Am Barbaratag sah ich bei einem Besuch auf der Frauenwörth, noch ein Beet Lauch in einem Garten stehen. Bis spät in den November hinein wurden allerorten die letzten Ernten eingebracht: Nüsse, Kohl, Kürbis, Schwarzwurzeln und so manches harrt – wie gesehen – immer noch darauf. Später noch, nach dem ersten Frost, kommen Grünkohl, Hagebutten und Schlehen in den Korb. Noch viel später im Januar wird der Eiswein gelesen. Derlei Einbringen ist ein langsames Enden; obwohl man bei genauer Betrachtung neben dem Rückzug des Lebens auch Fortbestand und Blüte entdecken kann. So weicht das Grün nicht überall. Die Wiesen und die niedere Frucht des Winterweizens widerstehen dem Frost, und Winterblüher wie Erika, Christrose oder Winterjasmin öffnen ihre Blüten. Mag sich darüber auch die Schneedecke wie ein weißes Leichentuch legen und vom allgemeinen Stillstand künden, unter ihm pulsiert weiterhin die gewaltige Kraft des Lebens. Es atmet nur aus, verharrt kraftschöpfend für eine kurze Weile, um schließlich im Frühjahr rauschend zu erwachen. Somit bleibt der winterliche Niedergang, der Tod, nur ein Wandler. Das Leben endet, um wiederbelebt neues Leben zu stiften. Es weicht, um sich selbst bebrütend neu zu gebären. Durch den Tod geht das Leben mit sich schwanger.
Jetzt wird der trennende Grat zwischen Tod und Leben unübersehbar. Gleichzeitig zeigt er sich nicht nur als Grenzlinie, sondern als Übergang – was ebenso zur Eigenschaft der Grenze zählt: eine Linie der Wandlung zu sein, die notwendiger Weise das eine ausschließt, um das andere zu ermöglichen. Die Grenze selbst schafft diese Möglichkeit und nicht die eine oder andere Sphäre. Zur Aufgabe eines Grenzgängers wird, auf der Grenze das eine zu lassen, um sich für das andere zu öffnen. Es resultiert auf Zulassen, einem Geschehen, das uns wandelt – es ist nicht das Ergebnis unseres Tuns. Unser Hinzutun ist einzig unsere Bereitschaft, von dem ablassen zu wollen, was uns im alten belässt. Vermögen wir das nicht, wird uns letztlich der Tod als Schnitter ereilen und uns von allem trennen, an das wir uns klammern. Ein solcher Grenzübertritt ist schmerzhaft und verdunkelt unser Gemüt; schließlich erleben wir ihn nicht als Befreiung, sondern als gewaltsame Trennung. Dies gilt im kleinen wie im großen, im Alltag wie am Sterbebett.
Zurückführung, das ist die wörtliche Bedeutung von Reduktion. Nur wohin zurück können wir uns selbst führen? Erst wenn wir das wissen, können wir auch wissen, was wir lassen sollen. Stellen wir uns jedoch ernsthaft die Frage, wohin wir uns zurückführen wollen, sollten wir uns mit noch größerem Ernst die Frage stellen, wo wir jetzt stehen und von welchem Niveau aus wir zurücktreten werden. Stehen wir im Leben, wie allenthalben die Natur, die nach Blüte und Frucht das Sterben zulässt? Oder sind wir nicht vielmehr dem Leben ausgewichen und agieren wie Untote, getrieben von unserer Gier nach immer mehr, was wir für Leben halten? Ein Revenant, ein Wiedergänger, muss zwangsläufig nach dem Leben gieren, das er nicht mehr besitzt. Denn hält er damit ein, wird er zu dem, was er in Wahrheit ist: ein Toter!
Sind wir also mehr tot als lebendig, sprich einem Revenanten ähnlich, würde Reduktion bedeuten, das Tote, das uns überwiegend ausmacht, zu lassen. Wichtig dabei ist, dass wir dabei nicht den Fehler begehen, uns einzureden, dass wir uns wiederbeleben, wieder ins Leben, ins Ursprüngliche fallen wollen. Denn dann verfestigten wir nur unseren Stand als Revenanten; schließlich besteht genau darin das zwanghafte Gehabe der Untoten. Also bleiben wir stattdessen dort, wo wir sind und erkennen und bejahen unsere Lebensferne. Wir sind nicht lebendig, sondern wir funktionieren. Wir sind nicht frei, sondern folgen Zwängen. Wir fürchten die Lebendigkeit, denn sie könnte unseren „Wohlstand“ gefährden. Sagen wir mit solcher Radikalität ja zu unserer partiellen Leblosigkeit, beginnen wir mit der Reduktion.
Wir gehen zurück, indem wir nicht auf ein Zurück zugehen, sondern indem wir erkennen, was wir uns zuviel aufgeladen haben. Anstatt in der Sonne zu sitzen und uns des Lebens zu erfreuen, müssen wir die Sonne konsumieren! Und wenn wir sie nicht konsumieren, müssen wir sie uns erarbeiten. Und wenn wir sie uns nicht erarbeiten, müssen wir sie für uns meditieren. Dabei scheint sie die ganze Zeit, egal welchen Unfug wir derweil mit uns anstellen. Zurückkehren heißt, diese unsere Entfremdung zu erkennen. Zurückkehren heißt, der Entfremdung fremd zu werden. Wohin uns diese Befremdung führen wird, werden wir nicht wissen, denn sie führt uns nicht ins Bekannte – schließlich ist uns nur die aufgegebene Entfremdung bekannt -, sondern sie führt uns ins Unbekannte, ins Nonkonforme wie Unbeschwerte, also dorthin wo wir frei weil unbelastet sind. Ja, so frei sind, dass wir jeden Tag so neu beginnen können, als gebe es keinen Tag davor und keinen danach. – Es ist die Freiheit der Grenzgänger.
Der Lauch auf der Frauenwörth ist inzwischen mit Schnee bedeckt. Nur nach und nach, wenn es die Küche erfordert, wird er geschnitten. Erst im Frühjahr, wenn neuer Lauch heranwächst, wird das Beet abgeerntet sein.