Sie laufen auf den Händen, schneller als auf ihren Füßen. Die Berge fallen gipfelüber in den Sumpf. Den Frauen wächst ein elfter Finger. Die Männer verlieren ihre Schwurhand während ihrer Vereidigung. Kühe besteigen die Stiere. Ratten flattern von Süd nach Nord. Im Osten geht die Sonne unter. Kinder fiepen, ehe sie das Ei sprengen und schlüpfen; derweil ihre Mütter die Kindsväter schlachten. Die Erde ist eine Scheibe, und wer es nicht glaubt, wird von der Inquisition den weltlichen Gerichten übergeben, um zu Kugeln gepresst zu werden. Und so weiter, geht nichts fort.
Wir lügen, sobald wir zu denken beginnen. Lügen sind unser täglich Brot. Die Wahrheit ist giftig. Wir sprechen falsch Zeugnis und wähnen uns dabei ehrlich. Also lügen wir nicht, und lachen über diese Lüge. Wir wollen die Wahrheit nicht hören, wir beten die Lüge an; denn sie stiftet Zuversicht. Es gibt kein oben und unten, kein wahr und kein falsch. Alles ist gut und richtig, auch wenn es der Untergang ist. Wir bohren Löcher in unser Boot und verheizen unsere Rettungsflöße. Wir glauben, wir sind unsinkbar, und sind doch längst ertrunken.
An die Strände spülen die Wellen unsere leblosen Körper wie Tang. Gleichwohl stehen wir auf und fahren zur Arbeit. Wir machen mit, auch wenn wir unsere Seele längst dem Teufel verkauften. Was braucht man auch eine Seele, um normal zu sein? Das Normale ist der Durchschnitt des Wahnsinns, und das macht es so gefährlich. Denn je größer die normale Dichte, umso dichter der in ihr komprimierte Wahnsinn. Vollkommen Normale erscheinen gelegentlich so auffällig, dass ihr Irrsinn sicht- und greifbar wird, jedoch verblasst er rasch wieder unter der Tünche der Normalität. Und es ist absolut normal, wieder an die friedenstiftende Macht eines vielfachen Overkills zu glauben, oder an eine gerechte, freie und friedliche Welt, während man allüberall aufrüstet, um jeden, der die eigene Normalität nicht teilt, zu killen.
In Birma killen Buddhisten Mohammedaner. In Tibet schicken Äbte junge Mönche in den Freitod der Selbstverbrennung. In Indien massakrieren Hindus Mohammedaner. In Afghanistan ermorden sich die islamischen Glaubensbrüder gegenseitig. Im Nahen Osten werden die dort seit Christis Himmelfahrt ansässigen Christen vertrieben, sofern sie nicht gleich gekreuzigt werden. Im Iran knüpft man Homosexuelle an Baukränen auf, andernorts stürzt man sie von Dächern oder killt sie in Diskotheken. All das ist normal. Es sind die Untaten ganz normaler Menschen. Und es sind so viele normale Menschen in den letzten Jahren in dieses Land gekommen.
Normal, normal, oh schöne Norm! Das Normale ist in meinen Augen so irrsinnig, dass ich mich davor fürchte. Die einzige Möglichkeit, nicht vor diesem normalen Irrsinn zu Tode zu erschrecken, ist, sich in die Welt zu begeben, und das ist nicht die Welt der Normalen. Denn unter den Irren, den Außenseitern, den Trebegängern, den Brüllern, Veitstänzern und Zitterkranken, unter den Depressiven und Bipolaren, den Borderlinern und Süchtigen, den Mutisten und Aspergern herrscht mehr gesunder Menschenverstand als unter den Gesunden und Vernünftigen, den Spießern und Großbürgern, den Gebildeten und Eliten. Die Gesunden sind die Zombies, die Untoten. Sie haben ihren Verstand im Übergang zur Normalität verloren. Und ich muss sagen, ich komme mit einem durchgeknallten Esoteriker, einem Kotzbrocken von Nazi oder Stalinisten, einem Manisch-Depressiven, einem Traumatisierten oder Kerzenschlucker besser aus, als mit einem ganz normalen Menschen. Denn die, die die am Rande der Gesellschaft der Normalen leben, wissen, dass sie die Unnormalen sind; und sie bemühen sich deshalb nicht, normal zu sein, und damit haben sie den Normalen ein gutes Stück voraus.
Lieber Gott, verrücke mich, lasse mich irre sein und nicht an der normalen Welt genesen. Amen.