Noch ehe sie überhaupt voneinander wussten, harmonierten sie bereits miteinander, indem sie gleich zwei Sternen in einem Doppelsternsystem um einen gemeinsamen Schwerpunkt kreisten. Mit ihrem Kennenlernen entdeckten sie ihre mannigfachen Gemeinsamkeiten und bemerkten die zahlreichen Gelegenheiten, wo sie einander schon hätten begegnen können. Auch nach dem ersten Kennenlernen erlebten sie oft Momente, als wären sie sich schon einmal ‑ wenn nicht in diesem, dann in einem anderen Leben zuvor ‑ begegnet. Rückblickend erschien es ihnen, als hätten sie sich schon immer gesucht und schließlich, nach vielem auf und ab und überwundenen Hindernissen, endlich ihre Bestimmung gefunden. – Ja, es war schon Liebe vor dem ersten Blick, die ihre Sehnsucht zueinander lenkte. Und ähnlich wie zwei Sterne, die um ihre gemeinsame Mitte kreisten, war auch ihre Beziehung aufeinander bezogen und keineswegs frei von Spannung. Ihre von außen gesehene Harmonie, die ihrerseits so viele Menschen verzückte, war aus ihrer Sicht eine stete Auseinandersetzung und ein austarieren der Kräfte, die sie miteinander verbanden.
Die Aufmerksamkeit für die eigene wie die gemeinsame Bewegung aber war ihr beider Verständnis von Harmonie und stiftete in ihnen das Gefühl einer überirdischen aufeinander Bezogenheit. Dieserart dynamische Beziehung war eine Wirklichkeit, die sich nur in wacher Gegenwärtigkeit mitteilte. Sobald ihre Wachsamkeit verflogen war, verlor sich auch der Zauber. Das Empfinden dieses Verlustes aber war der stete Impetus, der sie in ihrer Bahn und somit in ihrer zweisamen Bewegung hielt. Nicht die Harmonie selbst, sondern vielmehr ihre stete Erneuerung durch die Wahrnehmung ihrer Flüchtigkeit stiftete letztlich das Glück, das sie erlebten, und das durch sie für ihre Mitwelt sichtbar wurde. Schließlich waren sie in ihrem gemeinsamen Glück auch ein Gral für ihre Mitwelt, der sie, durch ihre gelebte Harmonie, auch ein Hoffnungszeichen waren.Das Leben schreibt solche Romanzen; aber es scheinen ebenso zwei Seelen zu sein, die einander suchten und fanden. Wir sprechen dann von Seelenverwandtschaft, als entstamme man derselben himmlischen Sphäre und könne gar nicht anders, als sich auf Erden wieder zu vereinen. Vollzieht sich eine solche Verbindung, wird sie für das Paar wie für seine Mitwelt als etwas wundersames empfunden. Ja, es entfaltet sich mit solchen Verbindungen eine Kraft, die über das Paar selbst hinausstrahlt und dazu anregt, eine vergleichbare Stimmung in sich selbst zu beleben. Wobei wir auch in den zwei großen Himmelslichtern, Sonne und Mond, von unserer irdischen Warte aus eine himmlische Parallele göttlicher Liebe sehen, die nicht nur die Symbolik von Ying und Yang bebildert, sondern auch für das metaphysische Geschehen, der Liebeseinung mit Gott erkennbar sinnstiftend ist. Was sich somit in unseren Augen am Himmel wie in unseren Herzen vollzieht, nämlich liebende Bezogenheit, erscheint uns als einende Gestimmtheit, die uns ein liebendes Wirken als unitären Daseinsgrund erahnen lässt. Lebendige Harmonie scheint demnach der Sinn der Schöpfung zu sein. Wobei letztlich in diesem Impuls auch der Niedergang und das Chaos ihre übergeordnete Gestalt finden.
Harmonie allein auf säuselndes Wohlgefühl, auf verkitschte Darstellung oder spannungslose Begegnungen zu reduzieren, ist ein korruptes Verständnis. Denn derlei Gleichklang, oder besser gesagt Eintönigkeit, wird zur Tyrannei der Siegelbewahrer und Wahrheitsbesitzer. Hier verliert sich die Bewegung des Sichfindens. Es kommt zur Erstarrung und schließlich zum Bruch. Und wir wissen, dass unsere Welt ihr Ende in ihrer vollkommenen Zerstörung findet. Weder Fassbares und noch Erfahrbares werden bleiben. Harmonie lässt sich darum in ihrer speziellen Erscheinung nicht bewahren. Das zeigt uns jedes Lied, das verklingt. Dennoch, aus einer übergeordneten Sicht bleibt der Gleichklang auch in der Auflösung harmonischer Verbindungen erhalten. Nicht umsonst faszinieren uns die Überreste von Supernovas, die im Grunde Zeugen einer unvorstellbaren Katastrophe sind (siehe meinen Beitrag „Gottes Gesicht“). Gleichklang ist darum auch sich wandelnde Harmonie oder schöpferische Wandlung. Dies aber setzt schöpferische Disharmonie mit voraus. In diesem Sinne wirkt der Schöpfungsimpuls wie die Harke des Zenmönches, der, nachdem er den Steingarten präzise gerecht hat, mit einem Kratzer gegen den Strich die gezogene Vollkommenheit wieder aufhebt und erst hierdurch die wahre Vollkommenheit des Zengartens modelliert.
Ist ein Lied verklungen, bleibt es in der eintretenden Stille verhaftet. Das Lied tönt nach, oder die Stille tönt. Je nachdem aus welcher Perspektive wir dieses Phänomen betrachten. Es ist ein mich immer wieder aufwühlender Moment unglaublicher Schönheit, wenn nach einem Musikstück die Stille dem dargeboten Werk noch eine Aura verleiht. Aus diesem Grunde schätze ich Dirigenten, die es vermögen, das Publikum so mitzunehmen, dass es nicht schon in den letzten Ton hinein applaudiert, sondern wenigstens drei Atemzüge lang die eintretende Stille aushält.
Gleichklang kann somit auch da schwingen, wo vermeintlich nichts ist. Die Leere schwingt ebenso wie die Stille oder die dunkle Nacht. Wer diese unbewegte Bewegtheit einmal erfasst hat, oder präziser, wer von ihr einmal umfasst und berührt wurde, der wird ihre Anwesenheit immer wieder bemerken. Selbst an den sündigsten Orten unter Gottlosen wird sich ihm dieser einmal offenbarte Raum immer wieder öffnen und ihn einladen, in die Stille überirdischen Gleichklangs einzukehren. Das sind Momente der Liebeseinung. Es sind ungewöhnlich belebte Augenblicke. Sie bieten kein Erleben, da das Einsein mit der vollkommenen Stille des Unbegrenzten, den Menschen in seinem Sein entgrenzt. Er erlischt, indem er übergeht. Ja, und auch derlei Nichtsein muss man aushalten, wie die Stille, nach einem Lied, nach Momenten des Gleichklangs, wenn uns das Herz überläuft. Wer das nicht kann, kann auch sein eigenes Sein nicht aushalten und wird es fliehen, solange er kann.
Gleichklang in vollkommener Stille ist darum kein Paradoxon, sondern eine geistliche Dimension, die wir, wenn wir sie erahnen dürfen, auch als Begnadung auffassen. In ihr weitet sich der schöpferische Raum. Ihn durchströmt reine Liebe. Sie ist Gleichklang pur; das Elixier der Liebeseinung. Sie ist zugleich Heimat und Heimkehr für die urspüngliche, heile Seele. Denn Gott ‑ was immer das auch sein mag ‑ liebt den Menschen, noch ehe er erscheint.