Gerechtigkeit ist ungerecht

 

Gerechtigkeit © Matthias Mala

Gerechtigkeit © Matthias Mala

 

Zur Rechten und Linken Gottes gibt es jeweils nur einen Platz; wobei der Platz zur Rechten neben Christus nur den wahrhaft Gerechten reserviert ist. Sie mögen sich an dieser Seite bis in alle Ewigkeit aufreihen, doch direkt neben der Personalunion des Allmächtigen, kann nur einer der Gerechten seinen Allerwertesten plazieren. Wer aber soll das sein? Wer ist umso viel gerechter als alle anderen Gerechten, um derart bevorzugt zu werden? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es unter den wahrhaft Gerechten keine Ränge gibt, keinen ersten und keinen letzten? Doch wenn es so ist, wie können sie sich dann aufreihen? Wer sitzt neben Gott? Ist der Platz zu seiner Rechten vielleicht ein rollierender, auf den sich jeder Gerechte für eine Sekunde niederlassen darf, ehe der nächste sich darauf setzt? Da kämen dann rund 31 Millionen Gerechte im Jahr zu sitzen, sofern sie zügig den Platz tauschten.

Doch wäre das eine Gerechtigkeit oder wäre es nur eine verrückte Reise nach Jerusalem? Ein sinnloses Ritual, um Gerechtigkeit vorzutäuschen, wo es keine geben kann? Denn schließlich heißt es, der Gerechte wird dereinst zur Rechten Gottes sitzen. Oder sitzen sie womöglich allesamt wie die Engel der Scholastiker dicht gedrängt auf einer Nadelspitze? Aber auch das wäre keine Gerechtigkeit, denn in einem derartigen Pulk, in dem sich die Genien derart drängten, dass sie sich notwendigerweise durch ihre Gravitation materialisieren müssten, wäre diese Nadelspitze nur der Ort für einen neuen Urknall und damit das Ende der Gerechten, um in einem mühsamen Weg Jahrmilliarden währender Wiedergeburten zu erneuter Gerechtigkeit zu gelangen, die wiederum notwendigerweise pure Ungerechtigkeit wäre; da der Platz, den sie einnehmen würden, sie erneut explodieren ließe.

Ich könnte diesem überspitzten Beispiel noch x-beliebige realitere Varianten zur Seite stellen. Sie würden allesamt belegen, dass sich Gerechtigkeit mit ihrer Ausdehnung auflöst respektive zur Ungerechtigkeit verkommt. Gerechtigkeit für alle ist nicht möglich. Wo die Grenze liegt, wann Gerechtigkeit sich überdehnt und in Ungerechtigkeit umschlägt, ist nicht zu verallgemeinern. Doch es gibt einen Punkt, wo es für jeden vernünftigen Menschen erkennbar sinnlos wird, weiter zu versuchen gerecht zu teilen. Will man Menschen aus Seenot retten und das Rettungsboot fasst nur 100 Menschen, dann bringt jeder Mensch, der zuviel an Bord genommen wird, alle Insassen in Gefahr. Will man das nicht wahrhaben, werden alle mit einem selbst ertrinken. Wenn das gerecht ist, bitteschön …

In einem überschaubaren Rahmen können wir gerecht handeln. Das Überschaubare ist für uns auch das Menschliche. Es entspricht unserer Natur, der gemäß wir stets in überschaubaren sozialen Gefügen agieren und uns mit ihnen austauschen. Schauen Sie sich zum Beispiel die geselligen Netzwerke im Internet an, wer dort mehr als 100 Freunde hat, hat im Grunde gar keine Freunde, sondern allenfalls noch Bekanntschaften und selbst die nicht einmal richtig.

Wer also die Welt gerechter machen möchte, sollte nicht die Welt retten wollen, denn damit wird er nichts erreichen. Vielmehr sollte er in seiner Mitwelt gerecht, ehrlich und vor allem selbstkritisch agieren. Denn häufig ist gut gemeint noch lange nicht gut getan. Er sollte ebenso seine Vorstellung von Gerechtigkeit hinterfragen, denn wer gleichmacht handelt nicht gerecht. So ist zum Beispiel, um auf einen zeitgemäßen Irrtum hinzuweisen, Gleichstellung geradezu das Gegenteil von Gleichberechtigung. Vielfach wirkt gewährte Hilfe schädigend, weil sie die Eigeninitiative lähmt oder Menschen in eine Richtung lenkt, die sie gar nicht gehen wollen.

Deshalb sollte der Gerechte demütig sein, und denjenigen, den er mit seiner Gerechtigkeit beschenken möchte, fragen, ob ihm das Geschenk willkommen sei. Allzugern agieren nämlich die Gerechten aus einer paternalistischen Attitüde heraus, bei der die Beschenkten nur die Objekte ihrer narzisstischen Befriedigung sind.

Der wahre Gerechte ist darum auch in ganz eigener Weise selbstlos. Er handelt nicht gerecht, um hierdurch sein Ticket für das Himmelreich zu bezahlen, noch um irdischer Weihen wegen, sondern weil er im speziellen Fall helfen kann. Seine Hilfe ist also von seinem physischen, psychischen oder materiellem Vermögen abhängig. Hat er keine Mittel dieserart, wird er auch nicht helfen, sondern allenfalls trösten.

Eine spirituelle Dimension der Gerechtigkeit entsteht erst, sobald der Mensch selbst ein spirituelles Leben führt und etwas von dem Geist, der ihn erfüllt, vermitteln kann. Hier leistet er nicht mehr nur Mildtätigkeit oder wirkt barmherzig gegenüber jenen, die ihn erbarmen, sondern hier wird er zum Mittler einer Kraft, die nicht die seine ist. Solches Wirken ist gerecht, weil es unbesehen geteilt und aus einer unversieglichen Quelle gespeist wird. Hier ist der Gerechte nur stiller, demütiger Mittler der Liebe. Sie ist letztlich das einzige Gut, das gleichsam gerecht – weil ungeteilt – jedem Menschen zufließt, der bereit ist, ihr sein Herz zu öffnen, um sie zu empfangen. Deswegen ist es einzig Liebe, die letztlich die Gerechten macht und sich vom Altruismus, der stets eine eigennützige Komponente besitzt, unterscheidet.

Jeder Gerechte macht darum allein durch sein Sein die Welt gerechter. Seine guten Taten wiegen hingegen wenig. Denn ohne Liebe bleibt die gute Tat nur flüchtig, eine warmherzige Dienstleistung. Leider ist diese liebevolle Bescheidenheit zu wenig spektakulär, als dass sie sich viele Menschen zu eigen machen wollen. Weswegen die Welt so ist, wie sie ist …

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