Ein Papst ist tot

Als Papst Pius XII. im Sterben lag, war ich ein Kind. Meine Eltern besuchten einen Freund, einen Journalisten. Es war ein sonniger Herbsttag und man wollte einen Ausflug machen. Der Bekannte hatte keine Zeit, er saß am Radio, rauchte und trank Likör und lauschte im abgedunkelten Zimmer den Nachrichten. Er wartete auf den Tod des Papstes. Mir graute bei diesem Gedanken. Und doch fand ich ihn mutig, wie er da hinter herabgelassenen Rollos dem Tod im fernen Rom auf der Schliche war. Durch diese Begebenheit erst erfuhr ich, daß auch ein Papst sterblich war und daß sein naher Tod ein Ereignis war, das die Menschen bekümmerte.

Noch ehe die Glocken die Botschaft in die laue Märznacht trugen, noch bevor Laufbänder auf dem Bildschirm die Nachricht verkündeten, erfuhr ich dieses Mal vom Tod des Papstes übers Internet. Erst später ging ich auf den Balkon und hörte die dunkle Glocke vom Dom her schlagen, dazwischen das hellere Geläut der nahen Pfarrkirche. Im Hintergrund durch die geöffnete Balkontüre das Geschwätz aus dem Fernseher: „Was empfanden Sie, als Sie die Botschaft vom Tod des Heiligen Vaters …“. Die Glocken verhallten. Wir beschlossen zum Dom zu gehen.

Auf der Straße war das Samstagsnachtfieber ungebrochen. Die laue Nacht lockte die Leute ins Viertel. Endlich, nach langem Winter konnte man sich ohne Anorak zeigen. Und man zeigte sich. Schwul, lesbisch, hetero, das Leben pulsierte. Man zog von einer Kneipe in die nächste, gierig auf Augen und Augenweide, gierig danach, erkannt zu werden, gierig nach Erleben. Der Tod des Papstes war Anknüpfungspunkt, leichter als sonst kam man ins Gespräch, das Morbide und die Lust waren sich ungewohnt nahe, der Duft, die Geräusche, die Bewegungen dichter und vergeilter als sonst. Man redete laut, gickerte grell, als wollte man das Brummen der Autos, die dicht an dicht nach Parkplätzen durch die Gassen rollten übertönen.

Nahe dem Dom die Tür zur neu eröffneten Diskothek. Tage zuvor warb man im Boulevard damit, daß in diesen Räumen einst Mike Jagger schon abgetanzt habe. Doch das war eine Straßenecke weiter. Dennoch pilgerten die Leute dorthin, herausgeputzt, in verboten engen Jeans, tiefen Decolletes, offenen Hemden, glitzernden Tennisschuhen, allesamt mit der passiv-aggressiven Spannung von Bittstellern. Nahe der Tür drückten sie das Kinn nach oben, blähten den Brustkorb, um die Auswahl vorm Türsteher zu überstehen. Tür auf, Tür zu, schnell war man drin, die Nacht war noch jung. Ein paar Burschen, die sich unsicher waren, ob sie die Gesichtskontrolle passieren würden, lungerten im Hauseingang daneben herum. Taxis rollten vor, Schlag auf, Tür auf, rein, Tür zu. Dann ein Paar, sichtlich aus der Vorstadt, trat in den Scheinwerferkegel vor die Pforte. Sie blieb ihm verschlossen. Abgewiesen waren sie ein Niemand, das schnell im Schatten der Straße verschwand. Es war beinahe unheimlich still vor der Tür zur Diskothek.

Kurz darauf traten wir in den Dom. Es war Mitternacht und er war gefüllt bis auf den letzten Platz. Die Orgel klang aus. Die Messe für den verstorbenen Papst war gerade zu Ende gegangen. Rasch leerte sich die Kirche. Dagegen drängten die, die später gekommen waren, nach vorne zum Altar. Dort, nahe dem auf einer Staffelei aufgestellten Bild des heiligen Vaters, knieten sie nieder, beteten innig. Manchen sah man an, daß sie geweint hatten. Es waren überwiegend junge Menschen. Ihnen war nicht nach Party. Auf dem Bild des Papstes stand in frühlingshaftem Gelb „totus tuus“, ganz Dein. Er winkte ein letztes Mal. Das milde Licht im Dom, dazu die raumhohen nachtschwarzen Fensterflächen machten den Altarraum heimelig, ließ uns länger verweilen.

Vor dem Dom sang man geistliche Lieder. Wir zündeten eine Kerze an. Blieben noch eine Weile vor dem Lichterpult stehen. Als wir hinausgingen, sang der Chor ein letztes Lied. Es war eine Jugendgruppe. Sie hatten Gitarren dabei. Dann verklang das Lied. Von der Fußgängerzone herüber hörte man das Gegröle von Betrunkenen. Als wir am nahen Jagdmuseum vorbeigingen turnten beschwipste japanische Touristen auf der bronzenen Wildsau herum.

Drei Wochen später wurde dann der einstige Kardinal der Diözese zum Papst gewählt. „Wir sind Papst“, titelte darauf die Bildzeitung. – Die Party geht weiter.

Langes Sterben ist ein schwerer Tod

Meine Schwiegermutter stirbt. Sie stirbt schon lange. Eigentlich seit dem 6. Januar 2019. Da ereilte sie ein Herzstillstand, vor dem Speisesaal ihres Altenheimes. Man reanimierte sie. Daraufhin setzte ihre Atmung aus. Man reanimierte sie ein zweites Mal. Damals war sie 92 Jahre alt, inzwischen ist sie 94 Jahre alt geworden.

Seit einem halben Jahr liegt sie im Bett und wird sechsmal am Tag umgelagert, damit sie keine entzündlichen Druckstellen bekommt. Sterben möchte sie schon seit drei Jahren, nachdem sie einen zweiten Schenkelhalsbruch erlitt. Jetzt ist sie sterbenssiech und fleht ihren Tod herbei.

Sie war zeitlebens eine zwiespältige Person, die durch ihren toxischen Narzissmus ihre Tochter und ihr Enkelkind vergiftete. Ihre Tochter vergiftete sie, indem sie ihr ihre Jugend neidete und darüber rasend wurde, dass sie ihr eigenes Leben und nicht das von ihr vorbedachte führte. Ihren Enkelsohn vergiftete sie, indem sie ihm Geld zusteckte, obgleich er ein Hallodri ist. Zudem stiftete sie ihn an, seine Mutter ebenso wie sie zu hassen. Dazu erzählte sie ihm, dass seine Mutter an seiner Gehörlosigkeit Schuld trüge, die die Folge einer Meningitis und Enzephalitis war, an der er mit zwei Jahren erkrankte.

Derzeit zeichne ich Bilder, die die Schwiegermutter und ihr Sterben zeigen. Dazu verfasse ich meist Senryūs, die das Temperament des jeweiligen Bildes hintergründig skizzieren. In ähnlicher Weise begleitete ich zeichnend und bloggend das Sterben meines Schwiegervaters (siehe Link).

Hier das erste Bild zur Schwiegermutter. Es entstand vor zwölf Wochen. Als wir sie verließen, meinten wir einmal mehr sie überlebe die nächsten Tage nicht mehr, gleichzeitig bezweifelten wir diese Prognose, denn ihr Überleben ist ungewöhnlich zäh und stark.

Nachdem wir gingen sahen wir von einer Anhöhe dem davonziehenden Regen nach und unterm Regenbogen einen Schwarm Tauben. Die Stimmung des Bildes ergreift dieser Senryū:

Und dann starb sie – nicht
Sie hatte noch nicht genug
Von ihrer Bosheit.

Das nächste Bild ist eine Federzeichnung. Mit ihr hielt ich die archaische Kraft fest, die ich empfand, wie sie das Leben, dem sie längst überdrüssig war, festhielt. Ja, das Leben ließ sie nicht los; und so erschien sie mir als gleich einem Baum, der nie keimen musste, sondern aus seinem alten Holz wieder und immer wieder Wurzeln schlug und sich fest in der Erde verkrallte.

Das Senryū zum Bild:

Der alte Baum knarzt
Derweil ihn der Sturm entlaubt
Schon fällt er ins Moos.

Bei unserem letzten Besuch bei ihr vor drei Wochen machte ich im Abendlicht ein paar Fotos von ihr. Sie war nun in einem Zustand, in dem sie uns vollkommen fremd geworden war. In den vier vergangenen Wochen, in denen wir sie nicht mehr sahen, hatte sich ihr Gesicht vollkommen verändert. Auch wenn sie apathisch und dissoziiert wirkte, war sie dennoch präsent. Sie erkannte Fotos von ihrer Mutter und ihrem Mann wieder und konnte sich auch zeitlich zuordnen. Ich machte eine Skizze von ihr, dazu schrieb ich folgenden Vers:

Sie sieht so fremd aus
Wie wenn sie sich vergessen
Ihr wahres Gesicht?

Vier Fotos druckte ich aus und übermalte sie, dazu entstanden folgende Senryūs:

Sieh deine Tochter
Sie fleht nach deiner Liebe
Doch du weist sie ab.

Traurig ihr Anblick
Schmerzlich ihre Ablehnung
Sie stirbt unversöhnlich.

Gegen Wundliegen
Dreht man sie sechsmal am Tag
Ihr Hass bleibt stabil.

Sie will längst sterben
Nur ihr Leben hält sie fest
Augen ohne Glanz.

Nachstehend sehen sie alle Bilder in der Reihenfolge ihrer Erwähnung.

Und dann starb sie – nicht

 

Der alte Baum knarzt

 

Sie sieht so fremd aus

 

Sieh deine Tochter

 

Traurig ihr Anblick

 

Gegens Wundliegen

 

Sie will längst sterben

 

 

Letzter Termin

letzte Termine

© Matthias Mala

Als man ihr vor der Aussegnungshalle kondolierte, sprach sie vom sonnigen Wetter und von dem nahen Ententeich mit den blühenden Seerosen. Sie war zwar in Schwarz, doch sie war kaum in Trauer. Nur ab und an, wenn ein besonders mitfühlendes Trostwort, ihr den traurigen Anlass wieder vergegenwärtigte, weinte sie still. Doch schon beim nächsten Blickwechsel, fiel ihr Schmerz sommerlichter Vergessenheit anheim. Sie ging am Arm des Neffen, plauderte mit ihm über Vergangenes. Der Tod ihres Mannes war nur ein flüchtiger Schatten vor den noch hellen Erinnerungen. Er blieb ein unbemerktes Ereignis in haltloser Gegenwart.

Die Freundin kam aus der Aufbahrungshalle, ging auf die Witwe zu, sprach ohne Umwege von dem Auto, dass man ihr nun überlassen könne. Hatte sie auch zuvor Beileidsworte geflüstert, waren sie bereits bedeutungslos, weil dort verheuchelt und da vergessen. Nein, erwiderte die Witwe in täuschender Präsenz, das sei nun doch der unpassende Moment. Später, ein anderes Mal. Als sei der Wagen schon ihrer, verklärte sich der Blick der Freundin, und verschwörerisch riet sie: Hör nicht auf, Joachim, er tut dir nur schön und redet hinter deinem Rücken schlecht. Er will dich nur betrügen. Mit leeren Augen folgte die Witwe der Richtung, in die die andere deutete.

Sie sah den verblassten Charmeur, der sie schon eine Weile wie ein Planet umkreiste, Weiterlesen

Ein guter Mensch

Memoria Robert © Matthias Mala

Memoria Robert © Matthias Mala

Letzte Woche haben wir Robert begraben. Er war 77 Jahre alt. Ich kannte Robert seit fast 40 Jahren. Robert war gewissermaßen eine Institution in den Sucht-Selbsthilfegruppen. Die ersten zehn Jahre seiner Sauberkeit stand er noch unter Vormundschaft, da die Psychiater damals nicht annehmen konnten, dass er noch zu einem selbstständigen Leben fähig sein würde. Doch Robert blieb sauber und seine geistige Gesundheit verfestigte sich immer mehr. Robert ging seit seiner Entlassung aus der Psychiatrie mehrmals in der Woche in Selbsthilfegruppen, um weiterhin ein stabiles Leben zu führen. Am Ende starb er sauber. Er war Jahrzehnte clean gewesen. Weiterlesen

Gedenken an Karl-Heinz Jaeckel

Am 30. Mai vor sieben Jahren starb Karl-Heinz Jaeckel, mein Schwiegervater. Am 13. März konnte er nicht mehr schreiben. Man vermutete zunächst einen Schlaganfall, diagnostizierte jedoch alsbald einen Gehirntumor (Glioblastom). Die Krankheit schritt rasch voran. Alsbald verlor er seine sensorische Koordination und sein Artikulationsvermögen. Wenige Tage danach war er halbseitig gelähmt. Seine intellektuelle Wahrnehmung blieb bis zu seinem Tod uneingeschränkt.

Karl-Heinz Jaeckel war ein Raja-Yogi und galt einer Schar von Menschen als Guru. Zudem war er Fotograf und Schriftsteller. Wobei er als Autor vor allem als Ghostwriter wirkte. In dieser Eigenschaft verfasste er mehrere Werke zum positiven Denken, die weltweit Millionenauflagen erzielten.

In geistlicher Hinsicht waren wir uns beide ein steter Stein des Anstoßes. Da wir grundsätzlich verschiedene Ansichten zur Spiritualität, Mystik und Religion pflegten. Dieser Dissens war uns eine gemeinsame Anregung und bot uns beiden Gelegenheit, voneinander zu lernen.
In den drei Monaten seines Siechtums erstellte ich die folgenden sechs Zeichnungen zu seinem Leiden und Sterben. Jede Zeichnung zeigt jeweils eine Station seines Leidens. Zudem entstanden während seiner letzten vierzehn Tage neun Haiku, mit denen ich Momente seines Sterbens festhielt. Die Haiku habe ich den einzelnen Zeichnungen zugeordnet. Weiterlesen