich eine Herausforderung. Die Kursleiterin versuchte, unseren Blick auf die Modelle dahingehend zu öffnen, indem sie immer wieder anregte, nicht das Modell abzubilden, sondern die Luft um es herum, also quasi den Raum zu zeichnen. Nun, die Idee gefiel mir ganz gut, doch es haperte am Blickwechsel. Zu sehr hing ich am Körper und übersah seine Aura. Besonders ein Modell, eine ältere Russin, ging mir gegen Strich. Ich fand sie in ihrer Nacktheit abstoßend. Dementsprechend eindruckslos fielen auch meine Zeichnungen aus. Die Lehrerin erkannte wohl meine Not, und meinte, ich solle mich mehr heranwagen. – Keine Ahnung, was sie damit wirklich meinte. Doch ich sperrte mich noch mehr und da wir aber kein anderes Modell bekamen, beschloss ich schließlich, meine Aversion zu überwinden, indem ich das Modell so zeichnete, wie es mir in seiner ganzen Hässlichkeit erschien. Dieser Sprung in der Betrachtung weckte indes meinen Eifer. Mit einem Mal hatte ich echte Laune, sie zu zeichnen. Wie von selbst entstand ein Raum um sie und ihre Erscheinung vermittelte auf dem Blatt gar etwas verletzliches.

Die Kursleiterin war erstaunt über den Qualitätssprung meiner Zeichnungen, doch ihre Frage, was meine kreative Verwandlung ausgelöst habe, wollte ich nicht beantworten. Wer ist schon so frei und gibt zu, ich bilde diese arme Frau in ihrer ganzen Erbärmlichkeit ab; noch dazu wo es mir selbst offensichtlich war, dass sich meine Aversion nicht mit ihrer tatsächlichen Erscheinung deckte, sondern nur meiner überspitzten Wahrnehmung entsprang. Jedenfalls war dieser Durchbruch in meiner künstlerischen Haltung ganzheitlich. Von nun war ich derjenige, der die Gestaltung eines Bildes, Textes oder Objektes konzipierte und durchführte und sich nicht mehr von Stimmungen und Einwirkungen lenken ließ. Ich hatte zur Professionalität gefunden.

Nachdem ein Jahr vergangen war, stellte ich mich mit meiner Mappe erneut bei Rudi Tröger vor. Er sah meine Bilder und Zeichnungen lange an. Fragte nach dem Hintergrund des einen oder anderen Bildes. Interessierte sich für den Malprozess und gab mir schließlich die Mappe mit dem Kommentar zurück: „Das wird leider nichts mit uns. Sie haben sich zu sehr entwickelt. Sie sind ausgebildet, ich weiß Ihnen nichts mehr zu zeigen“. Beim Hinausgehen grüßte er mich mit: „Auf Wiederschauen, Herr Kollege.“

Tja, das schmeichelte mir nicht nur, sondern adelte mich geradezu, denn er bestätigte mir, was ich inzwischen auch selbst wusste, ich war zum Künstler geworden. Allerdings mein eigentliches Ziel, mein Auskommen durch zusätzliches BAföG zu arrondieren, hatte ich durch meinen Eifer, mir selbst die notwendigen Fertigkeiten beizubringen, verfehlt. Andererseits war das verfehlte BAföG kein echter Verlust, sondern allenfalls ein weiterer Ansporn; denn letztlich wurde mir meine Kunst zum Brotberuf, durch den ich seitdem mein Auskommen fand.

12 Haikus zum Frühling

Frühling © M. Mala

Zwitschernde Vögel
Zwischen Winter und Frühling
Halt Valentinstag.

Wildbienen purzeln
Im Liebestaumel durchs Gras
Der Frühling beginnt.

Später Schnee bedeckt
Das Windröschen am Waldrand:
Der Frühling verharrt.

Stumpf und welk das Gras
Gelb, braun, grün im Sonnenschein
Frostiger Märztag.

Trotz Sonnenflirren
Und verwehtem Wüstenstaub
Palmkätzchenblüte.

Strahlender Himmel
Schneeflocken und frisches Grün
April tanzt im Land.

Ein Storchenpaar kreist
Über schneefreien Wiesen
Kalter Frühlingstag.

Zwischen den Gleisen
Frisches Grün und braunes Gras
Löwenzahnblüte.

Bestellte Äcker
Zwischen hellgrünen Matten
Blühende Bäume.

Ein Storch sticht Frösche
Aus der Wiese. Der Zweite
Bebrütet das Nest.

Im Tal schon Sommer
Steige ich den Hang hinauf
Dem Lenz entgegen.

Die Blutbuche schmückt
Junges Laub tausendfach rot
Vor dem Finanzamt.