Als ich um die Ecke biegend in meine Straße schwenkte, blendete mich kupfergoldenes Licht. Ich blinzelte in den orangenen Sonnenball, sah wie silberhelle Fäden durch den Abenddunst auf die Sonne wiesen, als wollten sie mir den Weg durch das goldene Tor flankieren. Ja, mit jedem Schritt, den ich in meine Gasse hineinging, war es mir, als wollte mich die Sonne erheben und mit ihrer milden Wärme umschließen. In mir regte sich ein Gefühl, als wäre ich am Ziel, einem Ziel, das ich nie suchte, geschweige denn je verfolgt hätte. Es war ein himmlisches Gefühl von Heimat. Vielleicht war es das Gefühl, das ich einst als vierjähriger Bub erheischen wollte, als ich an einem Sommerabend nahe unserem Haus über die Heide auf die untergehende Sonne zulief, die zum greifen nahe dem Horizont entgegenrollte. Je näher sie der Himmelslinie rückte, desto schneller lief ich, denn sie schien sich gleichzeitig auch mir immer weiter zu nähern. Nur noch wenige Wiesenflecken überwinden, dann hätte ich sie erreicht. Doch mit jedem Schritt entfernte sich die Sonne wieder, bewahrte ihre nähernde Distanz. Dann berührte sie den Horizont und ich sank atemlos ins Gras. Sie war unerreichbar und doch so nah. Wie gerne hätte ich sie eingefangen, hätte sie berührt, mich an ihrem Glanz erfreut. Nun aber versank sie hinter der Heide. Schmollend wandte ich mich ab. Doch das nächste Mal, ganz gewiss, würde ich sie erwischen. – Ich kann mich allerdings an keinen weiteren Versuch erinnern, die Sonne einzufangen.
Doch jetzt lockte sie mich, als erinnere sie sich, an den kleinen Jungen, der ich einmal war, und als wollte sie sich, für ihre damalige Flucht um Verzeihung heischend, mit mir vermählen. Ich lächelte darüber und sah dabei in die lächelnden Gesichter der Menschen auf der Straße. Wir waren allesamt verzaubert, vereint an diesem späten Herbsttag, der trotz seiner Frische noch Wärme versprach. In einer Woche würden wir wieder grüne Weihnachten haben.
Nur noch wenige Tage, dann haben wir wieder einmal die tiefste Nacht erreicht. Wintersonnenwende, das bedeutet an meinem Ort nur acht Stunden Tageslicht. Sofern das Wetter mitspielt, werde ich ein weiteres Mal den Sonnenuntergang kurz nach vier Uhr nachmittags am Ende unserer Straße sehen. Dann rollt die glutrote Sonnenscheibe genau zwischen zwei Häuserzeilen über den First des Hauses an der Querstraße in die Nacht. Meine Straße, die an einem Sommernachmittag um diese Zeit erst langsam in den Schatten rückt, leuchtet dann in einem warmen Orangeton, als wäre sie das Zentrum eines steinzeitlichen Steinkreises.
Die Wintersonnenwende ist ein starkes Symbol für religiöse Gleichnisse und Deutungen. Wir finden diesbezügliche Metaphern in so gut wie jeder Religion. Die Dunkelheit wird überwunden; das Licht überwindet den Niedergang und kündet somit von der Wiedergeburt der Natur; in der tiefsten Nacht wird uns der Heiland geboren; das Böse wird besiegt; unser Seelenfunken findet zurück ins Licht; und dergleichen Analogien mehr.
Doch was bedeuten uns diese Bilder wirklich? Abgesehen von der weihnachtlichen Tradition des Schenkens und der gemeinsamen Völlerei, sind den meisten Menschen heutzutage, wo wir uns die Nacht zum Tage machen, bereits die astronomischen Ereignisse ziemlich egal und oftmals unbekannt. Sie erleben weder Wiedergeburt, noch Erneuerung, noch das Lichterspiel der Wandelsterne. Sie sind so satt, dass sie nicht einmal das Bedürfnis nach heilender Wandlung für ihre Seele verspüren.
Die wenigsten Menschen in der westlichen Welt erleben überhaupt noch Dunkelheit. Es gibt kaum noch Orte, die nachts nicht unter Lichtverschmutzung leiden. Wie also soll sich da überhaupt ein Sinn für ein alles belebendes Licht entwickeln, wenn wir die Dunkelheit nicht mehr kennen? Wohl deswegen suchen wir Erleuchtung auch meistens am falschen Ort, beim falschen Guru, bei der falschen Religion. Und in der Tat ist jeder Ort, jeder Guru und jede Religion der falsche Bezugspunkt für Erleuchtung. Erleuchtung kann nur in Dunkelheit beginnen und nicht im diffusen Schein einer erhellten Nacht.
Doch wer will schon so weit in sich gehen, um in sich selbst die rabenschwarze Abgründe seiner Seele bis auf ihre Sohle auszuloten? Dazu macht sich nur selten jemand auf, denn die meisten Abgründe erscheinen uns kommod und so gar nicht dunkel. Allein das Laster der Selbstsucht gilt den wenigsten bei der Eigenschau als ein dunkler Charakterzug. Vielmehr werden die damit verbundenen Eigenschaften wie Durchsetzungskraft, Gewinnstreben, Vorteilsnahme und Selbstgerechtigkeit als positive Wesenszüge wahrgenommen. Da muss jemand schon tief stürzen, um überhaupt die Notwendigkeit zur Umkehr für sich gelten zu lassen.
Darum meine ich, dass wir zur Wintersonnenwende trotz aller natürlichen Freude, dass es von nun an zunehmend heller werden wird, die Dunkelheit nicht verdrängen, sondern sie bewusst suchen sollten. Und zwar meine ich die Dunkelheit in sich selbst suchen. Der erfahrene Kriminologe weiß, jeder Mensch kann zum Mörder werden. Nur die meisten Menschen – und erst recht die guten – wissen nicht, dass ein solch mörderisches Potential in ihnen schlummert. Allein diese Option theoretisch für sich einzugestehen, ist eine Näherung an die Dunkelheit und löst uns aus der Schar der Selbstgerechten.
Doch derlei Begegnung mit seinem destruktiven Potential ist im Grunde noch keine Begegnung mit der wahren Dunkelheit. Es wäre nur eine Begegnung mit einem Aspekt seiner verborgenen Natur und eine verfeinerte Selbsterkenntnis, die einen Menschen zu einer gereiften Persönlichkeit formt. Nein, die Dunkelheit, die ich meine, ist fernab von der Dichotomie von Gut und Böse. Schließlich ist deren Gegensatz ein moralisch relativer in einer Welt, in der ungeborene Kinder abgetrieben, Gefangene hingerichtet und jüngst selbst todkranke Kinder euthanasiert werden können; ja, eine Welt in der auch die Forderung nach sexuellem Umgang Erwachsener mit Kindern noch vor wenigen Jahren ein gerechtes Ziel der Grünen war.
Darum wenden wir uns ab von der Welt, wenden wir uns ab, von den anscheinend edlen Wahrheiten, die uns verblenden, und die morgen schon die größten Schandtaten sein können. Wenden wir uns ab von unseren Gewissheiten und Glaubenssätzen. Erkennen wir, dass nichts davon unverrückbar ist, dass wir uns damit nur Strukturen geschaffen haben, um die kurze Weile unseres Daseins in selbstgerechter Gefälligkeit zu überdauern.
Erlauben wir uns derlei Absage an alles Festgefügte, verlieren wir letztlich auch unsere letzte Wahrheit, mag sie ein Gott oder das vollkommene Wissen oder der totale Durchblick sein. Es bleibt sich gleich. Wenn für uns nichts eine letzte Gültigkeit besitzt, dann konnten wir unsere geistige Illumination schon kräftig reduzieren. Dann nähern wir uns der eigentlichen Dunkelheit, nämlich der Gottverlassenheit.
Gottverlassenheit bedeutet zugleich eine Mensch- und Naturverlassenheit. Wir sind vollkommen einsam. Es ist niemand und nichts da, mit dem wir in letzter Konsequenz unser Sein teilen können. Wir bleiben ganz allein in unserer Welt, die wir uns durch unsere Wahrnehmung erschaffen haben. Sehen wir das ein, können wir womöglich auch diese letzte Wahrheit, sprich unsere Schöpfung aufgeben und in die Dunkelheit des Nichtseins sinken. So wie die Sonne zur Wintersonnenwende in der tiefsten Nacht versinkt. Sie stemmt sich nicht dagegen, sie sinkt hinein und bleibt für uns viele Stunden einsam von Dunkelheit umhüllt. – Also versinken wir.
Es gibt nichts, was uns aus dieser Finsternis zu erlösen vermag. Es gibt nur diese Verlassenheit und unsere grenzenlose Einsamkeit. Wir sind jenseits des Horizonts, niemand sieht und hört uns. Und doch sind wir nicht gestorben. Wir sind da. Wir harren aus. Zerfließen mit der Dunkelheit. Unsere Nichtigkeit verwebt sich mit der ihren. Wir verlieren uns in ursprünglicher Unwissenheit. Wir wissen nur um die gehabten Illusionen. Jeder Gedanke an mögliche Erlösung erstirbt daraufhin, entpuppt sich nur als illusionäres Nachsinnen. Es bleibt uns nur, diese nächtene Leere, dieses Nichtsein als letztgültiges Sein anzunehmen.
Finden wir den Mut, diese vollkommene Einsamkeit bedingungslos zu leben, haben wir auch die tiefste Nacht in uns erreicht. Wir sind am Grund unserer Einsamkeit. Wir sind die Einsamkeit. Wir können und wollen ihr nicht mehr entrinnen.
Und doch ist da Dasein. Dasein im Nichts. Im unteilbaren Nichts. Dieses Dasein trotz Nichtsein zu erkennen wird zum Impuls, durch den sich vollkommene Einsamkeit zum vollkommenen Alleinsein – zum All-Einsein – wandelt. Das ist Bewegung! Aus dem umfassenden unteilbaren Nichts gerinnt Sein. Mit ihm erhält unser Dasein Grund. Das ist der Moment der Morgenröte. Die Sonne hat die Nacht überwunden und schöpft sich neu, indem sie über den Horizont steigt und sich vom glutroten Ball zur goldgleisenden Scheibe wandelt.
Die widerfahrene Einsamkeit aber bleibt uns erhalten. Sie bleibt der Grund unserer Demut und setzt uns zugleich in Verantwortung, den Prozess der Erkenntnis fortzuführen. Denn nur in fortwährender Kontemplation bewahren wir diese Schöpfung. Durch sie werden wir offen für Begegnungen, womit wir Schöpfung über uns hinaus zulassen; denn durch Begegnung tritt Leben in die Welt. Schließlich wäre die Sonne ohne Widerschein ein ebenso leeres Scheinen wie die Dunkelheit. – Teilhabe an Begegnungen ist für mich das schönste Geschenk, das mir gegeben wird und das ich selbst verschenken kann. Verschenken wir uns darum …
Eine gesegnete Weihnacht.
Für mich der schönste Absatz –
«Wenn für uns nichts eine letzte Gültigkeit besitzt, dann konnten wir unsere geistige Illumination schon kräftig reduzieren. Dann nähern wir uns der eigentlichen Dunkelheit, nämlich der Gottverlassenheit.
Gottverlassenheit bedeutet zugleich eine Mensch- und Naturverlassenheit. Wir sind vollkommen einsam. Es ist niemand und nichts da, mit dem wir in letzter Konsequenz unser Sein teilen können. Wir bleiben ganz allein in unserer Welt, die wir uns durch unsere Wahrnehmung erschaffen haben.»
Das trifft es exakt.
Herzlichst,
G.
… kann ich mir vorstellen; denn als ich es schrieb, dachte ich an Dich und dass Du mir darin zustimmen würdest. 😉
Servus M.M.
Deinen Text finde ich gut und wichtig.
Für mich ist die Wintersonnenwende etwas sehr wichtiges, diese Nacht und diesen Tag würde ich lieber feiern als Weihnachten und dem, was daraus geworden. Ich bin ohnehin längst keine Christin mehr. Einen weihnachtlichen Familienbesuch mache ich trotzdem – finde es aber auch gut, den Tag und die Nacht der Wintersonnenwende für mich selbst zu be-denken. Ich kenne die Dunkle Nacht der Seele, bin mir selbst schon ziemlich oft ziemlich tief auf den Grund gegangen, weiß aber auch, wie es ist, wenn das innere Licht wieder scheint.
Gruß von Frida
… überhaupt sehr sinnfällig für die Dunkle Nacht in dieser Zeit: die Wilde Jagd, die durch die Rauhnächte tobt. Da kehrt sich traditionell die eigene Dunkelheit nach außen. Auch eine Art mit seinen Schatten umzugehen.
Heiterherbes Yul M. M.