Totengedenken

Ahnenwehen © Matthias Mala

Ahnenwehen © Matthias Mala

Kein Novembergrau verschleiert diesen Totengedenktag, lässt ihn nicht ins Diffuse gleiten, in das keltische Seelenwehen, das mit Gänsebraten gefeiert, die Ahnen an den Tisch bittet. Nur ein kurzes Verweilen, um einander zu versöhnen, ehe man sich scheidet und ein jeder in seiner Anderwelt fortlebt. So bleibt man den Toten nah und fern; bleibt von ihnen verschont und mag sein Leben leben, wie es das Dasein und nicht das Jenseits fordert.

Ein schönes Nebeneinander, das sich in dieser Nichtzeit, der Novemberei, verwischt. Dann tauchen die Seelennebel vom Himmel herab und aus der Erde hinauf und verhauchen und verlangsamen alle Wirklichkeit. Selbst die Raser auf den Autobahnen drosseln Nebelschwaden, und wer das nicht wahrhaben möchte, der wird geschrottet oder gar weggesenst.

Zu den Novembertagen zieht es uns auf die Friedhöfe an die Gräber von Freunden und Verwandten. Manche Visite ist vergnügt und laut; mit Blasmusik und Trinksprüchen zum Flachmann wird dem alten Kumpel gedacht und wieder einmal ein letzter Schluck aufs Grab gekippt. Hier passt der Sonnenschein zur Laune.

Andere stehen dagegen in stiller Andacht vor dem Grab, entspannt, in sich versunken, den Grabstein im Blick, als könnten sie anhand des Namens die Person beschwören und erscheinen lassen. Bodennebel als Ausdruck ihrer Zwiesprache kriecht seelengleich übers Grab; seine Spitzen vergoldet die tiefstehende Sonne.

Du stehst am Grab deiner Großmutter. Du kanntest sie kaum. Die Adresse ihrer Grabstätte erfuhrst du erst 40 Jahre nach ihrem Tod, als das Grab aufgelöst werden sollte. Ein Bruder verlängerte die Grabmiete, weil ihm die Großmutter einst vor über einem halben Jahrhundert braune Wildlederschuhe spendiert hatte. Es ist das einzige Ahnengrab, das du weißt. Die Eltern sind irgendwo anonym verscharrt. Sie machten sich so vom Acker, nicht weil sie sich für so verachtenswert hielten, sondern wohl eher für so wichtig, dass sie sich dem Totenkult entziehen und so ihren Kindern letztgültig ihre Verachtung zeigen konnten.

Also stehst du da, an dem Grab, das dir blieb, und fragst dich, was für eine Frau diese Ahnin gewesen sein möge. Was hatte sie getrieben, dass sie so viel Bosheit weiterreichte? Und schon fragst du dich, wenn du die Zeit betrachtest, aus der sie kam, wieviel sadistischer Erziehung sie ausgesetzt war und deren Eltern und deren Ahnen. Schon blickst du auf die ewig blutige, grausame Geschichte dieses Landes, dessen Boden immer wieder vom Blut seiner Männer getränkt wurde und dessen Bevölkerung, sofern sie nicht zum Adel oder Bürgertum zählte, ein geknechtetes Dasein führte. Und du spürst, wie aus diesem Grab der Novembernebel allen Elends aufsteigt, wie sich der ganze Schmerz, die ganze fortgereichte Niedertracht in Schwaden darstellt.

Das ist deine Andacht. Ein bitteres Lachen und ein wenig Neid, ob des Andächtigen am nächsten Grab, der gewiss um seine Liebsten trauert und ihnen wohlgesonnen gedenkt. Irgendwann, irgendwo, bei irgendwem, muss es bei ihm einen Bruch in der Geschichte gegeben haben, damit die blutrünstige Schrecklichkeit der weitergereichten Sünde bis ins siebte Glied ein Ende hatte. Wo die Erbsünde ihre Macht verlor. Wo Resilienz einen aus dem Staub erhob und in seinem Wesen adelte, und er endlich als erster einer langen Reihe von Verblichenen der Liebe teilhaftig werden konnte und diese Liebe weiterreichen durfte. Er liebte trotz seiner Verwundung und heilte somit die Welt, indem er den Fluch von seinen Nachkommen nahm.

Das ist deine Andacht. Du hast den Kreis durchbrochen, hast den Drachen gleich dem heiligen Georg besiegt, auch wenn die Bilder der Höllenbrut dich noch übermannen. Gleichwohl siehst du, wie die Erschütterungen der Zerstörung noch über dich hinauswirken, und du ihnen nur mit Liebe begegnen kannst. Liebe ist das Schwert, das dir geblieben ist.

Und so sprichst du in Liebe zu den Ahnen. Nennst sie keine Guten, verzeihst ihnen nicht, sondern benennst, was dir ihr Seelennebel offenbart: ihre abgrundtiefe Schändlichkeit. Und dein offenes Wort ist Balsam für ihre geschundenen, verdorbenen Seelen, denn nun haben sie alle Zeit, um ihre Schlechtigkeit zu betrachten und darüber an sich selbst zu genesen, indem sie in sich selbst abschwören, was ihnen in der Einsamkeit der Ewigkeit begegnet. Ja, durch deine klaren Worte heilst du die Ahnen, erweckst in ihnen womöglich die Liebe, durch die ihre Seelen frei werden. Frei, um Liebe zuzulassen; frei, um in Liebe zu gehen.

Es wäre eine Lieblosigkeit, würdest du über die Toten, nur Gutes reden, denn du würdest dich selbst verleugnen und damit der Liebe den Raum in dir verweigern.

Novembersonne bescheint das Grab, bescheint von Westen her deine linke Seite …

2 Kommentare zu “Totengedenken

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