Ockhams Rasiermesser ist eine während der Scholastik entstandene Regel für die Formulierung von Theorien, die besagt, dass bei der Beschreibung eines Sachverhaltes, die knappste, einfachste und naheliegende Formulierung allen anderen vorzuziehen sei. Zum Beispiel: Sie gehen an einem heißen Sommertag auf die Straße und sehen, dass die Bürgersteige nass sind. Wenn sie dann annehmen, dass der Spritzwagen gerade übers Pflaster gefahren ist, folgen Sie Ockhams Regel. Alle anderen Annahmen nämlich, etwa dass eine spezielle Regenwolke nur die Fußwege bestrich, wären zu kompliziert und zu verwerfen, denn sie würden ein unerklärliches Wettergeschehen voraussetzen.
Das Prinzip von Ockhams Rasiermesser – benannt nach Wilhelm von Ockham (1288-1347) – blieb nicht auf die mittelalterliche Scholastik beschränkt, sondern gilt auch heute noch als ein wissenschaftliches Prinzip, das inzwischen leider viel zu selten angewendet wird. Es findet sich auch im Grundsatz für das Verfassen von Texten wieder: „Sage, was du zu sagen hast, so knapp und verständlich als möglich.“
An dieses Prinzip erinnerte ich mich jüngst angesichts des unsäglichen Geschwätzes in den meinungsbildenden Medien anlässlich der Brexit-Abstimmung in Großbritannien. Dem Anstoß folgend, stellte ich mir Fragen, die jeden Mystiker anwandeln, sobald er kontempliert:
Was ist Gott?
Die Schöpfung! – Nicht der Schöpfer, denn wir wissen nicht, ob die Schöpfung wesenhaft ist.
Was ist Gott?
Das Sein! – Nicht das Seiende, denn wir wissen wenig von ihm.
Sei‘s die Schöpfung oder das Sein, beides sind kreative Bewegungen, die sich durch ihre Wirkung bestätigen. Ob beide Eins sind, mag man annehmen – ich tue es -, doch lässt sich diese Annahme auch leichthin zerdenken. Egal, wie man sich dabei positioniert, es ändert sich nichts an diesen beiden göttlichen Momenten.
Was ist der Mensch? Teil der Schöpfung, Teil des Seins, Wesen von der Geburt bis zum Tod. Beseelt, konditioniert, kreativ, borniert und vieles mehr. Über den Menschen lässt sich weit mehr sagen als über das Göttliche. Folglich redet der Mensch als Teil des Göttlichen lieber über sich, um über diesen Umweg das wahre Göttliche einzufangen. Denn sich selbst sieht er nur als Teil oder Abkömmling der Schöpfung oder zeitlich überschaubar Weilenden im Sein. Er ist nicht, worüber er nachdenkt.
Nur was hat derlei Nachdenklichkeit gebracht? Wurde durch sie das Göttliche fassbarer, einsichtiger, verständlicher? Rückte es uns näher? Oder rückten wir ihm näher? Haben wir durch sie irgendeinen Erkenntnisgewinn? Ich denke nein. Wir wissen nicht, worüber wir nachdenken, sobald wir beginnen, über Gott und die Welt nachzudenken.
Gut, das ist zunächst mal der Beginn jeder Erkenntnis. Wir denken über etwas nach, was wir nicht verstehen. Wir sammeln das Wissen, das es uns erklärbar macht, bis wir ein Stadium von Emergenz erlangen, aus dem heraus tatsächlich neues Wissen generiert wird. Das gilt, so weit, so gut, für alle Wissenschaft, sofern auch das gesellschaftliche Umfeld stimmt. Andernfalls bliebe der Erkenntnisgewinn letztlich nur Spielerei, wie etwa die Erfindung des Äolsballs durch Heron im antiken Griechenland.
Jedenfalls hat die Nachdenklichkeit über Gott und die Welt viele phantastische Bücher gefüllt, deren Kosmogonien allenfalls die Annahme eines Menschheitsgedächtnisses erhärten, durch die bedeutende Ereignisse, wie etwa die Sintflut, über Jahrtausende forterzählt wurden, oder die Annahmen aus kontemplativen Wahrnehmungen fortschreiben, denn anders würden sich kaum physikalische Analogien aus den Schöpfungsmythen der Religionen ableiten lassen. Allerdings erklärt keines dieser heiligen Bücher und ihrer Anhänge den Anlass ihrer Nachdenklichkeit, nämlich: Was ist Gott?
Somit können wir nach über 6.000 Jahren auf uns gekommene religiöse Nachdenklichkeit festhalten, alles reden und alles schreiben war umsonst. Wir können das Göttliche weder benennen, noch umschreiben, noch darlegen oder gar ableiten. Wir dürfen darum all die bekannten Geschichten und Gleichnisse aus den heiligen Büchern als Sagen und Epen katalogisieren und daraus wieder neue Geschichten spinnen, wie sie die priesterlichen Exegeten in ihren Sonntagspredigen seit Jahrtausenden von der Kanzel verkünden.
Ende! – Mehr ist aus der Sache nicht herauszuholen. Womöglich stellten sich die Verfasser heiliger Bücher und ihre Exegeten ebenso wie die Mystiker auch seit Jahrtausenden die falsche Frage. Denn die Frage: Wer, was, wo oder wie ist Gott?, brachte bislang nie eine knappe, verständliche Antwort. Da war die Gottesfrage in der Antike einfacher zu beantworten, denn auf die Frage: Wer ist Zeus?, zeigte damals ein Gläubiger in den Nachthimmel auf den Jupiter.
Und so einfach, sollte unsere Gottesfrage auch gelöst sein, wenn wir mit Ockhams Rasiermesser alle unnötigen Phrasen aus den dokumentierten Antworten entfernt haben; denn dann haben wir ein Palimpsest vor uns. Eine frei gelegte Seite, die wieder unbeschrieben erscheint. Und dieses Palimpsest zeigt die Antwort. Jedenfalls scheint mir das Göttliche als Antwort auf unsere Fragen, einem Palimpsest zu gleichen, sobald wir all unser Geworte um es aufgegeben haben. Denn Er wird einfach und unerklärlich sein, falls wir Ihm begegnen, andernfalls würden wir nicht so viel Worte um Ihn machen.
Ein kleines Kind sass neulich auf der Wiese mitten unter weissen Blumen, ich glaub es waren Margeriten, und schaute konzentriert auf eine Blüte. Auf der sass ein Kohlweissling und flatterte plötzlich davon.
»Mama schau – Blume fliegt weg.«
Da blitzte „Gott“ kurz auf.
LG
G.
😉 Danke