Spukgeschichten

Seelenschwatz © Matthias Mala

Alle Jahre wieder ersteht im Frühjahr der Heiland von den Toten, und alle Jahre wieder ziehen wir im Herbst auf die Gottesacker, um unsere Toten an ihrer Wiederkehr zu hindern. Denn diese Wiedergänger schrecken uns, anders als die Lieblichkeit des Heilandes.

Rituale sind, solange man sie von außen betrachtet, immer merkwürdig; doch sobald sie aus einer Binnensicht gesehen werden, scheinen sie überzeugend. So sind Osterfeierlichkeiten bis Christi Himmelfahrt schließlich ein Versprechen auf den St. Nimmerleinstag, das uns dann alle gleichzeitig ereilt und weswegen dann auch niemand vor der Spukgestalt des anderen erschrickt. Da wedeln unsere Seelen den Staub davon, den ihre einstige Verkörperung hinterließ, und gehen gar leiblich ein ins Paradies.

Dort gibt es weder lästige Gespenster noch boshafte Wiedergänger, die in der Zwischenzeit allemal auftauchen und die manche Zeitgenossen dann sichten. Ich zähle mich selbst zu jenen, die meinen, Geister zu sehen. Ob ich tatsächlich welche sehe, bleibt letztlich ungewiss, es kann auch eine Dysfunktion  der Elektrik in meinem Oberstübchen sein; womöglich artet dort  mancher Funkenüberschlag zu einer geistreichen Vision aus. Wegen derlei Visionen sucht man jedoch keinen Arzt auf, sondern begibt sich, weil es Brauch ist, Anfang November auf die Friedhöfe, um Kränze und Blumen auf Gräbern abzulegen und ein Seelenlicht anzustecken. Hierdurch sollen die Toten dort bleiben, wo sie sind, hinter Friedhofmauern. – Ich werde die Tage dieses Ritual wieder begehen. Weiterlesen

Totengedenken

Ahnenwehen © Matthias Mala

Ahnenwehen © Matthias Mala

Kein Novembergrau verschleiert diesen Totengedenktag, lässt ihn nicht ins Diffuse gleiten, in das keltische Seelenwehen, das mit Gänsebraten gefeiert, die Ahnen an den Tisch bittet. Nur ein kurzes Verweilen, um einander zu versöhnen, ehe man sich scheidet und ein jeder in seiner Anderwelt fortlebt. So bleibt man den Toten nah und fern; bleibt von ihnen verschont und mag sein Leben leben, wie es das Dasein und nicht das Jenseits fordert.

Ein schönes Nebeneinander, das sich in dieser Nichtzeit, der Novemberei, verwischt. Dann tauchen die Seelennebel vom Himmel herab und aus der Erde hinauf und verhauchen und verlangsamen alle Wirklichkeit. Selbst die Raser auf den Autobahnen drosseln Nebelschwaden, und wer das nicht wahrhaben möchte, der wird geschrottet oder gar weggesenst. Weiterlesen

Reduktion

November

November © Matthias Mala

Am Barbaratag sah ich bei einem Besuch auf der Frauenwörth, noch ein Beet Lauch in einem Garten stehen. Bis spät in den November hinein wurden allerorten die letzten Ernten eingebracht: Nüsse, Kohl, Kürbis, Schwarzwurzeln und so manches harrt – wie gesehen – immer noch darauf. Später noch, nach dem ersten Frost, kommen Grünkohl, Hagebutten und Schlehen in den Korb. Noch viel später im Januar wird der Eiswein gelesen. Derlei Einbringen ist ein langsames Enden; obwohl man bei genauer Betrachtung neben dem Rückzug des Lebens auch Fortbestand und Blüte entdecken kann. So weicht das Grün nicht überall. Die Wiesen und die niedere Frucht des Winterweizens widerstehen dem Frost, und Winterblüher wie Erika, Christrose oder Winterjasmin öffnen ihre Blüten. Mag sich darüber auch die Schneedecke wie ein weißes Leichentuch legen und vom allgemeinen Stillstand künden, unter ihm pulsiert weiterhin die gewaltige Kraft des Lebens. Es atmet nur aus, verharrt kraftschöpfend für eine kurze Weile, um schließlich im Frühjahr rauschend zu erwachen. Somit bleibt der winterliche Niedergang, der Tod, nur ein Wandler. Das Leben endet, um wiederbelebt neues Leben zu stiften. Es weicht, um sich selbst bebrütend neu zu gebären. Durch den Tod geht das Leben mit sich schwanger. Weiterlesen