Der blinde Fleck

Objet trouvé von Ruth Mala © Matthias Mala

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Jeder Mensch besitzt natürlicherweise einen Punkt, den sein Auge nicht sieht. Er wird blinder Fleck genannt. Er ist notwendig für die Sehfähigkeit des Auges, denn es ist der Sehnerv selbst, der die Sicht ein wenig verblindet. Das spezielle des blinden Fleckes ist, dass wir ihn nicht erkennen, sondern das fehlende Sichtfeld einfach ergänzen. Unser Hirn täuscht uns dazu eine optische Wahrnehmung vor, wo keine ist.

Soweit so gut. Wir sehen trotz physiologisch beschränkter Wahrnehmung ausreichend genau und sind deswegen in unserem Alltag nicht behindert. Ja, bis ins 17. Jahrhundert hinein wusste die Menschheit nicht einmal, dass jeder Mensch einen blinden Fleck mit sich herumträgt. Seitdem aber ist er eine beliebte Metapher für die beschränkte Sicht auf die Dinge und die Welt, der jeder Einzelne grundsätzlich ausgesetzt ist, da wir uns so oder so buchstäblich auch mit Scheuklappen durch die Welt bewegen.

Um nicht zu scheuen, vermeiden wir, alles mögliche auch zu sehen. Das geht mit den kleinen Vorlieben und Abneigungen im persönlichen Bereich los und steigert sich mit den Nachrichten, die wir nicht zur Kenntnis nehmen wollen, bis hin zu Fakten, die wir einfach ausblenden, um unsere Sicht auf die Wirklichkeit nicht korrigieren zu müssen. Solange es gut geht, halten wir diese selbstbeschränke Sichtweise auch bei. Ja, wir überhöhen unsere Talent des Wegsehens gerne mit dem geflügelten Wort vom Wissen um das Nichtwissen: Ich weiß, dass ich nichts weiß! Womit auch willentliche Fehlleistungen zu einer ontologischen Größe kaschiert werden können, und der blinde Fleck demonstrativ im selben Moment, in dem er bejaht wurde, verneint wird. – Eine übliche Übung beschränkender Selbsterkenntnis.

Allerdings steht selten jemand dazu, dass er auf mehr Selbsterkenntnis gerne verzichtet. Schließlich gilt Selbsterkenntnis gemeinhin als ein erster Schritt zur charakterlichen Verbesserung und wer sich ihr verweigert als dumm. Da aber selbst der Dumme selten dumm sein will, streben wir alle edel von Gemüt zur Selbstoptimierung, indem wir uns in der Kunst der Selbsterkenntnis üben, um letztlich, mit einem gesunden Selbstverständnis ausgestattet, authentische Persönlichkeiten geworden zu sein. Der Milliardenmarkt der psychologischen Selbstoptimierung zeugt von diesem Streben.

Vollkommene Selbsterkenntnis müsste folgerichtig auch ein totales Selbstverständnis bedeuten. Vom psychologischen Standpunkt aus ist vollkommene Selbsterkenntnis jedoch Unsinn. Niemand kann sich vollkommen erkennen, ja niemand kann selbst eine partielle Selbsterkenntnis in ein gleichwertiges Selbstverständnis übertragen. Jeder Mensch ist in seiner Person komplex und widersprüchlich. Er kann zu ein und demselben Sachverhalt ganz selbstverständlich verschiedene Standpunkte beziehen; und hierdurch sein eigenes Handeln gegensätzlich beurteilen. Aktuell spricht man in diesem Zusammenhang gerne von Ego-States: mehrere Seelen tragen wir demnach in unserer Brust.

Das Bemühen um wahre Selbsterkenntnis rückt darum auf der einen Seite eine Person in einen höchst sensiblen reflexiven Modus und zeigt ihr andererseits dabei vermehrt das Nichtwissen, ihre beschränkte Selbsterkenntnisfähigkeit auf. Hochsensibel erkennt sich die Person in ihren verschiedenen Rollen und erkennt zugleich ihre Unbestimmtheit, ja bis hin zu ihrer Nichtigkeit, indem sie ihr Ego nur als eine changierende Fiktion wahrnimmt. Freilich sind derlei Momente ebenso wirklich wie unwirklich, denn selbst in Augenblicken empfundener Nichtigkeit erkennen wir uns und erleben uns somit aus einer Perspektive heraus. Wobei ich an dieser Stelle pathologische Formen der Selbstreflexion wie Depersonalisation oder Dissoziation nicht hinzuziehen möchte, denn sie fördern kein Verständnis für den Akt der Selbsterkenntnis.

Der innere Beobachter verschwindet somit nie. Denn der Akt des Erkennens setzt zum einen bekanntes Wissen voraus, an dem sich die Erkenntnis misst und relativiert, damit erweiterte Kenntnis heranreift, indem es Neues detektiert und integriert. Folglich ist vollkommene Selbsterkenntnis auch vom logischen Standpunkt aus unsinnig. Denn die durch Vorwissen gefilterte Wahrnehmung begrenzt die Selbsterkenntnis durch kulturelle und soziale Konditionierungen. Gleichzeitig bildet der innere Beobachter den blinden Fleck, der unsere Wahrnehmung in anderer Weise beschränkt; denn er kann nicht über sich selbst hinwegsehen, noch sich selbst erkennen, da er stets Reflektor aber nicht Gegenstand seiner Reflexion ist.

Also frage ich mich: Wenn in der immanenten Welt keine vollkommene Selbsterkenntnis möglich ist, ob sie wenigstens in transzendenter Weise geschehen kann? ‑ Gibt es eine spirituelle Selbsterkenntnis?

Gleich vorneweg gesagt, es gibt sie zumindest nicht in der Weise, dass unser Selbst sich selbst in geistlicher Weise erkennen könnte. Denn unser Erkenntnisvermögen ist und bleibt diesseitig. Die höchste Selbsterkenntnis ist darum die Einsicht, dass wir niemals imstande sein werden, uns vollkommen zu erkennen. Akzeptieren wir diese Tatsache, sind wir dabei, uns in und mit unserer Unvollkommenheit anzunehmen. Wir werden zufrieden mit dem, was wir sind. In uns kehrt Friede ein. Und mit dem Frieden, umweht uns Liebe.

Das ist eine seltsame Berührung durch die Transzendenz. Wir fühlen, wie wir in unserer Unvollkommenheit, vollkommen geliebt werden. Und es beginnt eine stille Wesensschau, in der wir unser Sein im Sein lösen. Da ist dann kein innerer Beobachter mehr, der sein tragendes Selbst erkennt. Da ist kein Selbst, dass sich ergründen will. Da ist nur Stille. Es ist keine Gedankenstille. Denn werden die Gedanken still, bleibt der innere Beobachter auf der Lauer. Nein, es ist Stille ohne den Stillen, ohne den Stillgewordenen.

Dann ist jedes Wort, jeder Gedanke zuviel …

 

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