Das Wort „Wahl“ hat seine Wurzel im Verb „wollen“. Die Freiheit, etwas wählen zu können, ist vor der Wahl größer als danach. Denn die Möglichkeit der Auswahl hebt sich mit der Wahlentscheidung auf. Hatte ich zuvor noch beliebig viele Alternativen, so sind diese mit der Wahl allesamt verfallen. Zum Beispiel wird uns nach so manchen Kaufentscheidungen diese Beschränkung oft unangenehm deutlich. Denn dann beginnen wir, unsere Wahl noch einmal im Lichte des faktischen Ausschlusses aller Alternativen zu hinterfragen. Es ist quasi ein Prozess der Versöhnung mit unserer Wahlentscheidung, der dann stattfindet. Erst wenn diese Versöhnung ihren Abschluss im Guten fand, sind wir mit uns und unserer Wahl im Reinen. Andernfalls werden wir mir ihr dauerhaft hadern.
Nun wird uns seit geraumer Zeit von Neurologen erzählt, dass es mit dem menschlichen Willen nicht so weit her sei, da, ehe ein Mensch sich bewusst entschiede, bereits eine vorbewusste Instanz in seinem Gehirn, sich schon entschieden habe. Der Mensch folge also statt seinem Willen einem neurologischen Impuls; ergo sei auch sein Wille nicht frei. Der Physiologe Benjamin Libet (1916-2007) war der erste, der diesen als Bereitschaftspotential bezeichneten vorbewussten Impuls Anfang der 80er Jahre beschrieb. Zuletzt waren es Neurologen, die diese Feststellung mit bildgebenden Verfahren wieder in die Diskussion brachten. Allerdings hebt dieses Beobachtung weder den freien Willen noch die Wahl auf. Sie erklärt allenfalls etwas über das Zustandekommen unserer Gedanken.
Die Annahme, dass es mit dem freien Willen nicht so weit her ist, bedarf hingegen weniger eines neurologischen Befundes, als vielmehr der Reflexion unserer Entscheidungskriterien. Schließlich sind wir mit allen unseren Entscheidungen ebenso von kulturellen und sozialen Strukturen wie von ganz persönlichen Prägungen abhängig. Unsere Willensentscheidungen sind daher nur innerhalb dieses Rahmens frei. Sie können diesen Rahmen nur nach vorangegangener persönlicher Veränderung überwinden, wobei sie sich hiermit sofort durch einen veränderten Rahmen erneut bedingen. Schließlich ist es auch so, dass wir uns mit jeder Wahl eine neue Entwicklungsmöglichkeit schaffen, durch die wir unsere Veränderung fortschreiben und überdies neue Wahlmöglichkeiten eröffnen. Freier Wille und freie Wahl ähneln um ein Gleichnis zu geben, dem Treibholz im Fluß, das mal hier, mal da strandet, den Fluß gelegentlich auch staut, ihn jedoch niemals aufhält.
Pyrrhon von Elis (360 – 270 v.Chr.) war ein rigoroser Skeptiker, der vom Unsinn jeder Erkenntnis so überzeugt war, dass er als Konsequenz für sich jede Wahl ablehnte und sich jedem Urteil enthielt. Denn mit jeder Wahl oder jedem Urteil würde er die Welt in unzulässiger Weise determinieren und sich hierdurch der einzigen Erkenntnis, nämlich der Erkenntnislosigkeit entheben. Da er sich somit jeglicher Meinung zu jeder Person und jedem Ding und jedem Ereignis enthielt, da alles in jeder erdenklichen Weise gültig oder ungültig sein konnte, enthielt er sich auch jeglicher Reaktion auf seine Mit- und Umwelt. Kam ihm etwas in die Quere, wich er nicht aus, unterbrach etwas seinen Weg, setzte er ihn trotzdem fort. Dass er trotzdem gut 70 Jahre alt geworden ist und nicht den nächsten Abhang hinunterfiel, hatte er seinen Schülern zu verdanken, die ihn stets begleiteten und lenkten.
Pyrrhons Absicht- und Willenlosigkeit hatte also nur durch die Absicht und Willenskraft seiner Schüler Bestand. Dies ist zum einen ein schönes Beispiel für unsere begrenzte Willensfreiheit, denn der Willen seiner Schüler wurde Pyrrhon zum Willen, so wie unsere Mitwelt uns ihren Willen diktiert. Zum anderen ist sie auch ein früher Beleg für die Dekadenz spiritueller Absichtslosigkeit. Jedenfalls gibt es seit Menschengedenken genügend „Erwachte“ im spirituellen Irrgarten, die sich eine vollkommene Absichtslosigkeit in allen Lebenslagen zusprechen und das gleiche ihren Anhängern predigen. Auch sie können und konnten sich solche Absichtslosigkeit nur leisten, solange ihnen andere den Bären erlegten, der sie fressen wollte.
Letztlich bleibt es egal, ob wir unseren eigenen Willen verneinen oder bejahen, wir bewegen uns mit ihm stets im Gehege unserer erlernten und selbst gezimmerten Weltvorstellung. Bedeutsam ist einzig, wie wir es uns in ihm einrichten: sprich worauf unsere Wahl fällt.
An diesem Punkt endet meistens die Geschichte von Wahl und Wollen. Doch können wir versuchen, die Geschichte fortzuspinnen, um über den Tellerrand zu blicken und uns zu fragen: Gibt es einen verborgenen womöglich jenseitigen Impuls, der unser Wählen und Wollen unabhängig von Mit- und Umwelt beeinflusst, ja der es in originärer Weise lenkt? An sich eine vermessene Frage, denn gäbe es ihn, wäre wohl eine gleichermaßen jenseitige, also göttliche Institution für ihn verantwortlich, und damit wären wir bei der Gottesfrage, an der sich schon die mittelalterlichen Scholastiker vergeblich abmühten. Also übe ich mich in Bescheidenheit und frage nach einer natürlichen Intelligenz, die uns womöglich leitet. Jedenfalls mag man eine solche strukturierende Kraft in der Welt vermuten, wenn man sich das phantastische Zusammenspiel von erhaltender Ordnung und schöpferischem Chaos betrachtet, nach dessen Regeln im Makro- wie im Mikrokosmos die Welt funktioniert.
Jiddu Krishnamurti (1895-1986) sprach oft von dieser Intelligenz, die er als eine die Welt durchdringende Kraft und Ausfluss allumfassender Liebe verstand. Er meinte auch, dass der Mensch bei vollkommener Achtsamkeit für diese Intelligenz offen sei und daraufhin seine Handlungen unmittelbar, also keiner Kausalität mehr unterworfen seien. Eine Sicht, die ich aus eigener Anschauung teile. Denn bei ruhiger Innenschau beobachte ich immer wieder in mir, wie der Handlungsimpuls respektive der Gedanke der Achtsamkeit folgt. Achtsamkeit ist die stille Schau, die gedankenlose Wahrnehmung. Die Gedanken ruhen, es ist nur Schauen ‑ schauen ohne Beobachter. Es ist ein Moment der Einheit von Geschautem und Schauendem; ein Moment von Verbundenheit mit der alles durchwirkenden Intelligenz, ein zeitloser Hauch von Liebe. Dann, noch ehe sich ein Gedanke regt, regt sich die Schau und drängt, die Einheit lösend, den Schauenden zur Tat.
Dieses Geschehen unterscheidet sich jedoch von dem, was Libet gemessen und was Neurologen behaupten. Es liegt nämlich noch vor dem von Libet gemessenem Bereitschaftspotential, das einen Handlungsimpuls auslöst. Es aktiviert vielmehr die Bereitschaftskraft, damit es überhaupt zu einer Aktivierung des Bereitschaftspotentials kommt. In dieser Phase findet nämlich im Gehirn bereits eine erste Wahl statt. Sie entscheidet, ob das aktivierte Gehirn dem Drängen der achtsamen Schau oder seiner eigenen Konditionierung folgt. Es ist quasi eine karmische Wahl. Denn folgt das Gehirn seiner Konditionierung, setzt es fort, was in ihm angelegt ist. Lässt es sich hingegen vom schauenden Drängen leiten, kommt es zur freien, unkonditionierten und nonkausalen Handlung. Handeln wir so, handeln wir wahrhaft intelligent, denn dann handeln wir aus der stillen Schau vollkommener Achtsamkeit heraus. – Erst nach dieser Entscheidung setzt die Messung von Libet und Kollegen ein.
Dies ist kein extraordinäres Geschehen, keine Sensation am Ende eines multiplen Erwachens, sondern es ist die ganz alltägliche Wahl, die wir von Sekunde zu Sekunde 31.536.000 mal im Jahr durchführen. Im eigentlichen Sinn haben wir also die Wahl, ob wir dem Impuls unserer Achtsamkeit folgen oder unserer Konditionierung nachgeben. Die Entscheidung an sich wäre durch Achtsamkeit vorgegeben. Nur wird sie für gewöhnlich durch unsere Konditionierung aufgehoben. Von daher handeln wir nur selten wahrhaft intelligent, was mit eine Ursache für die Konflikte ist, die wir mit uns und der Welt austragen.
Verabschieden wir uns hingegen von dem Gedanken, wir hätten eine Wahl, üben wir gewissermaßen eine Präkonditionierung ein, die es uns erlaubt, in steter Regelmäßigkeit dem schauenden Drängen zu folgen. Eine solche Haltung wäre ein Kern geistiger Demut; schließlich unterwürfen wir uns dann einer Führung. Außerdem wäre es auch ein Zeichen von Intelligenz, wenn wir uns durch Schau und Achtsamkeit führen ließen. – Die Gedanken bleiben bei dieser Form der Kontemplation im Hintergrund, sie wären nur die Verweser des transzendentalen Impulses, den uns die Essenz unserer Betrachtung als ursprüngliches Wollen vermittelte. Gelänge es, dann wirkte auch die Achtsamkeit in uns als jene Instanz, die unser Wesen und unser Denken in seiner Gesamtheit erfassen und korrigieren würde, was in der Tat einem psychischen Umsturz gleichkäme. – Wir haben die Wahl …
Als ich vor einigen Jahren Bücher wie „Bestellung beim Universum“ oder „The Secret“ von Rhonda Byrne entdeckte, war ich begeistert und dachte, dass ich mir jetzt einfach ALLES bestellen kann, was mir gerade in den Sinn kommt, und dieses auch erfüllt wird. Ich probierte es gleich aus und bei vielen Dingen funktionierte es tatsächlich. Bei einigen mir sehr wichtigen Dingen funktionierte es aber nicht. Immer und immer wieder folgte ich den „Anweisungen“ des Buches, visualisierte, malte es mir aus und bestellte, was eine Menge Kraft und Energie erforderte, ich war ausgelaugt. Irgendwann war ich so frustriert, weil die Bestellung nicht zur Auslieferung kam, dass ich zu der Überzeugung kam, dass die „höhere Kraft“ einen Weg für jeden Menschen vorbestimmt hat. Ich denke, dass wir unterschiedliche Wege mit unterschiedlichen Herausforderungen für uns wählen können, jedoch am Ende immer beim gleichen Ziel ankommen, nämlich genau an dem Ziel, das die höhere Itelligenz für uns vorbestimmt hat. „Alle Wege führen nach Rom“… Diese meine persönliche Erkenntnis veranlasste mich dazu loszulassen und mich ganz und gar in die Hände dieser „höheren Führung“ zu geben. Ich vertraue der Führung und bin mir sicher, dass sie mir nichts Böses will, sondern mich auf meinem Weg mit den Augenblicken, Menschen, Erfahrungen, etc. konfrontiert, die ich für meine Entwicklung in diesem Leben benötige. Seitdem bin ich sehr gelassen und entspannt. Ich habe mir den „Druck“ genommen, partout etwas unbedingt erreichen zu wollen. Wenn es „von oben“ nicht gewollt ist, es vielleicht der falsche Zeitpunkt ist, dann werde ich mich auf den Kopf stellen können und werde es trotzdem nicht bekommen. Seit dieser Erkenntnis horche ich stattdessen in mich hinein, um den für mich richtigen Weg zum vorbestimmten Ziel zu wählen, aber ich versuche nicht mehr, es mit allen Mitteln erzwingen zu wollen. Seitdem verspüre ich eine gewisse Harmonie in mir und eine Liebe, die mich umgibt…
Danke, für Deine Gedanken, liebe Anni. Es ist ja auch viel spannender, wenn uns das Leben überrascht, indem es uns leitet, als dass wir wie die Esel der Mohrrübe folgen, die andere vor unserer Nase baumeln lassen.
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