Lose Gedanken zur Gedankenlosigkeit

Gedankenleere © M. Mala

Ein Kapitel aus meinem Buch „Irrwege zur Spiritualität“

Wer Erleuchtung sucht, die Magie beherrschen will, sein Ego verlieren und im göttlichen Bewusstsein baden möchte, der sollte seine Gedankenmühle anhalten und sich in gedankenlose Seligkeit stürzen. Jedenfalls soll, glaubt man der Behauptung der Meister, Gurus und Weisen, Gedankenstille der Schlüssel zur wahren Spiritualität und damit der Weg zur Glückseligkeit, zur Erleuchtung und magischen Allmacht sein. Mit ihr sollen himmlische Harmonie und Schalmeienklang das Dasein versüßen und uns an dessen Ende ein „kerngesunder“ Tod samt endgültiger Himmelfahrt erwarten. Ein Tor also, wer weiterhin gedankenvoll seiner hartnäckigen Ichzentrierung frönt.

Die rechte Art zu fragen

Für gewöhnlich provoziert eine solche Behauptung meist Fragen wie: „Bewirkt Gedankenstille tatsächlich solche Sensationen? Wie erreiche ich Gedankenstille? Wie bewahre ich Gedankenstille? Werde ich meine Frau oder meinen Mann noch lieben, wenn ich ohne Ego und erleuchtet bin?“ Seltener wird die Frage gestellt: „Warum soll ich überhaupt Gedankenstille erreichen? Ist das Ego der Gedanke? Weshalb sollen fehlende Gedanken göttliches Bewusstsein provozieren? Wieso hindern Gedanken spirituelle Wahrnehmung? Wer verfügt über die magische Macht, wenn das Ego nicht mehr ist?“ Diese zweifelnden Fragen ließen sich beliebig erweitern. Tut man dies, demontiert man womöglich am Ende sein Ego sogar noch etwas mehr als mit jedem weiteren Versuch, seinen Gedanken Einhalt zu gebieten.

Erheblich ist zweifellos die Frage: “Warum soll ich Gedankenstille erreichen?“ Spannender ist jedoch die Frage davor: “Warum soll Gedankenstille überhaupt erstrebenswert sein?“ Wie konnte in der Religionsgeschichte überhaupt die Ansicht entstehen, dass das Denken göttlicher Inspiration hinderlich sei?

Drei Momente für die Annahme, dass uns Gedanken von der Wahrheit abhalten.

Opium für das Ego.

Ein Moment rührt sicher aus der Beobachtung, dass wer nicht mehr denkt, entweder tot oder bewusstlos ist. Wer aber ohne Gedanken wach, aktiv und bewusst ist, müsste folglich Tod und Bewusstlosigkeit überwunden haben. Es ist eine archetypische Vorstellung von Seligkeit, die sich in dieser Vorstellung verbirgt. Denn durch alle Zeiten hindurch waren und sind Gedanken die abbildende Rekapitulation alltäglicher Nöte, Sorgen und Hoffnungen. Stehen sie still, stehen auch die Sorgen still, und die Welt ist heil. Zeitlosigkeit stellt sich ein; sie aber ist ein Merkmal der Ewigkeit, die wiederum eine Eigenschaft des Göttlichen ist. Sprich, ein Ende der Gedanken bedingt ein Ende irdischer Not auf Erden. Wer seine Not nicht denkt, hat sich aus ihr befreit. Aus diesem Grunde meinte Karl Marx: „Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ In diesem Sinne könnte man mich, als jemanden, der die Mystik und damit mittelbar religiöses Streben bedient, einen Opiumbauern schimpfen. Sei’s drum, der Religiöse schlägt sich den Strick stets selbst, mit dem er sich rückbindet.

Vom paradiesischen Bewusstsein.

Ein zweites Moment ist womöglich das auf Selbstwahrnehmung basierende Empfinden, dass neben den Gedanken eine Bewusstheit existiert, die uns in ganz anderer Weise an der Welt teilhaben lässt. Rausch und Schlaf sind hiermit nicht gemeint, obwohl beide als verwandte Stufen dieser „stillen Bewusstheit“ aufgefasst werden können. Sie ist vielmehr eine ungedachte Wahrnehmung, die parallel sowie unabhängig vom Denken geschieht. Das Erkennen und Behaupten einer stillen Bewusstheit dürfte eine archetypische Prägung sein. In ihr schwingt etwas von jener frühkindlichen Glückseligkeit mit, deren Verlust mythisch mit der Vertreibung aus dem Paradies gleichgesetzt wird.

Ich und Du, der Beginn gottgleicher Spiegelung.

Dieser Archetyp verstetigte sich im Mythos vom Baum der Erkenntnis, respektive in der Sage von Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte.[1] Ein Mythos, der sich in vielen Religionen wiederholt. Er ist das dritte Moment, das uns Gedankenstille als Gottesnähe behaupten lässt. Denn der menschliche Erkenntnisprozess fußt auf der Manifestation der Dualität: hier Mensch dort Gott, oder das Ich als das der Welt Gegenübertretende. So ist das Ich vom Du und damit das denkende Bewusstsein von der Welt abgesondert. Die Welt ist das wahre Ganze, das Ich ihr beschränkter Rezeptor. Ich ist somit das Fragmentierte, Nicht-Ich hingegen das Heile.

Das Ergebnis der Betrachtung dieser drei archetypischen Momente stiller Bewusstheitswahrnehmung: Das Denken ist das Weltbeschreibende, aber nicht das Weltwahrnehmende. Bliebe das Denken still, wäre Wahrnehmung und Welt ein und dasselbe, die Dualität wäre aufgehoben und wir wären nicht mehr gottesebenbildlich, sondern gottgleich. Diese Annahme ließe sich noch sehr viel tiefer differenzieren. Der Hinduismus hat es für sich bereits getan, und mit dem Yoga kamen seine Denkgebäude auch gen Westen. Mouna, das Schweigen, ist die Disziplin der Munis, die ihr Denken nach Belieben anhalten und wieder in Gang bringen können. „Antar Mouna“ nennen sie die Stille, in der sie gedankenlos weilen, „Chidakasha“ ihren Bewusstseinszustand, der dem allesdurchdringenden absoluten Bewusstsein entspricht und sie mit Brahman, dem höchsten Prinzip, vereint.

Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Am Prinzip aber ändern alle religiösen Spitzfindigkeiten nichts: Das Axiom Gedankenstille gleich Erleuchtung bleibt im Kern erhalten. Aber dennoch, einmal abgesehen davon, dass sich das Denken selbst verneint, bleibt außer dem Erahnen der drei archetypischen Momente nichts Fassbares, das dieses Axiom bestätigt; außer der wiederholten Behauptungen der Gurus, Meister, Munis und Mystiker. Warum aber sind so viele Menschen bereit, ihnen zu glauben? Noch dazu, wenn der Unerleuchtete nie wissen kann, was Erleuchtung ist. Darum sparen wir dieses Phänomen auch hier aus und widmen uns weiter den rauschenden Gedanken. Bedenken wir, ehe wir als brave Schüler zu Füßen der Meister unser Denken verneinen, welch großartiges Instrument das Denken ist! Denken wir dabei nicht an die Wissenschaften, die Kunst, die Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, vernachlässigen wir auch das Gute wie das Böse, das die Menschheit in die Welt hineindachte, denken wir dagegen nur an die wunderbaren Götter und himmlischen Gefilde, die wir durch unser Denken kreierten, ja für die wir bereit sind, unser Leben zu opfern. Welch kosmische Kraft muss also das Denken sein, das uns sogar dazu bringt, uns selbstverneinend aufzugeben. Ja, eigentlich müsste das Denken gar eine göttliche Eigenschaft sein, wäre es nicht so ersichtlich an Zeit und Leib gebunden.

Das sind zwar beachtliche, gleichwohl sinnwidrige Gründe, warum Suchende Gedankenstille für sich erstreben. Sinnwidrig deshalb, weil es das Denken selbst ist, das zur Ruhe kommen möchte. Das Denken aber ist der Denkende, der den Zustand bedachte, an dem er nicht mehr ist. Eine Sache, die zwar wie jeder andere Unsinn auch bedacht werden kann. Das Ergebnis solcher Nachdenklichkeit kann jedoch niemals das Bedachte, nämlich die Gedankenstille, sein. Was also mag es sein, das Menschen dazu drängt, sich dennoch einem solch vergeblichen Unterfangen auszusetzen?

Drei Gründe dafür, sein Denken ersticken zu wollen

An erster Stelle mag tatsächlich der harmlose Wunsch nach Erleuchtung stehen. Ein zunächst undefinierter Wunsch, der aus einer religiösen Grundstimmung heraus entsteht. Man möchte dem Heiligen nahe sein, womöglich mit ihm eins werden. Durch die eigene Vervollkommnung soll auch die Welt insgesamt vollkommener werden.

Bei der Beschäftigung mit dem Weg dorthin wird schnell das eigene Ich als die zu überwindende Barriere erkannt, wobei Ego und Denken als deckungsgleich angenommen werden. – Was sie jedoch nicht sind, wenn man auch andere nicht von der Sprache belegte Hirnareale als egoprägend hinzuzieht. – Gründet doch die Ablehnung des Denkens meist auf der Vorstellung, dass es mit dem Verworten der Welt, der ständig selbstreflektierenden Erlebnisbeschreibung identisch sei. Dabei ist das wörtliche Denken nur ein Aspekt der Denkleistung. Bildhafte, sensorische, emotionale und vor allem unbewusste Reflexionen bilden quasi das Hintergrundrauschen, vor dem das wörtliche Denken geschieht. Ja streckenweise stellt das Gesumme auch eigenständige Denkprozesse dar.

Sein Seelenleid im Nichts verlieren.

Wenden wir eine solche abgestufte Betrachtung auf Denken und Ego an, wird rasch deutlich, dass mit Gedankenstille nur Wortlosigkeit im Oberstübchen gemeint sein kann und dass Egolosigkeit demnach lediglich den Stillstand der Selbstreflexion bedeutet. Das das Du kontrollierende Ich scheint still zu sein. Der Beobachter scheint mit dem Beobachtenden eins zu sein. Womöglich aber trügt nur der Schein, weil sich das Ego für wenige Augenblicke einmal nicht in selbstreferenzieller Betrachtung ergeht und sich – weil selbstvergessen – gerade einmal nicht selbst kontrolliert. Dies wäre in der Tat ein ungewohntes Selbsterleben, das als außerordentlicher Bewusstseinszustand begriffen werden könnte, selbst wenn es nur einen banalen Perspektivwechsel provozierte.

Süße Qual des Vergessens.

Ein zweiter Grund, sich von sich selbst in die Erleuchtung verabschieden zu wollen, zeitigt durchaus neurotische Züge. Jedenfalls ist es schon ein merkwürdiger Wunsch, sein Selbst überwinden und sein Ego verlieren zu wollen. Selbstlosigkeit durch Selbstverneinung ist ein üblicher Terminus; deutlicher bereits der buddhistische Begriff vom Selbstauslöschungsbegehren[2]; seltener, dafür treffender formuliert, spricht man von religiös verbrämter Autoaggression. Es ist ein umgeleiteter suizidaler Wunsch, anstatt vom Hochhaus springt man ins Nirvana. Die Motive, warum ein Mensch sich selbst entsagen möchte, sind vielfältig; fehlende Liebe, mangelnde Anerkennung und verweigerter Respekt bedingen fehlende Selbstachtung, die in Selbstverachtung mündet. Es ist der Schatten einer elenden Kindheit, der das Gemüt verdunkelt. Die Überwindung des eigenen Ichs zu glorioser Selbstherrlichkeit, sprich Erleuchtung, erscheint da als ein hübscher Ausweg aus der Misere. Ein heldenhafter Hieb mit dem Schwert der Meditation, und dem Ego purzelt sein Haupt vor die Füße. Doch schon mit dem Ausholen schlägt die zweite Schneide des Schwertes eine klaffende Wunde in das Haupt des Henkers, sprich in die Psyche des sich selbst Entsagenden. Denn da das Vorhaben für gewöhnlich misslingt, nährt es den vorhandenen Selbsthass. Schließlich ist aus dieser Sicht ein sich nicht selbstentsagendes Ego ein versagendes Ego. Die Folge ist ein obsessives Verhalten, bei dem der Zwang zur Selbstverleugnung letztlich soweit siegt, dass man sein Selbst dauerhaft ignoriert und sich daraufhin ebenso beständig in Gedankenstille wähnt.

Allerdings bedarf es nicht zwingend einer traurigen Kindheit und Jugend, um den Wunsch der Egolosigkeit bis zur wirksamen Selbstvergessenheit zu pflegen. Eine fehlgeleitete masochistische Neigung genügt, um sich in gleicher Weise zu verneinen und zu kasteien. Betrachten wir hierzu nur die monastischen Übungen der Selbstkasteiung zwecks seelischer Läuterung und Verklärung im Westen wie im Osten. Dabei werden Körper und Seele malträtiert und der Schmerz als das wesentliche Moment verherrlicht, das das Ich verlöschen und die Gedanken versiegen lässt. Das Motiv mag sich von Mal zu Mal unterscheiden, das Gebaren bleibt indessen gleich: Selbstverachtung und Selbstmissbrauch als Mittel zum Zweck der Gedankenstille. Wobei auch hier gilt, dass die Mittel den Zweck bestimmen.

Die erwähnten psychischen Konditionierungen weisen auf eine dritte Ursache, warum sich so mancher den Zustand der Gedankenstille ersehnt. Es ist eine narzisstische Persönlichkeitsstörung. Verdecktes Grundmerkmal dieser Störung ist eine Selbstentfremdung und hierdurch bedingte mangelnde Eigenliebe. Hieraus resultieren unter anderem Größen- und Kleinheitswahn. Diese manischen Erscheinungsformen begünstigen das Verlangen nach Erleuchtung. Zum einen verspricht der Status eines Erleuchteten Ruhm und Ehre, zum anderen darf die eigene Nichtigkeit als Ausweis wahrer Demut weiter gepflegt werden. Das heißt: Durch das Bemühen um Gedankenstille kann man seine Störung kultivieren und leidlos konservieren.

Aber auch andere psychische Störungen begünstigen dies seltsame Streben nach egofreier Herrlichkeit, beispielhaft seien Burnout-Syndrom, posttraumatische Störungen oder phobische Ausformungen wie die Furcht vor Sterben und Tod erwähnt. Die Flucht in die Erleuchtung erscheint hier als Weg der Erlösung, dem Leid wird sein Bezugspunkt, das Ego, entzogen.

Vergebliche Versuche, sich zu enteilen

Das alles sind zweimal drei gute Gründe dafür, warum man „sich enteilen“ möchte. Nur wohin enteilt man sich wirklich? Wer findet sich in der Gedankenstille wieder?

Es wird stets der Enteilende sein, der sich am Ziel einholt. Gedankenstille ist eine Vorstellung des Denkenden. Nur wer denkt, kann Gedankenstille wollen, bewirken und bemerken. Es ist allein der Denkende, der seine Gedanken kontrolliert, sie sich verbietet, sich ihnen entsagt. Es ist der Denkende, der bedenkt, dass sein Denken Leid bedeutet. Doch es ist einzig sein Leid, nicht das eines anderen, auch nicht das eines Denkenden hinter dem Denken und erst recht nicht das jener Egoanteile, die, weil ungedacht, auch unbedacht bleiben. Der Denkende wird sich also niemals selbst entkommen. Würde wirklich Gedankenstille herrschen, gäbe es keinen Denkenden mehr und somit niemanden, der diesen Zustand reflektieren könnte. Gleiches gilt für das Ego; wobei, wie bereits angedeutet, das Ego nicht allein mit dem wörtlichen, bildlichen und emotionalen Denken verknüpft ist, sondern auch mit einer unspezifischen psychosomatischen Identität, vergleichbar mit dem Freudschen „Es“. Da aber der Denkende den Moment seiner Selbstauflösung zwingend beobachten muss, um sich sicher zu sein, dass sein Denken ruht, wird er selbst auch dann noch lauernd präsent sein, wenn er glaubt, seine Tätigkeit eingestellt zu haben.

Und fürwahr führt solches Sich-Enteilen in den Wahn. Der Denkende kontrolliert sich so sehr, dass er in der Tat seine Gedanken vor sich selbst unterdrücken kann. Der Zustand solcher Selbstbetäubung ist gewiss eine psychische Sensation und lässt einen, da mit ihm die Dualität scheinbar verwischt, in die Vorhöfe transzendenter Sphären blicken. Vor allem aber vermittelt er die Illusion von All-Einheit, die das Ich sehr durchsichtig und leise, sich vor sich selbst verbergend, höchst aufmerksam registriert. Jedoch wieder zurück im alltäglichen Hamsterrad der Denkmühle wähnt es sich nunmehr über dem Geschehen und bewahrt die Distanz zu sich. Diese schizoide  Spaltung aber deutet es für sich, da es zweifelsohne ein außergewöhnlicher, wenn auch nur verdrehter Zustand ist, als die Manifestation dauerhafter Erleuchtung, sprich Egolosigkeit. Ich nenne diesen Zu-stand „Erleuchtungsneurose“.

Doch wäre ich nicht der, der ich bin, gäbe es nicht zum Ende meines Spottgesangs auf die Gedankenstille die Umkehrung des Gesagten, indem ich Gedanken dazu künde, wie doch gehen könnte, was nicht geht, denn im Paradoxen liegt nun einmal der wahre Zugang zur Magie, und mit ein bisschen Zauber stellt sich bekanntermaßen gelegentlich auch ein, was sich gemeinhin nicht einstellen kann.

Empfehlungen für nichts und niemand

Aus Kavernen blitzt der Geist.

Halten wir fest: Gewollte Gedankenstille gibt es nicht. Was es gibt, ist die Möglichkeit, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ist er zu Ende gedacht, entsteht entweder sofort ein neuer Gedanke oder das Denken ‑ speziell das Arbeitsgedächtnis ‑ ruht für eine Weile. Ruht das Denken, ist es nicht still. Es denkt nur nicht. Das assoziative Feuerwerk präkognitiver Präsenz sprüht derweil im Hintergrund prächtig weiter. Nennen wir diese Ebene „ruhendes Denken“. Jeder sensible Mensch kann dies bei der Beobachtung seines eigenen Denkens bemerken. Ehe ein Gedanke entsteht, gibt es einen nonverbalen Impetus, der zum Keim des Gedanken wird. Er bewirkt eine geistige Präsenz, die dem Gedanken Raum gibt, noch ehe er gedacht wird. Das Denken selbst ist dann häufig nur die strukturierte Abbildung dessen, was zuvor durch einen Impuls ins Bewusstsein blitzte. Neurobiologen konnten diese Präsenz vor dem bewussten Gedanken jüngst nachweisen. 500 Millisekunden sei die Differenz zwischen dem Handlungsimpuls und seiner bewussten Wahrnehmung. Ihre Schlussfolgerung war allerdings seltsam: Sie behaupteten nämlich, das Ergebnis ihrer Forschung belege, dass der Mensch keinen eigenen Willen besäße. Nun ja, das mit dem freien Willen wäre diskutabel, doch darüber sinniere ich wohl besser an anderer Stelle.

Wo Gedankenstille zu Hause ist.

Bleiben wir also bei der Gedankenstille. Gibt es so etwas wie eine präkognitive Wahrnehmung oder Präsenz, also eine Bewusstwerdung vor dem Denken, welche das Denken erst nachträglich erfasst und nachbilden kann, dann entspräche dies einem Bewusstsein vor dem Denken; dann schöpfte dieses Bewusstsein aber aus der Gedankenstille, einer Ebene vor dem ruhenden Denken. Das würde bedeuten, Gedankenstille ist ‑ da dem Gehirn immanent ‑ eine ursprüngliche Selbstverständlichkeit. Das Hecheln nach ihr wäre deshalb die Hatz nach einer Schimäre.

Ich nehme dies an. Denn aus meiner Selbstbeobachtung erfahre ich, dass die präkognitive Präsenz der Quellteich meiner Intuition ist. In ihn ergießt sich aus dem Quellmund der Quellstrahl. Er ist mein „Fühler“, über den ich „Führung“ erfahre. Dieser Born ist mein Lebensquell, er ist mein stiller Begleiter oder meine wahre Identität, die nicht mein Ego ist, sondern meinem Ego ein unbekanntes und unfassbares Gegenüber. Aus diesem Grunde ist mein Sagen darüber im Grunde Schweigen, und so viel wie an dieser Stelle habe ich bislang selten darüber mitgeteilt.

Sehen, was ist.

Eine Möglichkeit, seinen Blick auf das Unmögliche zu lenken, besteht vermutlich darin, dass man das Ziel Gedankenstille aufgibt und sich mit dem beschäftigt, was ist, nämlich ein rastloser Geist zu sein, der seine Gedankenmühle dreht und sich nach Einhalt sehnt. Lenken wir also unseren Blick darauf, dass unser Geist beständig schwatzt. Die Frage ist dann nicht: „Wie hört er zum Schwatzen auf?“, allenfalls kann zur Debatte stehen, warum das Schwatzen unablässig genährt wird. Doch selbst diese Frage führt nur zu weiterer geschwätziger Gedankenspielerei, jedoch zu keiner Einsicht. Einsicht wäre, wenn wir nichts weiter feststellten, als dass unser Geist schwatzt und die Gedanken uns und wir mit ihnen davonlaufen. Mehr ist nicht zu tun. Kein Ausweichen vor dieser Tatsache; kein Plan des Endens; nichts. Der Geist schwatzt. Mehr ist nicht, mehr gibt es nicht zu sehen. Es gibt keinen Ausweg. Auch präkognitive Präsenz ist kein Ausweg, denn sie hat nichts mit dem schwatzenden Geist zu tun. Was bleibt, ist nur das, was ist: ein schwatzender Geist. Das ist es.

Gehen wir so konsequent auf die Tatsache ein, kann sich etwas lösen, kann etwas geschehen. Doch was dann geschieht, ist und bleibt eine andere Dimension. Eine Dimension jenseits des Gedankens. Sie kann nicht geplant, nicht bedacht und nicht gewollt sein. Sie entsteht allein aus dem unbestechlichen Blick auf das, was ist. Dieser Blick muss Blick bleiben. Er ist kein Gedanke über das, was beobachtet wird. Er ist eins mit dem Beobachteten. Das Beobachtete ist der Beobachter. Dies ist Einsicht. Solche Einsicht gebiert unmittelbare Handlung. Sehen und Impetus sind eins. ‑ Lassen wir die sich anschickende Handlung geschehen. Sie wird konsequent anders sein als jedes vorbedachte Tun.

Aufmerksamkeit ist Achtsamkeit.

Eine weitere Möglichkeit, den Rhythmus der Gedankenmühle zu unterbrechen, ist Aufmerksamkeit. Auch sie ist ziellos. Sie richtet sich nicht darauf, dass wir aufmerksam sein wollen oder sollen. Solche Aufmerksamkeit wäre nur verrückte Disziplinierung. Denn die Aufmerksamkeit dafür, aufmerksam zu sein, würde alle Aufmerksamkeit verzehren. Wir stünden nicht nur zur Welt in Dualität, sondern würden uns in uns selbst in vielfältiger Dualität Aufmerksamkeit einfordernd bis zum Irrsinn zersplittern.

Wir können uns auch hier nur auf das beschränken, was ist. Entweder sind wir aufmerksam oder wir sind es nicht. Sind wir aufmerksam, geschieht nichts. Wir sehen, nehmen wahr und sind folglich in der Wahrheit. Hier müssen wir das Gesehene nicht bedenken, denn wir sind mit ihm eins. Sehen und das Gesehene sind voneinander nicht unterschieden. Tritt der Gedanke dazwischen, und denken wir, beschreibend oder aufzählend, was wir sehen, verliert sich die Aufmerksamkeit. Bemerken wir dies, kehrt Aufmerksamkeit zurück, ohne dass wir sie erzwingen. Wir wollen nicht aufmerksam sein. Wir bemerken nur unsere Unaufmerksamkeit. Mehr ist nicht zu tun. ‑ Gewollte Aufmerksamkeit ist unbemerkte Unaufmerksamkeit. Erkennen wir dies, werden wir bescheiden und verzichten darauf, uns zur Aufmerksamkeit zu drängen. Wir geben den Beobachter auf und lassen das Sein das Nichts beobachten. Gibt es hierbei eine Unterbrechung, sind wir bei uns und wissen um unsere Unaufmerksamkeit. Mehr ist nicht zu tun. Dann könnte es geschehen, dass Bewusstwerdung mehr ist, als den Inhalt seines Bewusstseins zu inventarisieren.

Der göttliche Trojaner in uns erwacht.

Erkennen wir, dass unser Bewusstsein stets begrenzt bleibt, müssen wir es nicht mehr durch erzwungene Stille entleeren, um es ins vermeintlich Grenzenlose zu heben. Denn dann, und dies wäre eine dritte Möglichkeit, das Unmögliche möglich zu machen, beschränken wir uns auf unsere Beschränktheit und lassen den Prozess einer Bewusstwerdung für sich zu, indem wir ihn nicht mehr verfolgen. Ich meine damit, die Wahrnehmung als eine das Ego unerreichbare Schwingung zuzulassen. Als ein Geschehen, das nicht einmal in uns, sondern in der Welt geschieht. Es ist die Selbstwahrnehmung des Geistes. Es geschieht durch sich selbst und ist sich selbst genug. In dieser Obsoleszenz erkennen wir womöglich augenblicklich die Illusion all unserer eitlen Konstruktionen. Dies wäre der Augenblick, in dem die Gedanken sich selbst loslassen und alle Kausalität endet. In diesem Augenblick leert sich das Bewusstsein und wird zum Gefäß für das, was sich in es hinein ergießt. Hierbei ist niemand mehr, der empfängt. Dies ist reine Bewusstwerdung. Sie ist ein Prozess der Schöpfung. Die Schöpfung bedient sich unserer Sinne. Die Welt betrachtet sich. Erkennt sich in uns. Heilsein ist.

Im Grunde habe ich damit schon viel zu viel gesagt. Denn jede Andeutung des Transzendenten ist ein Keim der Illusion. Schließlich sind diese Momente der Schöpfung keine Erlebnisse, denen wir beobachtend gegenüberstehen, sondern ein Geschehen, in dem wir aufgehen, in dem kein Beobachter mehr ist. Sobald wir uns wiederfinden, ist jedoch unser ganzes Wesen von diesem Geschehen durchdrungen. Es bleibt zurück und wird in Worte gefasst. Diese Worte aber sind nur ein Abbild vom Abbild. Es sind die gleichen Worte, mit denen wir den Weg zum Bahnhof beschreiben. Den Bahnhof werden wir nach diesen Worten finden, das Heilsein jedoch nicht. – Folgerichtig leitet uns jeder, der uns verspricht, uns auf den Erleuchtungsweg zu führen, in die Irre; und falls Sie meine Worte in diesem Sinne verstehen wollen, wäre ich auch für Sie ein solcher Scharlatan.

Nun habe ich Ihnen, zumindest nach meiner Absicht und meinem Verständnis, mit vielen Worten beschrieben, wie Sie den Weg zum Bahnhof nicht finden können. Falls Sie aber den Worten aufmerksam gefolgt sind, konnten Sie vielleicht die Schwingung erahnen, die diese Worte formten. Sie kann der Hauch sein, der sie so schauen lässt, dass Sie sich dort verlieren, wo Sie ankommen möchten. Seien Sie dabei sehr achtsam, denn die Täuschung wohnt in Ihnen. Sie ist das Ego, das sich staubkörnchenklein machen und mucksmäuschenstill verhalten kann. Es ist der nulldimensionale Punkt in Ihnen, mal zentral, mal als ein zig-fach verlinkter Zustand der Reflexion. Der Punkt, in dem sich die Schnittlinien Ihres Daseins kreuzen. Verteufeln Sie ihn nicht, seien Sie großmütig mit ihm, er ist ein nützlicher Idiot, einerseits Schwätzer, andererseits hervorragender Koordinator, aber er wird niemals derjenige sein, der durch das Tor geht. Darum bleiben Sie ziellos und achtsam, dann rückt Ihnen das Geschehen näher, als Sie ahnen. Haben Sie dazu noch eine Ahnung, was Schönheit und Liebe ist, und ist Ihnen die Tugend der Demut nicht fremd, sind Sie gut gerüstet für eine Wanderung durch ein pfadloses Land.


[1] Das Merkmal dieses Archetyps ist, dass mit der Erkenntnisfähigkeit der Mensch aus einem paradiesischen Zustand gerissen wird. Er erringt hierdurch zwar gottähnliche Züge, wird aber im Gegenzug mit Leid und Plage bestraft.

[2] Es wird Vibhava-Trishna (Skrt.) genannt und umschreibt das Verlangen, sein Selbst auszulöschen. Dies kann vereinzelt durchaus suizidal sein, da es aber meist ein nicht bewusstes Sehnen ist, sich restlos zu verlieren respektive seiner Welt zu entkommen, kann es sich auch hinter dem selbstsüchtigen Wunsch verbergen, sein Menschsein zu transzendieren.

Horizonterweiterung

Rasch stieg das Flugzeug in den Himmel. Am Boden herrschte noch Morgendämmerung. Nach wenigen Minuten wich im Osten die bleierne Horizontlinie dem Morgenrot, dann rollte die rote Sonne über den Horizont. Direkt unter uns lag das Land noch im nächtlichen Schatten. Wir sahen den Tag, noch ehe er am Boden anbrach. Gleichzeitig sahen wir weit über das Land. Erkannten mit einem Blick ferne Städte und Flüsse. Bald würde uns das Land unter uns fremd sein, und wir würden seine Blickpunkte nur noch erraten können.

Verschieben wir die Grenze unseres geistigen Horizonts, rücken wir Unbekanntes ins Bekannte. Gleichzeitig erfahren wir die Begrenzung unseres Wissens. Zum einen liegt das Unbekannte weiterhin hinter dem Horizont, zum anderen zwingt ein erweitertes Blickfeld zur Fokussierung, um nicht in belangloser Übersicht und somit in kenntnishafter Unwissenheit zu verharren. So können wir uns gleichermaßen im Wissen finden als auch in ihm verlieren. Wissen kann somit nicht zur Quelle der Weisheit werden.

Als wir vom Gipfel abstiegen, stand die Sonne schon tief im Westen. Die Felsen erhielten im Abendlicht zusätzliche Kontur; die Schatten gerieten tiefer und die goldbeschienenen Brüche und Kanten litten Erhöhung. Die Landschaft rückte zum greifen nahe. Im Tal war schon Abend. Laternen blinkten. Die Schattengrenze kroch den Hang hinauf uns entgegen. Nebel floss entlang des mäandernden Flüsschens und breitete sich auf den Uferwiesen aus. Eine ferne Glocke läutete die Vesper aus. Wir würden im Dunkeln unten ankommen. Der zunehmende Mond wurde uns zur Laterne.

Suchen wir die Wahrheit in uns, verengt sich unser Blick. Es gibt keine Weite mehr, in der wir uns verlieren könnten. Dafür begegnen wir hinter unserem Selbstbild unserer Selbstvoreingenommenheit. Überwinden wir sie, begegnen wir unseren Schatten und unserer Gottverlassenheit. Auch dies ist ein unbekanntes Reich jenseits unseres inneren Horizontes. Wir überschreiten ihn, indem wir die Tiefe in uns ausloten. Unsere Erkundung konfrontiert uns mit unserer Nachtseite. Auch hier rückt Unbekanntes ins Bekannte. Weise macht uns auch dieses Wissen nicht; wir werden uns in ihm finden als auch verlieren.

Weise werden wir nicht durch Wissen, sondern durch unser Nichtwissen; denn jedes Wissen birgt einen Wurf Wahrheit über seine Begrenztheit hinaus. Es ist der Pfeil transzendenter Kontemplation. Sein Schwung konfrontiert uns mit dem Duft der Wahrheit, der Stille. Sie formt die Grenze, die wir nicht überschreiten können. Sie ist die Sphäre des Nichtwissens; der Nebel über dem mäandernden Verstand. Sie ist wie das Zodiaklicht, das im Frühjahr der Sonne nachleuchtet und ihr im Herbst vorausscheint. Es erhellt die mondlose Nacht und ist nur dem Kundigen bewusst. Ebenso wirkt das unsichtbare Licht, das den Stillgewordenen in der Stille erhellt. – Nein, besser noch: es erhellt die Stille, die sich weit vor dem tönenden Gedanken bricht.