Schmerz und Angst

Schatten des Schmerzes © Matthias Mala

Schatten des Schmerzes © Matthias Mala

Das Viertel, in dem ich wohne, kenne ich seit gut 50 Jahren. Ich erkundete es erstmals als Lehrling bei einem Hotelausstatter, und manche meiner Botengänge führten hier in die Hinterhöfe der Handwerker, manchmal auch in ein Bordell oder eine Spelunke, wohin ich Stapel Kartons mit Sektgläsern tragen musste. Damals war das Viertel noch ein Arbeiterviertel, in dem mehrere Fabriken standen. Es gab auch einige Flüsterkneipen, in die sich kaum einer der vielen Fremden gewagt hätte, die heute hier durch die Straßen ziehen.

Seit etwa dreißig Jahren wohne ich hier. Damals, als ich hierherzog, war es immer noch ein Arbeiterviertel. Jeden Morgen und jeden Abend hörte ich das Stakkato der Schritte der Arbeiter und Angestellten, die in einem langen Zug unter meinem Fenster zu den Fabriken oder nach Hause gingen. Irgendwann wurden die Schritte spärlicher, die Fabriken zogen vor die Stadt. Dafür kauften sich gutverdienende Leute in neue Wohnungen ein, die auf Bombenbrachen und geräumten Fabrikgeländen entstanden. Mit ihnen wurden allmählich auch die Schritte vor meinem Fenster wieder mehr. Ich höre sie jetzt spät abends bis tief in die Nacht. Es sind die Schritte der Nachtschwärmer, denn das Viertel ist jetzt ein Ausgehviertel und eine angesagte Wohnlage in der Stadt geworden. Die alten Bewohner sterben indessen langsam weg, ziehen ob der steigenden Mieten fort oder wechseln in Altenheime oder folgen ihren Kindern weit vor die Stadt. Weiterlesen