Wir gingen ans Ende der Halbinsel. Vor uns ragte die Bergflanke gen Himmel. Sie war durch die Baumkronen hindurch gut zu sehen. Wir begannen mit dem Aufstieg durch den Wald. Hin und wieder blitzte durch eine Schonung der See in der Herbstsonne zu uns herauf. Dann öffnete sich der Wald und wir stiegen weiter über blühende Matten den steilen Hang hinauf. Die Wiese wurde allmählich karger und die Grasbüschel kleiner. Dann kam die Felswand, die es zu queren galt. Wir rasteten. Blickten auf den See tief unter uns. Man saß sicher, trotzdem zog die Tiefe. Das leichte Kribbeln in den Füßen nahm allmählich ab. Wir lehnten uns zurück, lagen ausgestreckt im mageren Gras mit den spärlichen Blumen. Die milde Sonne wärmte uns. Unter uns das Tal mit dem See. Über uns griff der Berg nach den wenigen Wolken, die langsam gen Osten zogen. Sein Gipfel war nicht zu sehen. – Es war still um uns und sehr weit.
Nach einer Weile machten wir uns auf, den schmalen Pfad, der über eine Abbruchkante an der Felswand entlang führte, zu passieren. Die von der Sonne erhitzte Wand empfing uns mit ihrem warmen Hauch aus Herbst und Stein, ein Duft, der an ein bergbäuerliches Brotbackhäusel erinnerte. Ein im Fels verankertes Drahtseil gab zur Linken hin Halt. Zur rechten schob sich tief unten am Fuß der Wand ein Geröllfeld zum Waldrand hin. Es war kein gefährlicher Steig, dennoch musste man achtsam schreiten, denn ein Fehltritt hätte auch hier zum Absturz führen können. Wir passierten die Wand ohne Zwischenfall. Mittendrinn, als wir aus luftiger Höhe wie aus einem Adlerhorst über das Tal blickten, strichen zwei Dohlen nahe an uns vorbei. – Für einen Augenblick empfanden wir uns als Eindringlinge in eine heile Welt.
Transzendente Führung ist ein Angebot, so wie das Drahtseil an der Bergflanke, das uns sicher über den Steig leitete. Wir können es ergreifen oder lassen. Es ist eine passive Führung, die unsere Aktivität unterstützt. Bleiben wir stehen, ist das ebensogut, wie wenn wir weiterschreiten. Sie ist da, wann immer wir uns bewegen oder verharren, solange wir uns ihr anvertrauen wollen.
Transzendente Führung ist ebenso Führung aus dem Nirgendwo. Da scheint keinerlei Autorität auf, die sich speziell um uns sorgt, sondern sie erlaubt es uns vielmehr, sich einer Bewegung anzuvertrauen, die uns auf unserem Lebensweg leitet. Sie ist gewissermaßen ein Schicksalsfluss, der uns an die richtigen Gestade trägt und zuletzt irgendwann in das Meer des All-Einseins schwemmen wird.
Transzendente Führung ist aber auch eine Kraft, die uns begleitet und auf uns wirkt. Von einer naiven Perspektive aus gesehen mag sie unser Schutzengel sein. Doch solche personalisierte Verdinglichung wird dieser Kraft nicht gerecht. Sie stellt uns eher einen inneren Kompass bereit, der es uns erlaubt, uns wieder einzunorden, sobald wir unseren Weg verlassen haben. Mit ein wenig Achtsamkeit in unserem Alltag werden wir immer wieder Wegmarken finden, die uns anzeigen, Metanoeite, kehre um! (Meta = um, noein = denken).
Die Aufgabe, in eine andere Richtung zu denken, wäre die praktische Forderung, die mit unserer partiellen Selbstentfremdung einhergeht, denn sobald wir von unserem Lebenspfad abkommen, verlieren wir auch unsere Wurzeln, sofern wir unser Leben entelechisch begreifen, das heißt, dass es sein Ziel in sich selbst trägt und wir uns mit der Näherung an dieses Ziel selbst vervollkommnen, was unserem inneren sprich seelischen Heilwerden gleichkommt. – Denn unsere Wurzeln sind unser Ziel. Der Bogen zu ihnen ist unser Leben.
Umkehren, umdenken, Metanoia, war die himmlische Forderung an Jesus, nachdem Johannes der Täufer verhaftet worden war. Er ging zurück nach Galiläa und begann zu predigen. Es war der Moment, wo er sich als Christus, der Gesalbte, offenbarte. Zuvor mühte sich noch der Teufel vergeblich, ihn zu versuchen. Diese Geschichte ähnelt der Erzählung von der Versuchung Buddhas durch Mara, dem Teufel, ehe er die Erde als Zeugin anrief und vollständige Erlösung und Erleuchtung erfuhr. Auch Buddha begann danach zu predigen. Beide folgten dann ihrem Weg im Vertrauen darauf, sicher geleitet zu werden.
Umkehr ist demnach auch Abkehr von unserem bisherigen Leben. Sie kann sowohl eine vollkommene Kehrtwende als auch nur eine geringe Korrektur sein. In jedem Fall bedingt derlei Wandlung aber, dass wir uns für die Transzendenz und ihre Forderung an uns öffnen. Diese Öffnung geschieht durch uns selbst, indem wir unsere Begrenztheit anerkennen. Es ist also zunächst eine Reduktion, die geschieht. Im Wissen um unsere Begrenztheit vermögen wir dann, Gewohntes loszulassen und auf egoistische Selbstbehauptung und Selbstgestaltung zu verzichten, was zugleich eine Befreiung von profanen Zwängen ist. – Eine in der heutigen Zeit recht unmoderne Vorstellung, wo wir doch weltweit einem manischen Narzissmus und einer überbordenden Individualität huldigen, die in ihrem Auswuchs jedoch geradezu das Gegenteil dessen bewirkt, indem wir immer gleichförmiger und verführbarer werden; so dass die meisten Menschen längst ein von den Medien diktiertes Leben aus zweiter Hand führen. Eine Form nötigender Führung, der wir uns an sich nicht unterwerfen wollen, es aber, sozialen Zwängen folgend, unbedenklich tun.
Um uns also nicht einem uniformen Leben in einer bunten Plastikwelt anheimzugeben, sondern unsere Resilienz zu aktivieren und ein unangepasstes Leben zu führen, bei dem wir unserer eigenen ursprünglichen Bestimmung folgen, sollten wir uns ganz im Stillen fragen: Ob wir bereit sind, das für uns gespannte Seil in die Hand zu nehmen? Ob wir ganz darauf vertrauen wollen, sicher geleitet zu werden? Ob wir den Mut besitzen, uns vom Unbestimmten und Unbenennbaren, ja auch vom Ungewissen, führen zu lassen? Ja, ob wir letztlich auch bereit sind, uns wirklich ganz zu öffnen, das heißt unsere Seele heimführen zu lassen in transzendente Sphären, so dass sie ihre Heimat gleichermaßen in uns wie im Überirdischen findet.
Das sind freilich keine Fragen, die mit Jaja leichthin abgenickt werden können, vielmehr verlangen sie bereits im Vorfeld Bereitschaft, Hingabe und Aufmerksamkeit; und vor allem Vertrauen an die übergeordnete Kraft, durch die wir letztlich Führung erfahren werden. Üben wir uns darin ein, erfahren wir himmlische Weite und Stille als eine uns tragende Kraft. Wir werden vertraut mit ihr und wagen uns, uns ihr in loser Verbundenheit furchtlos anzuvertrauen. Dies ist der Beginn von Demut und damit auch der Beginn transzendenter Führung. Wir legen unsere Hand gewissermaßen in die Hand des Schöpfers. – Mehr können und müssen wir nicht tun. Alles weitere ist Gnade …
Ein Hinweis zum Schluss: Mit spiritueller Führung befasst sich das aktuelle Heft (11-12/13) der Connection Spirit. In diesem Heft finden Sie auch einen Aufsatz von mir zum Thema, in dem ich Führung aus einem noch anderen Blickwinkel betrachte. Über diesen Link (Connection Spirit) können Sie im Heft blättern und es bestellen.
Ob nun Umdenken, Nachdenken oder Weiterdenken, ob nun Pandaimonion oder Spirituelle Führung: Wir sind niemals allein. Wer lauschen will, der lausche – in sich hinein… 🙂
… allein vielleicht nicht, aber gelegentlich all-ein.
Servus M. M.
Ne echte Win-win-Situation: Niemals allein und noch dazu gelegentlich unio mystica. Das Leben hat einiges zu bieten – man muß nur hinhören, herhören, zuhören und irgendwann aufhören…
Auch ich Ihr Diener!
Daniel
Lieber Matthias, wunderschöner Text, welchen ich mal wieder zu 100 Prozent nachempfinden und zustimmen kann! Der Vergleich mit der Felswand und dem Drahtseil ist sehr passend. Ich befinde mich gerade in dieser Phase, in welcher ich mich dieser „Führung“ anvertraue, weil ich erkannt habe, dass ich im Leben sowieso nichts auf Biegen und Brechen erzwingen kann, was nicht sein soll. Ich würde dieses Gefühl noch ein wenig krasser beschreiben. Ich empfinde es zur Zeit so, als ob ich das Drahtseil greife, die Augen schließe und auf dem schmalen Pfad am Abgrund ohne Angst, dafür voller Vertrauen, innerer Ruhe und Gelassenheit entlangschreite. Es ist ein Gefühl der Geborgenheit und dem Wissen, dass man es gut mit mir meint, obwohl ich nicht weiss, wohin mich dieser Weg führen wird!
Danke, liebe Anni, aber wie wäre es mit wenigstens 99 %? 😉 Denn ohne einen Rest an Zweifel würden wir auch die Erkenntnis ob der Richtigkeit von Führung verlieren.
M. M.