Fremd

Noch fremd © Matthias Mala

Noch fremd © Matthias Mala

Das Wort „fremd“ meinte in seiner ursprünglichen Bedeutung „fortsein“ oder „von etwas entfernt sein“. Fremd ist uns also, was uns nicht nahe ist. Ebenso sind wir Fremde, solange wir nicht nahe, nicht eingebunden sind. Fremdsein verliert sich darum rasch, sobald wir in der Fremde Gastfreundschaft erfahren oder in eine Gemeinschaft aufgenommen werden. Auch das Bekannte kann einen befremden, wenn es sich entfernt, indem es sich anders zeigt, oder wir es anders sehen. Wir kennen alle die seltsame Anwandlung, wenn wir zum Beispiel längere Zeit nicht zu Hause waren und uns bei der Heimkunft beim Blick auf das altbekannte Interieur, dieses sehr befremdet; es mutet uns ein wenig wie eine Traumwirklichkeit an.

Das Gefühl von Fremde ist ambivalent. Das Fremde vermag uns ebenso zu locken wie zu ängstigen. Das Fremdsein selbst scheint mal bedrückend, mal befreiend. In jedem Fall ist das Fremde eine Unterbrechung des Bekannten, es entrückt uns, fordert von uns Aufmerksamkeit, zwingt uns zur Auseinandersetzung mit ihm. Deswegen mögen wir das Fremde eigentlich nur, solange es sich – quasi nur ein wenig fremd ‑ im Erwarteten und Bekannten zeigt. Ist es hingegen ganz fremd, lässt es uns entweder wie kleine Kinder fremdeln oder wir neigen dazu, es zu übersehen, indem wir ihm mit unseren Vorurteilen begegnen und es uns so angenehm machen. Können wir ihm jedoch nicht ausweichen, setzen wir uns notgedrungen mit ihm auseinander, indem wir es abwägen und deuten. Dies ist ein Prozess der Aneignung, bei dem sich das Fremde zum Bekannten wandelt. Indem es für uns handbar und erklärbar wurde, haben wir das Fremde kennengelernt. Wer das Fremde kennt, fürchtet es nicht mehr.

Doch rückt das Fremde ins Bekannte, verfremdet sich beides. Es verschieben sich die Werte und Gesichtspunkte. Das Gewohnte verliert sich auf beiden Seiten zugunsten einer neuen Gewohnheit. Dies ist eine Form von Untergang, die man durchaus auch als existenzielle Bedrohung wahrnehmen kann. Statt das nunmehr bekannte Fremde zu fürchten, beginnen wir, es abzulehnen, und werden ihm letztlich feind. Fremdenfeindlichkeit, Fremdenhass oder Xenophobie heißt das Ergebnis dieser Entwicklung ‑ auch dies ein bilateraler Affekt. Es ist nicht nur eine aktuelle Erscheinung, sondern begleitet uns Menschen, seitdem wir uns zu ersten Horden zusammenrotteten und Krals und Klans bildeten.

Es gibt also einen archetypischen Reflex wider dem Fremden. Durch seine Ablehnung meinen wir, das Bekannte, das Althergebrachte zu schützen und zu bewahren. Damit uns das Fremde fremd bleibt, halten wir es auf Distanz. Da kann der Fremde Tür an Tür mit uns leben, und doch trennen uns Welten. Der einzelne Fremde mag uns noch willkommen sein. Da wirken die archaischen Regeln der Gastfreundschaft, die freilich darauf bauen, dass der Gast Gast bleibt und uns folglich auch wieder verlässt. Doch sobald er zu einer beharrenden Kraft wird, beginnen wir, ihn abzuwehren. – Das ist die dunkle Seite an der Begegnung mit dem Fremden.

Doch ohne die Einbeziehung und die Einvernahme des Fremden gäbe es nur eine mäßige Entwicklung von Gesellschaften. Wir können dies an den kulturellen Unterschieden zwischen Stadt und Land, zwischen abgeschotteten und offenen Gesellschaften ablesen. Beide Gesellschaftsformen haben ihre Vor- und Nachteile, und derjenige, der in der einen lebt, verklärt allzugern die andere. Die unbeständige Gemeinschaft erlaubt Entwicklung, bietet dafür aber weniger Sicherheit, während die beständige zwar Sicherheit und Verlässlichkeit gewährt, sich dafür aber kaum fortentwickelt. Um darob den gesellschaftlichen Stillstand zu vermeiden, der wiederum eine Form des Zerfalls bedingte, gab und gibt es in allen Gesellschaften Rituale, wie man sich dem Fremden öffnet, es einlädt und adoptiert. Man entfernt sich, um weitsichtiger heimzukommen. Einst war es, um ein Beispiel von vielen zu geben, die Walz, heute ist es der Schüleraustauch und die Bildungsreise. Insofern ist die Begegnung mit dem Fremden eine Konfrontation des Einzelnen als auch der Gemeinschaft mit sich selbst. Wir erfahren im Andersartigen unsere Eigenartigkeit. Diese Erfahrung ist nicht nur Analyse, sondern auch Vergleich. Mangel wie Fülle werden sichtbar. Das Ergebnis solchen Messens ist ein Geben und Nehmen. Man gibt dem Fremden, wie man von ihm nimmt. Es ist ein Akt der Veredelung ‑ positiv gesehen; das Gegenteil ist ebenso möglich und kommt oft genug vor. Wir sprechen dann von den „Unsitten“, die uns das Fremde beschert.

Soweit die Skizze von der allgemeinen Struktur des Fremden. Sie zeigt, dass es keine eindeutige Haltung zum Fremden gibt, dass Xenophobie wie Xenophilie in ein und derselben Person aufscheinen können. Sie zeigt aber auch, dass die Begegnung mit dem Fremden nicht ausgespart werden kann, sondern alltägliche Forderung wie Herausforderung bleibt. Weshalb ich mich frage, wie die notwendige Entfernung entsteht, damit wir dem Fremden überhaupt begegnen können?

Um meine Frage zu erfassen, wende ich mich zunächst dem Nichtfremden, dem Bekannten, zu. Alles was mir nicht fremd ist, ist mir demnach nahe. Dies kann sowohl räumliche als auch emotionale Nähe sein. Ein guter Freund am anderen Ende der Welt mag mir näher als mein Nachbar sein, da wir uns gut kennen und emotional verbunden sind. Das Nichtfremde verbirgt nichts, es bleibt im Bekannten und ist somit berechenbar. Nähe in diesem Sinne bedeutet Verwandtschaft oder Verbundenheit, Ähnlichkeit oder Gleichartigkeit. Das Nahe ist in etwa so viel wie ein Stück von mir. Es ist meins und macht meine Identität mit aus. Das Bekannte ist, weil bekannt, zwar reizarm, schafft dafür aber Vertrautheit und Heimat. Es gehört zum Nest, zum Kral; es besitzt Stallgeruch. Diese Eigenschaft erhält sich auch, wenn man über lange Zeit und große Entfernung getrennt ist. Hier schafft der Abstand keine Befremdung.

Das reizarme am Bekannten ist allerdings insofern nachteilig, als dass es auch die Wahrnehmung abstumpft. Wir sehen nicht mehr, was wir sehen, sondern das, was wir kennen. Solange sich dabei das Nichtfremde wie gewohnt verhält, bleibt es uns nah und lieb. Das bedeutet, es rückt uns so nahe, dass wir es im Grunde übersehen. Ein fataler Sachverhalt, denn was wir häufig am meisten übersehen, sind wir selbst. Die meisten Menschen kennen sich selbst sehr schlecht, weil sie sich nur im anderen wahrnehmen, jedoch ihre Reaktion auf den anderen als von diesem verursacht erleben und nicht als den reflexartigen Ausdruck ihrer selbst. Ist doch die Welt, wie wir sie erleben unsere ganz eigene, die uns selbst in unserem ganzen Sein offenbart. – Allerdings nehmen wir sie in dieser Art kaum wahr. Was im Grunde bedeutet, dass uns das Bekannte weit fremder ist, als das Fremde, das wir viel eher mit großer Aufmerksamkeit betrachten.

Demzufolge leben wir in einer verkehrten Welt, in der uns das eigentlich Nahe, weil unbeachtet, im Grunde ferner ist als das Fremde, das uns zumindest über unsere erhöhte Aufmerksamkeit näherrückt, selbst wenn wir es uns wiederum nur durch vergleichende Wahrnehmung ‑ also über das Bekannte ‑ aneignen. Unsere Aufmerksamkeit bewahrt zwar einerseits Distanz, schafft aber anderseits eine bewusste Nähe. Wir bewegen uns auf das Fremde zu. Die Überwindung von Raum und Zeit, um ins Fremde zu gelangen, ist jedoch vornehmlich die Überwindung einer physischen Distanz. Hingegen haben wir im Geist weder Raum noch Zeit überwunden respektive aufgehoben. Hier bleiben wir uns nahe, indem wir in uns bleiben, und somit neben dem Bekannten auch dem Fremden nicht wirklich begegnen. Vielmehr erleben wir nur uns selbst in Konfrontation mit etwas Unbekannten, das wir uns bekannt machen und in unseren Bannkreis schlagen.

Also frage ich mich nunmehr präziser: kann es zu einem Abstand, einer inneren Distanz kommen, durch die ich mir selbst fremd werde? Denn nur wenn ich mir fremd bin, habe ich die Chance, mich ganz wahrzunehmen. Und nur wenn ich das mir Bekannte mit fremden Augen sehe, kann ich auch das wirklich Fremde mit unverstelltem Blick betrachten, anstatt es mir vergleichend zu adoptieren. Ich meine nicht den selbstzentrierten autopoietischen Abstand, der entsteht, sobald ein Teil meines Ichs sich zum Wissenden aufschwingt, um seine unwissenden Fragmente zu entfremden, um sie schließlich in ihrer Befremdlichkeit zu betrachten – man nennt das kurz und verklärend: Selbstreflektion. Dies wäre nur ein weiterer Trick fortwährender Selbsttäuschung.

Darum frage ich weiter, kann ich mir selbst fremd werden? Um darauf eine Antwort zu finden, sollte ich mich fragen, warum ich mir selbst bekannt bin; schließlich ist meine selbstbezogene Bekanntschaft der eigentliche Grund für die verschleiernde Nähe. Ich bin mir bekannt, weil ich mich selbstvergötzt habe; weil ich der Idee von mir, die mir andere andienten folgte, bis ich mein Selbstbild für mich selbst hielt und mich mit ihm absolut identifizierte. In der Folge habe ich mein Selbstbild immer weiter poliert, so dass sein Glanz mir zum eigentlichen Licht wurde. So habe ich mich mit mir selbst geblendet. Die Ursache meiner Blindheit und Distanzlosigkeit bin also ich selbst. Folgerichtig ist es sinnlos, wenn ich versuche mich von mir selbst zu entfremden; denn dazu müsste das Bild seinen eigenen Rahmen verlassen, um sich selbst zu betrachten – was unmöglich ist.

Weil somit auch dieser Weg verbaut ist, frage ich mich, ob es eine Sichtweise auf mich geben kann, bei der mein Ich aus der Distanz des Fremden wahrgenommen wird? Sie gibt es zweifellos im Auge der Fremden, jener Menschen, die nichts von mir wissen und nichts von mir kennen. Da sie mich allerdings in gleicher Weise bedingt, sprich durch ihre eigene Festlegung wahrnehmen, bleibt auch dieser Blick unvollkommen. So komme ich zu dem Ergebnis, aus mir heraus ist eine distanzierte Wahrnehmung auf mich selbst unmöglich. Auch ein fremder Blick schafft diese Distanz nicht.

Erkenne ich dies, erkenne ich meine geistige Blindheit. Ein Blinder aber, der sehen will, lebt in ständigem Konflikt mit sich selbst. Er wird niemals zufrieden sein und niemals Weile haben, um etwas anderes als seinen inneren Widerstreit zu erleben. Er ist nicht nur blind, sondern verrückt, weil er sich in sich selbst verrückt hat.

Erkenne ich dies, erkenne ich, dass ich keine Möglichkeit habe, mir selbst zu entkommen, mich anders wahrzunehmen als in bekannter und bedingter Weise.

Erkenne ich das vollkommen und ohne den leisesten Zweifel, akzeptiere ich die Unmöglichkeit vollkommener Selbsterkenntnis. Das ist der höchste Punkt aller Selbsterkenntnis. Es ist zugleich ein Punkt inversiver Selbstwahrnehmung, er führt zur Implosion meines Ichs, an deren Ende das Ichselbst vollkommen zur Ruhe kommt.

Geschieht dies, herrscht Stille; in ihr ist nichts Bekanntes. Ich bin mir selbst um meiner selbst entfernt. Es ist ein gründliches Fortsein. Zurück bleibt das absolute Fremde, das in die Welt blickt. Mit ihm wirkt der zuvor durch mich nicht herstellbare Abstand. Dieser Abstand verändert sich nicht. Denn dem absoluten Fremden bleibt alles fremd. Es wird niemals etwas Bekanntes entdecken, noch sich irgendetwas bekannt machen. Alles was es betrachtet, was es mit seinen Sinnen wahrnimmt, ist für es neu. Auch wenn es ihm hundertmal am Tag begegnet, wird es immer wieder neu für es sein. Eine solche totale Entfremdung ist immerwährende Schöpfung ‑ ist zeitlos fließende Liebe.

Treten wir also zurück, um das Fremde einzuladen, uns zu beleben!

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